Zwischen Lebenslügen und Doppelmoral

Einige Anmerkungen zum deutsch-israelischen Verhältnis anlässlich des 50jährigen Jubiläums der Aufnahme diplomatischer Beziehungen

Wenn ein renommierter jüdischer Historiker wie Yakov Rabkin – ein Spezialist für die Geschichte des Judentums – schreibt, dass sich Deutschlands „permanenter Kniefall vor dem Staat Israel aus dem Mythos speist, Israel repräsentiere die Juden in aller Welt und sei ihre natürliche Heimat“, dann muss das zu denken geben. Rabkin fährt fort: „Die Hilfe, die der deutsche Staat heute den Opfern des Holocaust leistet, verbessert deren Lebensumstände; Deutschlands Blankounterstützung  für den Staat Israel hingegen unterminiert nicht nur die Zukunft der Einwohner Israels, sondern ignoriert auch die Lehren, die viele Deutsche aus dem Holocaust gezogen haben.“

Rabkin, weit hier auf den Kern des deutsch-israelischen Verhältnisses hin, das mit der Aufnehme diplomatischer Beziehungen vor 50 Jahren nun groß gefeiert wird. Es war wichtig und richtig, dass Deutschland (genau gesagt die Bundesrepublik Deutschland) nach dem monströsen Verbrechen des Holocaust durch die Nazis versuchen musste, sein Verhältnis zu den Juden wieder zu bereinigen (soweit das nach dem Geschehenen überhaupt möglich war) und dass dabei auch Entschädigungen gezahlt werden mussten. Andererseits haben die deutsche Politik und die meisten Deutschen aus ihren Schuldgefühlen heraus den Staat Israel in seiner politischen Realität bis heute nicht angemessen wahrgenommen. Denn es bleibt die Frage, wie weit Israel die Juden und das Judentum repräsentiert, es ließen sich hier sehr viele jüdische Stimmen anführen, die Israel genau diesen Anspruch bestreiten.

Zum anderen haftet diesem Staat von seinem Anfang an der Makel eines großen Unrechts an, weil seine Gründung nur mit der Vertreibung eines anderen Volkes (der Palästinenser)  und der Zerstörung seiner Gesellschaft und Kultur möglich war. Oder anders gesagt: Die Entstehung des Staates Israel war kein „Wunder“, wie oft behauptet worden ist, sondern beruhte darauf, dass Juden einem anderen Volk dasselbe Schicksal bereiteten, unter dem sie selbst so lange gelitten hatten. Und dieser von exzessiver Gewalt begleitete Prozess dauert bis heute an, und Israel forciert ihn durch seine Besatzungs-, Landraub- und Siedlungspolitik nach Kräften.

Dass Israel sich zum alleinigen Vermächtnisverwalter des Holocaust erklärte, musste verwundern, denn die vorstaatliche jüdische Gemeinschaft in Palästina (der Jischuw) hatte am Schicksal der Bedrängten und Verfolgten in Europa wenig Anteil genommen. Der israelische Historiker Tom Segev hat diese Interesselosigkeit und Untätigkeit in seinem Buch „Die siebte Million“ ausführlich beschrieben. Auch sein jüdischer Kollege Saul Friedländer warf den Zionisten in Palästina völliges Versagen bei der Rettung europäischer Juden vor, weil für sie die Gründung und der Aufbau des Staates absoluten Vorrang genossen hätten. Dazu kam, dass die Zionisten für die Überlebenden des Holocaust eher Verachtung übrig hatten, weil sie als typische Vertreter des schwachen, feigen und opportunistischen Diaspora-Judentums galten, die sich von den Nazis „wie Lämmer hätten zur Schlachtbank“ führen lassen. Im jungen Staat Israel hing man dem Ideal des „neuen Juden“ an, eines starken, selbstbewussten und wehrhaften Menschentyps.

Auch in Israel selbst gibt es Kritik daran, dass Israel sich zum „Alleinerben“ des Holocaust erklärt hat. So schreibt der frühere Präsident der mächtigen Jewish Agency und Sprecher des israelischen Parlaments (der Knesset), Abraham Burg, „Die zionistische Reaktion erfolgte umgehend. Israel erklärte sich zum Erben der Opfer, zu ihrem alleinigen offiziellen Vertreter in der Welt und ernennte sich zum Sprecher der ermordeten Millionen. Wir bürgerten sechs Millionen Tote ein. Das junge Israel, das als gesunde Alternative zur krankenden Diaspora gedacht war, hielt den Holocaust-Opfern posthum vor: ‚Wir haben es Euch gesagt‘ und transplantierte ihre abgetrennten Organe in seinen jungen Körper. Von einer neuen Alternative zur Diaspora in Osteuropa verwandelte sich das junge bahnbrechende Israel in ein Land mit der Mentalität einer alten jüdischen, für immer verfolgten Kleinstadt im Nahen Osten. Israel trauerte nicht nur, sondern verwandelte sich von einem zukunftsorientierten Staat in eine Gesellschaft, die eng mit ihrer blutigen, traumatischen Vergangenheit verknüpft war.“

Deutschland akzeptierte ohne Einschränkung die israelische Version des Holocaust, die alle anderen Opfer ausblendete und den Genozid zu einer ausschließlich und „einzigartigen“ jüdischen Angelegenheit macht, wie der israelische Historiker Shlomo Sand schreibt: „Vom letzten Viertel des 20. Jahrhunderts an verschwinden beinahe alle Opfer, die von den Nazis nicht als ‚Semiten bezeichnet wurden. Der industrielle Mord wurde zur ausschließlich jüdischen Tragödie. Die westliche Erinnerung an die Konzentrations- und Vernichtungslager entledigte sich fast gänzlich aller anderen Opfer, darunter geistige Behinderte, Sinti und Roma, Angehörige des kommunistischen und sozialistischen Untergrunds, Zeugen Jehovas, polnische Intellektuelle sowie sowjetische Kommissare und Offiziere. Bis auf die Homosexuellen vielleicht wurde all jene, die die Nazis parallel zur systematischen Ermordung der Juden austilgten, durch die hegemonialen Erinnerungsnetzwerke ein weiteres Mal ausgelöscht. Wie konnte es dazu kommen, und wie prägt diese neue Erinnerungskonstruktion die heutige jüdische Identität?“

Für Deutschland bedeutet das, „ewige Schuld“ auf sich zu nehmen, wie es der israelische Ministerpräsident Levi Eshkol 1965 (dem Datum der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen!) formulierte: die deutschen Verbrechen an den Juden seien nicht sühnbar und erlegten Deutschland eine ständige moralische Verpflichtung auf, die vor allem darin bestehe, jeden möglichen Beitrag zur Stärkung Israels zu leisten, nicht zuletzt Israel bei der für seine Verteidigung nötigen Ausrüstung zu helfen. Diesen Anspruch hat die Bundesrepublik bis heute getreulich und widerspruchslos erfüllt. Eshkols Worte wurden sozusagen der Leitsatz der deutsch-israelischen Beziehungen.

Deutschland hat also beides akzeptiert: die Tatsache, dass Israel kein „normaler“ Staat war und ist, sondern ein kolonialistischer Siedlerstaat, der „danach strebt, die einheimische Bevölkerung durch eine eingewanderte Siedlerbevölkerung vollständig zu ersetzen. Die Grenzen werden stets weiter nach vorn verschoben und die einheimische Bevölkerung auf stets kleiner werdenden Flächen zusammengedrängt, um ihr Land und ihre Ressourcen für die Siedlerbevölkerung freizumachen. Charakteristisch für siedlerkolonialistische Gebilde sind neben territorialer Expansion ein ausgeprägter Rassismus in der Siedlerbevölkerung und die Behauptung, das Land sei menschenleer gewesen, als die Siedler kamen.“ (Petra Wild) Das zionistische Projekt war als von Anfang mit Gewalt verbunden – die deutsche Politik hat es nicht interessiert, sie wollte es wohl nicht wissen oder hat es ganz bewusst nicht zur Kenntnis genommen. Und Deutschland hat auch widerspruchslos akzeptiert, dass Israel Beanspruchte, der Vermächtnisverwalter des Holocaust zu sein und hat es entsprechend bevorzugt behandelt. Wie das zusammenpasst – Vermächtnisverwalter der Holocaust und aggressiver und gewaltsamer Siedlerstaat – die Frage ist nie gestellt worden.

Aber die Folgen einer solchen deutschen Politik waren in vieler Hinsicht mehr als bedenklich. Bei den Deutschen lebte nach dem Zusammenbruch des Hitlerstaates 1945 der Antisemitismus fort. Es gab keinen Aufschrei des Entsetzens, als durch Zeitungen, Radio und Wochenschauen bekannt wurde, was sich an Grauenvollem in den Konzentrations- und Vernichtungslagern ereignet hatte. Die Menschen schwiegen, die große Sprachlosigkeit verhüllte, was geschehen war. Man wollte von nichts gewusst haben. Schon damals wurde gefordert, einen „Schlussstrich“ zu ziehen.

Langsam verschob sich aber das antijüdische Stereotyp: Aus dem Vorurteil, dass die Juden eine große Finanz- und Wirtschaftsmacht seien, zog man nun den Schluss, dass sie beim Wiederaufbau helfen könnten. Juden und alles Jüdische wurden von der Mehrheit und von offizieller Seite zunehmend positiv bewertet, was nicht ins Bild passte, wurde verdrängt. „Der angelernte Antisemitismus ließ sich durch dessen Tabuisierung zum angelernten Philosemitismus ummünzen“, schrieb Günter Grass in seiner Poetik-Vorlesung Schreiben nach Auschwitz über diese Zeit. Der Philosemitismus wurde Konsens unter den Vertretern von Politik, Medien und Kirchen, was aber gar nichts darüber aussagte, ob dieser Wende auch ein Realitätsgehalt zukam und innerlich vollzogen war – es handelte sich dabei weniger um Juden als vielmehr um ein opportunistisches politisches Bekenntnis. Frank Stern beschreibt die Wende so: „Das antijüdische Stereotyp kippte in der Öffentlichkeit sozusagen um in ein pro-jüdisches. Es entsteht das philosemitische Syndrom, ohne dass deswegen der Antisemitismus verschwindet.“

Der Philosemitismus hatte vor allem die Funktion, den demokratischen Charakter der zweiten deutschen Republik in ihrer Anfangsphase zu legitimieren, denn das Misstrauen der westlichen Staaten war noch groß. Wie fragwürdig dieser Philosemitismus damals schon war, hat die deutsch-jüdische Politologin Eleonore Sterling 1965 – also sechzehn Jahre nach Gründung der Bundesrepublik in einem Artikel für die ZEIT beschrieben: „Der Philosemitismus ist heute fast nur noch die Hülle dessen, was damals gefordert wurde. Er ist nicht der Ausdruck einer freien Atmosphäre, sondern deren Ersatz. Er bedeutet die Ausnutzung eines Symbols, das stellvertretend als vollendet bezeugen soll, was tatsächlich erst in Ansätzen vorhanden ist: eine wirkliche Demokratie und eine positive Haltung gegenüber der jüdischen Minderheit. Der Philosemitismus – ähnlich wie auch der Antikommunismus – gehört zum Bekenntnischarakter der noch nicht verwirklichten deutschen Demokratie.“

Viele plapperten also philosemitische Parolen nach, ohne aber im Innern ihren Antisemitismus abgelegt zu haben. Der Philosemitismus war also keine neue bereinigte Einstellung zu Juden, er hatte lediglich eine kathartische Aufgabe, indem er das schlechte Gewissen erleichterte, Distanz schuf und dabei half, sich in die neuen Verhältnisse zu integrieren: „Indem man nun nicht mehr Antisemit war, gehörte man zum neuen, anderen Deutschland, von dem ja zunehmend die Rede war. Indem man sich ostentativ dem ehemaligen Opfer zugesellte, hoffte man, dessen jetzige Vorteile mit genießen zu können. Indem man betonte, Juden seien auch Menschen, meinte man, selbst zum Humanisten zu werden. Indem man sich in das religiöse Büßergewand hüllte, glaubte man, die braune Weste weiß gewaschen zu haben. Wenn man nicht so recht wusste, wie man sich opportun den politischen Erfordernissen folgend als Anti-Nazi darstellen sollte, konnte man ja zumindest Philosemit sein. (...) Hätte die US-Militärverwaltung nicht jene Vielzahl von Untersuchungen durchgeführt, so hätten wir sicherlich sehr viel weniger beweiskräftiges Material über solche Entwicklungen zur Hand.“

Der Philosemitismus setzte sich in der jungen Bundesrepublik immer mehr durch und bestimmte auch später – bis zur Kanzlerin Angela Merkel – die offizielle Politik, besonders natürlich im Verhältnis zu Israel. Er wurde sozusagen Staatsräson. Israel musste unbedingt unterstützt werden. Mit Blick auf die 50er Jahre merkte der deutsch-jüdische Historiker Frank Stern an: „Die philosemitische Meinung war – so wenig präzise sie auch sein mochte – legitimitätsstiftend, und dabei blieb sie hochgradig ambivalent. Man kommt nicht umhin, ständig ihre Tiefenschichtung und Zielrichtung zu hinterfragen, ja den wohl zwangsläufig irrationalen Charakter philosemitischer Inhalte und Aussagen festzustellen. Mit dem verklärten und verklärenden Bild, dem romantisierenden Porträt der ‚ehemaligen jüdischen Mitbürger‘ passte man sich so ganz den biedermeierlichen Schematisierungen im offiziellen Geschichtsbewusstsein der Adenauer-Ära an. Das historische Bewusstsein wurde philosemitisch verkleistert und das Phänomen des Philosemitismus gesellschaftlich in nicht geringem Maße eine deutsche Selbst-Therapie: Der Versuch, sich etwas zu befreien von der furchtbaren Vergangenheit – eine deutsche Kur gegen einen deutschen Schmerz.“

Wie wenig sich die offizielle Haltung seitdem verändert hat, wie immobil und starr sie sich allen angemessenen Forderungen nach Veränderung und Einsicht in die Realitäten widersetzt, belegen Sätze, die der Soziologe Walter Hollstein schon Anfang der 70er Jahre niedergeschrieben hat, die aber nach wie vor gültig sind: „Die schreckliche Tat der Vergangenheit [der Holocaust] hat in der Gegenwart ein schlechtes Gewissen geschaffen, und das schlechte Gewissen hat – nicht nur in Deutschland – den Antisemitismus von einst in den Philosemitismus von heute umschlagen lassen. Man glaubt, das Verbrechen von weiland dadurch sühnen zu können, dass man die Juden heuer hoch lobt und hochleben lässt. Diese Haltung hat sich kollektiv auf den Staat Israel übertragen, dem in der deutschsprachigen Öffentlichkeit immer wieder seine demokratische Qualität und sein Vorbild-Charakter attestiert werden. Von allem und jedem, das ein negatives Bild auf Struktur und Politik Israels werfen könnte, wird dabei bewusst abstrahiert.“

Und weiter schrieb Hollstein: „So kommen in den meisten Darstellungen der Entstehung und Entwicklung  Israels die Araber gar nicht erst ins Bild. Es geht vielen (...) Autoren quasi wie den ersten Zionisten: Sie vergessen oder ignorieren ganz einfach die Existenz der Palästinenser. In solcher Optik heißt es dann etwa: ‚Israel versteht seine Rückkehr in das Land der Väter als die Erfüllung der alten, den Vätern gegebenen Verheißung.‘ Was an politischer Problematik, an Unrecht und Elend mit dieser ‚Rückkehr‘ verbunden war und noch immer ist, wird keines Gedankens gewürdigt. Derlei massive Verdrängung kann wohl nur tiefenpsychologisch mit dem Wunsch des Schuldbeladenen nach Exkulpierung erklärt werden.“

Und Hollstein folgert: Moral aber ist unteilbar. Wenn sie das nicht mehr ist, degeneriert sie zur Schein- oder Doppelmoral. Denn wenn die Verantwortung, die notwendigerweise aus den deutschen Verbrechen folgt, sich nur auf Juden und Israel bezieht, also nicht universalistisch auch auf alle Menschen der Welt, wird sie fragwürdig: „Moral verwandelt sich in Scheinmoral, wenn Praktiken der Gewaltanwendung, Vertreibung und Folter den Israelis zugestanden werden, um sich dergestalt von der eigenen schrecklichen Schuld der Vergangenheit Erlösung erkaufen zu können.“

Doppelmoral kennzeichnet denn auch das deutsche Verhältnis zu Israel von Anfang an bis heute. So äußerte Franz Josef Strauß nach dem Juni-Krieg von 1967, in dem Israel weitere arabisch und palästinensische Gebiete erobert hatte, dass die deutsche Lieferung von Waffen an Israel „nicht nur eine Pflicht der Wiedergutmachung ist, sondern dass eine Unterstützung Israels gerade auf dem Gebiet, wo es um Blut geht, moralisch und politisch von besonderer Tragweite sein muss. Weil Millionen Juden durch deutsche Waffen umgebracht worden sind, ist das ein Stück Wiedergutmachung auf dem ureigentlichen Gebiet, auf dem im deutschen Namen besonders gesündigt worden ist.“ Wiedergutmachung für den Holocaust durch die Lieferung von deutschem Tötungsgerät – das war die Moral der damals in Bonn Regierenden!

Die umfangreichen Waffenlieferungen und die enge militärische Zusammenarbeit blieben eine Konstante in den deutsch-israelischen Beziehungen, sie wurden schon 1952 – natürlich streng geheim! – aufgenommen, die diplomatischen Beziehungen erst 1965. Die bedingungslose Unterstützung Israels wurde von allen deutschen Regierungen fortgeführt. Kanzler Helmut Kohl rechtfertigte die auch in Deutschland höchst umstrittene Lieferung (bzw. Schenkung) von atomar aufrüstbaren U-Booten mit dem einen Satz: Was Israel fordert, bekommt es!“

Ein Musterbeispiel an Nicht-Wahrnehmung der Realitäten und an Doppelmoral lieferte Kanzlerin Angela Merkel in ihrer Rede am 18. März 2008 im israelischen Parlament ab. Im Mittelpunkt ihrer Ausführungen standen unter Rückgriff auf den Holocaust die moralische Legitimierung der gegenseitig engen Beziehungen und die ebenfalls sehr enge militärische Kooperation. Merkel bescheinigte diesem Staat, der das Territorium der Palästinenser seit fast 50 Jahren besetzt hält und dort ein brutales und völkerrechtswidriges Besatzungsregime betreibt, das in vielen Resolutionen von der UNO verurteilt worden ist, „für Frieden und Sicherheit“ einzustehen. Außerdem lobte sie Israel für die erfolgreiche Integration von Zuwanderern in sein Gemeinwesen – wohl wissend, dass Palästinensern die Zuwanderung bzw. Rückkehr in ihre Heimat verwehrt ist, ja, dass auch ihre Bewegungsfreiheit innerhalb der palästinensischen Gebiete und nach Israel äußerst beschränkt ist.

Die Kanzlerin pries die „einzigartigen Beziehungen“ zwischen Deutschland und Israel, die ihren „Ursprung in den [Werten] haben, die wir gemeinsam teilen, die Werte von Freiheit und Demokratie und Menschenwürde.“ Auf die Palästinenser in den besetzten Gebieten, die keinerlei Menschen- oder politische Rechte besitzen, musste diese Rede wie blanker Hohn wirken. Selbst in Israel gab es Kritik. Der renommierte Historiker Tom Segev bescheinigte Merkel für ihre Rede „Realitätsverlust“. Der israelische Politiker Yossi Beilin kommentierte: „So eine Freundschaft brauchen wir nicht.“

Die Leidtragenden dieser Politik sind die Palästinenser – die „Opfer des zweiten Grades“ oder die „Opfer der Opfer“. Sie beklagen sich zu Recht, dass sie durch die Gründung Israels den Preis für den Holocaust bezahlen mussten, er bestand in der Vertreibung ihres Volkes aus seiner Heimat und der Zerstörung ihrer Gesellschaft und Kultur. Edward Said, einer der besten Kenner der Problematik des Nahen Ostens übte heftige Kritik an der deutschen Position: „Deutschland spielt eine besondere Rolle. Eine ganze Nation von Palästinensern wurde im Laufe der letzten Jahrhunderthälfte verdrängt und enteignet, vor allem auf Grund des europäischen Antisemitismus. Was den Juden Europas (besonders durch Deutsche) widerfuhr, war eine Katastrophe, für die das palästinensische Volk – das an der Katastrophe keinen Anteil hatte – mit der Zerstörung ihrer Gesellschaft im Jahre 1948 und ab 1967 mit der militärischen Okkupation des ihm verbliebenen Landes bezahlen musste. Die offizielle deutsche Haltung zu Problemen des Nahen Ostens hält sich eng an die vorgegebenen Leitlinien amerikanischer Politik, die sich auch in der Europäischen Union durchgesetzt haben – auch wenn die Amerikaner in ihrer politischen und wirtschaftlichen Unterstützung Israels sehr viel weiter gehen als die Europäer.“

Weiter schreibt Said: „Gewiss, es war richtig, dass das deutsche Volk Reparationen zahlte, aber warum glaubt man in Deutschland, der vollkommen gerechtfertigte Kampf um die palästinensische Selbstbestimmung ließe sich entweder ignorieren oder nur mit bloßen Erklärungen hier und da unterstützen? Die Deutschen sind aufgefordert, die notwendige Verbindung zwischen ihrer Geschichte und unserer zu ziehen (und die nicht zu leugnen) und dann den notwendigen Schluss zu ziehen, Deutschland hat noch eine Verantwortung, der es sich nicht länger entziehen kann.“ Said schrieb diese Zeilen schon im Jahr 2002, an Deutschlands Position gegenüber Israel hat sich seitdem nichts geändert. Ganz im Gegenteil: Wer heute die hier zitierten Zeilen öffentlich äußert, muss damit rechnen, als „Antisemit“ diffamiert zu werden.

Die deutsche Politik gegenüber Israel ist vom Philosemitismus diktiert. Aber über die Zusammenhänge von Antisemitismus und Philosemitismus öffentlich nachzudenken, gilt in der philosemitisch geprägten deutschen Atmosphäre schon selbst wieder als „antisemitisch“. Aber einige mutige Juden haben diese Scheu nicht und sprechen aus, was sie denken.

Schon Sigmund Freud hatte den Philosemitismus „heuchlerisch“ genannt, weil er alte Vorurteile gegen die Juden hinter großsprecherischen Gesten für sie verberge. Die Ursache für den deutschen Philosemitismus sind – psychologisch gesehen – nicht aufgearbeitete Schuld und nicht geleistete Trauerarbeit, ein Sachverhalt, auf den Alexander und Margarete Mitscherlich schon in ihrem berühmten Buch Die Unfähigkeit zu trauern (zuerst erschienen im Jahr 1967) hingewiesen hatten. Trauer ist ein seelischer Vorgang, schrieben sie, „in dem ein Individuum einen Verlust mit Hilfe eines wiederholten, schmerzlichen Erinnerungsprozesses langsam zu ertragen und durchzuarbeiten lernt, um danach zu einer Wiederaufnahme lebendiger Beziehungen zu den Menschen und Dingen seiner Umgebung fähig zu werden.“ Trauern kann man aber nur um eine Person, ein Objekt oder ein Ideal, das man geliebt hat. Im Fall der Deutschen waren das der „Führer“ Adolf Hitler und seine „Ideale“, in deren Namen unvorstellbare Grausamkeiten begangen worden sind. Hitlers Tod, seine Niederlage und seine völlige Entwertung durch die alliierten Sieger bedeuteten den Verlust eines narzisstischen Selbst-Objekts, d.h. eine Verarmung und Entwertung des eigenen Selbst.

Die Mitscherlichs schrieben: „Um nach dem Untergang des Hitlerreiches die Angst, die Schuld und die Scham zu vermeiden, wurden seelische Abwehrvorgänge von der Art der Verdrängung, der Verleugnung, der Projektion wie z.B. nicht die anderen, sondern wir waren die unschuldigen Opfer etc. eingesetzt. Wenn überhaupt Erinnerung sein musste, geschah das meist als Aufrechnung der eigenen Schuld gegen die Schuld der anderen. Die bedauernswerten Opfer waren dann im Grunde wir selber.“

Die große Mehrheit der Deutschen trauerte nicht, sondern wehrte mit aller Kraft das Erlebnis einer melancholischen oder depressiven Verarmung und den seelischen Zusammenbruch ab, d.h. sie verdrängte möglichst alles, was mit der eigenen Anteilnahme an den Geschehnissen des „Dritten Reiches“ zu tun hatte. Als Folge konstatierten die Mitscherlichs einen lähmenden psychologischen Immobilismus in der westdeutschen Gesellschaft.  Die Trauerarbeit kann also nur gelingen, wenn das Objekt, um das getrauert wird (im deutschen Fall Hitler und das, was er für die Deutschen verkörperte) als Bestandteil der eigenen (historischen) Identität anerkannt wird.

Damit hängt natürlich eng die Frage der Aufarbeitung der Schuld zusammen, die die Deutschen gegenüber den meisten Völkern in Europa nach dem von ihnen begonnenen Krieg auf sich geladen hatten – speziell natürlich auch gegenüber den Juden. Wird Schuld nicht bewusst aufgearbeitet, dann kann man mit ihr nicht rational und kontrolliert umgehen. Was aber – darauf hat Ernst Tugendhat hingewiesen – zur Folge hat, dass man sich seinem Gegenüber so verhält, dass man alles tut, was er glaubt, was man zu tun hätte. Man gibt also die Autonomie des eigenen Urteilens preis, und das Gegenüber hat so die Chance, die Schuld zu manipulieren. Tugendhat schreibt: „Es gibt Menschen und auch Staaten, die auf dem irrationalen Schuldgefühl eines anderen virtuos wie auf einem Klavier spielen können. So tun es auch die Israelis mit den Deutschen.“ Man kann dieser Schuld nur entgehen, wenn diese Schuld rational aufgearbeitet wird. Dann besteht nicht mehr die Notwendigkeit, sich den – u.U. auch irrationalen Wünschen des anderen – zu unterwerfen. Der Handelnde behält dann sein autonomes Urteilvermögen. Die Frage lautet dann: Wie kann ich dem anderen helfen? Wo liegen seine Interessen?

Wie sehr die deutsche Politik sich von den Israelis manipulieren lässt, belegt eine Schilderung des Journalisten Werner Sonne. Als in Berlin die Lieferung von weiteren atomar ausrüstbaren U-Booten zur Diskussion stand, warnte der General Klaus Naumann vor dieser „Schenkung“ aus Steuergeldern an Israel, weil die Israelis damit eine atomare Zweitschlagskapazität bekommen würden. Naumann erinnerte sich später, dass Bundeskanzler Helmut Kohl diese Bedenken nicht gelten ließ: „Kohl wischte das beiseite.“ Der Bundeskanzler begründete seine Entscheidung so: „Wenn die Israelis das fordern, dann werden wir das machen.“ Die israelische Delegation sei bei den Verhandlungen über die U-Boote ziemlich „unverschämt“ aufgetreten, erinnerte sich Naumann später, aber die Israelis bekamen, was sie wollten.

Dieses „Einknicken“ der Deutschen vor den Israelis, führt Ernst Tugendhat auf die irrationale Verarbeitung der deutschen Schuld am Holocaust zurück. Für das „Einknicken“ gegenüber Juden (ganz allgemein) führt Tugendhat noch einen anderen Grund an, nennt ihn aber vorsichtig eine Hypothese. Könnte es nicht sein, so fragt er, dass fortdauerndes irrationales Schuldbewusstsein und fortdauernder unterschwelliger Antisemitismus sich wechselseitig am Leben erhalten? Das schließe aber die These ein, dass ein verbreiterter Antisemitismus in Deutschland fortdauert. Tugendhat zögert aber mit dieser Aussage, weil er selbst keine empirischen Untersuchungen angestellt habe und weil er selbst wegen seines vierzigjährigen Aufenthaltes in der Bundesrepublik keine antisemitischen Erfahrungen gemacht habe. Es kann kein Zweifel bestehen, dass zwischen Philosemitismus auf der einen Seite und nicht erfolgter oder misslungener (pathologischer) Trauerarbeit) sowie nicht rational aufgearbeiteter Schuld ein kausaler Zusammenhang besteht.

Und auch Philosemitismus und Antisemitismus hängen – so Ernst Tugendhat – eng zusammen. Erster gründet in der Angst, als Antisemit zu erscheinen und hat also im Antisemitismus seinen Grund. Man kann sich vom Antisemitismus nicht befreien, wenn man Juden für nicht kritisierbar hält. „Das sind Trivialitäten“, schrieb Tugendhat 2010, „aber in Deutschland besteht ein Aufholbedarf, um aus dem Gespinst von Antisemitismus und Philosemitismus herauszukommen.“ Ansätze hierzu gibt es kaum, denn das würde ja bedeuten, dass man Israel öffentlich kritisieren dürfte und es „normale“ Beziehungen zwischen beiden Staaten geben würde. Aber sind die möglich zwischen einem Deutschland, das seine Schuld noch nicht aufgearbeitet hat und deswegen einem verlogenen Philosemitismus huldigt und einem Staat, der mit seiner Besatzungspolitik über drei Millionen Menschen hinter Mauern und Stacheldrahtzäunen wegsperrt, der sich weigert, seine endgültigen Grenzen festzulegen, weil er immer noch auf Landraub und Expansion aus ist und der nicht einmal Nicht-Juden im eigenen Land volle Bürgerrechte gewährt? Bevor beide Staaten ihre Lebenslügen – ihre jeweils eigenen und die im Verhältnis zum anderen – nicht aufgearbeitet haben, kann wohl von „Normalität“ keine Rede sein.

Auch und gerade auf der Seite Israels nicht. Moshe Zuckermann hat immer wieder darauf hingewiesen, dass die Israelis auch keine wirkliche Trauerarbeit geleistet haben. Weil sie den Holocaust in anderen Begriffen als denen der „Schuldzuweisung“ nicht zu erinnern vermögen, bedarf es hierzu des Hasses auf neue Schuldige. Abraham Burg ergänzt diesen Gedanken. Er glaubt, dass die Israelis den Deutschen zu früh verziehen hätten, was sich sehr negativ auf die jüdische Identität ausgewirkt habe. Die Wut und Rachegefühle habe man deshalb auch die Araber und speziell auf die Palästinenser verlagert, die man zu den „neuen Nazis“ gemacht habe, an ihnen lasse nun Israel seine Hysterie und Aggressionen aus. Das bedeutet, dass die jüngste Geschichte und die Gegenwart miteinander vermengt werden, soll heißen, dass der Konflikt Israels mit den Palästinensern vor allem im Zusammenhang mit dem Holocaust gedeutet wird. Das führt aber unweigerlich zur Nicht-Wahrnehmung, ja Verleugnung wesentlich realer Ursachen des Palästina-Konflikts und seiner Austragungsformen. Der deutsch-jüdische Historiker Dan Diner hat diesen Sachverhalt schon vor Jahren aufgezeigt.

m eine nationalstaatlich-jüdische Existenz in einem bewohnten Land aufzubauen, mussten sich die Zionisten kolonialer Mittel bedienen. Die arabischen Politiker wehrten sich verständlicherweise gegen die Verdrängung. Obwohl sie die Reagierenden waren, wurden sie von der Wahrnehmung her sehr bald in die Rolle des Angreifers versetzt. Entsprechend ihrer Jahrhunderte langen Erfahrung stellten und stellen sich die in Palästina zugewanderten Juden als die Hassobjekte und Angriffsziele dar. Diese historische Verkehrung bezeichnet Diner als ein „fundamentales Grundmotiv des Palästina-Konflikts.“ Diese Verkehrung machte es auch möglich, dass die Israelis ihre Schuld, die Palästinenser im Verlauf des zionistischen Kolonisationsprozesses verdrängt und vertrieben zu haben, leugnen konnten, was dazu führte, dass bis heute ein erbitterter Streit um Fakten und Tatsachen geführt wird (etwa um die Nakba) und weniger um die Deutung des Geschehens.

Diner schreibt: „Das Grundmuster in der Konfliktwahrnehmung der überwiegenden Mehrheit der israelischen Juden ist im Wesentlichen Verleugnung des Geschehens – der Mittel und Maßnahmen des Kolonisationsprozesses, wie er gegen die arabisch-palästinensische Bevölkerung des Landes zur Herbeiführung eines jüdisch-nationalistischen Staatswesens durchgesetzt wurde; schließlich einer palästinensischen Existenz überhaupt. Ersetzt wird diese verleugnete Wirklichkeit in Palästina durch Deutungen, die mit den schrecklichen und wirklichen Erfahrungen der Juden, ihrer Verfolgung bis hin zum Versuch ihrer totalen Vernichtung in der Diaspora in Verbindung stehen. Sie wirken sich hinsichtlich der Wahrnehmung der Realität wie eine Plombe aus: sie dichten ab.“

Israelische Juden und Juden in der Diaspora deuten infolge dieser Verleugnung den Konflikt mit den Palästinensern und den arabischen Staaten ringsum im Zusammenhang mit dem Antisemitismus und dem Holocaust. Als Grund für diese Übertragung bietet sich der koloniale Charakter des Konfliktes selbst an, der nicht kompromissfähig ist. Es gibt nur ein „Wir“ oder „Sie“ – es geht also nicht um territoriale Zugeständnisse, sondern um die nackte kollektive Existenz israelischer Juden und Araber im Land. Deshalb wird der Konflikt auch mit solcher Verbissenheit geführt. In diesem totalen Charakter des Konflikts sieht Diner das wirkliche Einfallstor für Bilder und Metaphern der Judenvernichtung in Europa: „So wird etwa eine eventuelle militärische Niederlage Israels notwendig als eine Auslöschung des Kollektivs angenommen. Eine solche Niederlage zu verhindern, erfordert wiederum, den Konflikt mit allen verfügbaren Mitteln zu führen – als präventive Ausübung erwarteter arabischer Gewalt. Und wenn im Konflikt die Vernichtung des einen durch den anderen angelegt ist, die kolonialen Ursprünge und Verlaufsformen dieser Gewalt aber jüdischer- und israelischerseits hartnäckig geleugnet werden, dann lässt sich die Wirklichkeit um und in Palästina nur als Fortsetzung der bisherigen Geschichte außerhalb Palästinas deuten. Die Bedeutung des wirklichen Konflikts um Palästina wird dabei unerheblich. Er stellt nur noch bloßes Material bereit für eine Sinngebung, deren Koordinaten sich in der Geschichte Europas befinden, nicht aber im Vorderen Orient, am Ort des tatsächlichen Geschehens.“

Der Ausgang aus diesem Konflikt kann – so Diners Prognose – nur ein düsterer sein, denn das von der Erfahrung des Holocaust geprägte Bewusstsein im diesem Konflikt läuft auf ein sicheres Verhängnis hinaus. Nach dem Modell der sich selbst erfüllenden Prophezeiung, könne das ständige Bemühen, das Verhängnis zu verhindern, nur dazu beitragen, es herbeizuführen. Soweit Dan Diner, der mit diesen Aussagen bestätigt, dass der Zionismus ein ethnozentrisches und isolationistisches  politisches System ist – ja, die Partikularität steigerte sich noch nach der jüdischen Katastrophe in Europa in einen kollektiven Rückzug von den Nicht-Juden.

Das hier von Diner beschriebene Deutungsmuster – also die Vermischung des Traumas der nationalsozialistischen Judenvernichtung mit der kolonialen, von Gewalt geprägten Situation, die die zionistischen Zuwanderer mit ihrem Projekt auf palästinensischem Land geschaffen haben – besagt anders formuliert, dass sich die Wahrnehmung der europäischen Geschichte in den Palästina-Konflikt hineingeschoben hat. Nicht zuletzt dadurch ist er unlösbar geworden.

Die deutsche Politik hängt teilweise auch diesem Deutungsmuster an. Deutsche Israel-Verteidiger gehen noch einen Schritt weiter: sie leugnen den kolonialen Anteil des Konflikts völlig und beschränken ihn aus ihren philosemitischen Schuldgefühlen heraus ausschließlich auf den Aspekt des Antisemitismus. So können sie wie die Zionisten die Palästinenser und die Araber in die Nähe der Nazis bringen oder sie sogar als die „neuen Nazis“ ansehen, obwohl diese mit dem Holocaust nichts zu tun hatten. Sie mussten mit dem Verlust ihres Landes und der Zerstörung ihrer Gesellschaft und Kultur den Preis für die deutschen Verbrechen zahlen. Aber die deutschen philosemitischen Israel-Propagandisten tun sich damit keinen Gefallen, weil man sich eben mit dieser Sicht auf den Konflikt in Palästina den Blick auf seine wahren Ursachen und seinen Fortgang verbaut. Die Israelis tun sich auch keinen Gefallen, wenn sie die Opfer der Kolonisation (die Palästinenser) mit Tätern oder sogar mit NS-Tätern gleichsetzen, sich selbst aber als die wahren Opfer wahrnehmen. Dann ist eine Ende des Konflikts nicht möglich.

Aus dem Gesagten ergibt sich: Das offizielle deutsche Israel-Bild stimmt nicht, es hat mit der Realität kaum etwas zu tun. Der Holocaust überlagert immer noch alles. Israel wird deswegen als defensiver Vorposten gegen zunehmenden Antisemitismus wahrgenommen. Daher rührt immer noch die Sympathie für diesen Staat. Das Vorrücken des äußerst aggressiven Islamismus verstärkt dieses positive Bild: Israel als die zivilisierte Insel inmitten der Barbarei. Es wird dabei völlig übersehen, dass Israel selbst ein äußerst aggressiver Militärstaat ist, der rücksichtslos um die Vorherrschaft im Nahen und Mittleren Osten kämpft und seine Besatzungspolitik über die Palästinenser mit brutaler Härte, ja mit Grausamkeit durchführt. Aber Israel wendet Europa sein friedliches und „demokratisches“ Gesicht zu, die bararischen Realitäten der Besatzung werden ausgeblendet, sein aggressive kriegerisches Vorgehen wird als legitime „Selbstverteidigung“ wahrgenommen. Die israelische Propaganda (Hasbara) tut alles, dass allein dieses Bild wahrgenommen wird. Und Deutschland steht bedingungslos hinter Israel, seine „Sicherheit“ ist deutsche Staatsräson (Angela Merkel). Dass die deutsche Politik damit auch die israelische Besatzungs- und Landraubpolitik mitträgt, versteht sich von selbst – ein klarer Verstoß gegen das Grundgesetz, in dem es im Grundrechtskatalog sowie in den Artikel 25 und 26 klar definiert heißt, dass das Völkerrecht unmittelbar geltendes Recht ist. Dort heißt es: „Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen.“ Nimmt man diesen Artikel ernst, kann man die deutsche Unterstützung für Israels völkerrechts- und menschenrechtswidrige Politik nur als Lebenslüge der deutschen Politik bezeichnen.

Der Politologe Mohssen Massarat hat Deutschlands Komplizenschaft mit Israel so beschrieben: „Die Bedrohung der Existenz Israels stellt sich im Lichte der Analyse als ein Popanz heraus, den Tel Aviv, Washington und Berlin mit großem propagandistischen Aufwand aufgebaut haben. Im Ergebnis legitimieren die USA und Deutschland auf jeden Fall Israels Besatzungsmacht und dessen Monopol an Atombomben. So gesehen, erklärte Angela Merkel im März 2008 in der Knesset nicht Israels Sicherheit, sondern eben dessen Besatzungsmacht und nukleares Monopol, letztlich das zionistische Ziel ‚Erez Israel‘, zu deutschen Staatsräson. Ein berechtigtes Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung Israels wird aber nicht durch nukleare Erst- und Zweitschlagkapazität und eine Sicherheitspolitik gegen die Staaten im Mittleren und Nahen Osten, sondern durch eine Sicherheitspolitik hergestellt, die mit diesen Staaten gemeinsam aufgebaut wird. Es ist hohe Zeit für die Vorbereitung einer Konferenz für Kooperation und gemeinsame Sicherheit im Mittleren und Nahen Osten nach dem Muster der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa 1975.“

Angesichts einer so verwirrenden Problematik, die es zu lösen gilt, erscheint die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen beiden Staaten fast wie eine Randerscheinung oder Fußnote. Die Aufnahme der Beziehungen kam denn auch wohl kaum aus einem echten Geist der Versöhnung zustande, es spielten handfeste Interessen eine Rolle. Deutschland brauchte Israel, weil es sein Image in der Welt aufbessern musste, und Israel brauchte Deutschland aus ganz handfesten materiellen Gründen. Wie Levi Eshkol es formuliert hatte: Deutschland sei moralisch verpflichtet, ein starker Staat zu werden. Mit „stark“ waren hier Geld und Waffen gemeint. Der damalige deutsche Botschafter in Israel, Rolf Pauls, verstand das auch so und erklärte: Er halte den Appell an unsere moralischen Verpflichtungen für durchsichtig, denn die Israelis sagten Moral, meinten aber Kasse. Daran hat sich wohl – siehe die Lieferung bzw. Schenkung der Milliarden teuren U-Boote – bis heute nichts geändert.

Die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen hatte auch mit viel Geld und Waffen zu tun. Die Bundesrepublik hatte Israel seit Jahren unter strengster Geheimhaltung Waffen und militärische Gerät geliefert, ja, Israel durch das Geheimabkommen zwischen Konrad Adenauer und Ben Gurion, das die Zahlung von drei Milliarden D-Mark vorsah, zur Atommacht gemacht. Als die Waffenlieferungen bekannt wurden, war die bundesdeutsche Nahost-Politik nur noch ein Scherbenhaufen, denn die arabischen Staaten (außer Ägypten, das aber den DDR-Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht nach Kairo einlud) brachen die diplomatischen Beziehungen zur Bundesrepublik ab und erkannten die DDR an. Eine Katastrophe für die deutsche Außenpolitik, die sich durch die Hallstein-Doktrin selbst Fesseln angelegt hatte, denn diese bestand auf dem Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik in der internationalen Staatenwelt. In dieser Situation beschloss Bundeskanzler Ludwig Erhard die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Israel. Wahrhaftig kein rühmlicher Auftakt für das später von offizieller Seite so hoch gelobte Verhältnis.

Man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass bei den Jubiläumsfeierlichkeiten das übliche Ritual abgespielt wird und alle wirklichen Probleme und Differenzen beider Seiten und im gemeinsamen Verhältnis unter den philosemitischen Teppich gekehrt werden. Lebenslügen und Doppelmora werden auch weiterhin – wie lange noch? – die deutsch-israelischen Beziehungen beherrschen.