Angesichts der Ziele, die sich die indonesischen Macher in ihrer Documenta-Konzeption gesetzt hatten, dürfte der auf Antisemitismus gerichtete Medien-Sturm, der dann folgte, niemanden verwundern. Er war sozusagen programmiert. Die Hauptrolle der diesjährigen Ausstellung spielen Kunstkollektive des Globalen Südens. Sie wollten die Sichtweisen, Kunstpraktiken und die Kunst selbst aus einer globalisierten, postkolonialen Perspektive darbieten. Dabei sollte vor allem eine künstlerische Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Kolonialismus und Neokolonialismus stattfinden.
Die postkoloniale Perspektive erfreut sich in Deutschland nicht gerade großer Popularität. Dazu merkt der Historiker Jürgen Zimmerer an: „Der Kolonialismus prägte im Grunde die heutige Welt, schuf die Hegemonialpositionen des ‚Westens‘, wie sie bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts vorherrschen.“ In der neueren Kolonialismus-Forschung stellt man aber vorrangig nicht die Untaten des Kolonialismus, sondern die emanzipatorischen Elemente des „Beherrschungskolonialismus“ heraus, räumt zwar Gewalt und Vernichtung ein, betont aber andererseits als positive Element die Zwangsmodernisierung und Entwicklungsfortschritte. Man behauptet also, dass es im Kolonialismus durchaus humanitäre Mindeststandards gegeben habe. Merkwürdigerweise wird im Zusammenhang des Kolonialismus die Gewalt des Siedlerkolonialismus kaum erwähnt, sie ist – offenbar aus gutem Grund – kein Thema. Denn da kommt der siedlerkolonialistische Apartheidstaat Israel in den Blick.
Hier mussten bei den Wächtern über die deutsche Erinnerungspolitik sofort die Alarmglocken anschlagen, weil das offizielle deutsche Gedenken völlig einseitig und eindimensional auf den Holocaust und seine Einzigartigkeit ausgerichtet ist. Ein multiperspektivisches Erinnern gibt es im Land der Täter nicht. Das Aufeinanderprallen von ganz verschiedenen Wertvorstellungen auf der Documenta war deshalb vorauszusehen. Der israelische Philosoph Omri Boehm hat es so formuliert: „In Deutschland ist es nicht wirklich möglich, eine Ausstellung zu machen, die lauthals und ungestört mit der Stimme des globalen Südens spricht. Es ist ein Diskurs, der in Deutschland nicht wirklich als legitim durchgeht. Dementsprechend ist er hier explodiert.“ Er musste explodieren, kann man auch sagen.
Der Grund liegt auf der Hand: Ein kritisches Nachdenken aus postkolonialer Sicht über den Kolonialismus und damit auch über den siedlerkolonialistischen Staat Israel darf es nicht geben. Da könnten unter den aufgedeckten Steinen plötzlich sehr giftige Skorpione zu Tage treten: die grausame koloniale Politik des Zionismus gegenüber den Palästinensern, die Israel nicht erst seit seiner Gründung 1948 und der damals gleichzeitig stattfindenden Nakba praktiziert, sondern die seit der Einwanderung der ersten Zionisten am Ende des 19. Jahrhunderts stattfindet. (Man lese die Aufzeichnungen Achad Ha’ams Truth from Eretz Israel aus dem Jahr 1891!)
Zur Sprache müsste dann auch das sehr problematische Verhältnis Israels zur Dritten Welt kommen, das der israelische Sozialwissenschaftler Benjamin Beit-Halahmi vor einigen Jahren so beschrieben hat: Die israelische Politik hat sich nie mit Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt identifizieren können, weil die Begriffe „Befreiung“ und „Selbstbestimmung“ sofort die Ansprüche der Palästinenser in die öffentliche Debatte Israels gebracht hätten und das sollte unter allen Umständen vermieden werden.
Beit-Hallahmi schreibt: „Dem Zionismus waren von Anfang an, insbesondere was den Umgang mit der Dritten Welt betraf, einige unübersehbare und unausweichliche ideologische Festlegungen inhärent. Kernpunkt des zionistischen Programms war die Begründung eines souveränen jüdischen Staatswesens in Palästina durch Besiedlung und Ausübung politischer Herrschaft. Der Zionismus trug damit gleichsam per definitionem die Momente der Vergewaltigung einer eingeborenen Bevölkerung und der Konfrontation mit der Ditten Welt in sich.“
Und an anderer Stelle schreibt Beit-Hallahmi: „Der Gedanke der Befreiung und Selbstbestimmung für die Länder der Dritten Welt stellt für den Zionismus eine existentielle Bedrohung dar. Sogar der Begriff der Menschenrechte ist für das politische System Israels von potientieller Brisanz. Jede ernsthafte Auseinandersetzung mit der israelischen Politik in der Dritten Welt muss unvermeidlich zu einer radikalen Kritik am Zionismus und seinen politischen Zielen führen.“
Und weiter: „Der Zionismus kann sich eine moralische Selbstanalyse nicht leisten. Das Unrecht, das den Palästinensern angetan wird, liegt so klar auf der Hand, dass man, um es nicht zur Kenntnis nehmen zu müssen, das Thema als solches tabuisieren muss. Da aber jede Diskussion darüber, was Israel in der Dritten Welt anstellt, zwangsläufig in der Frage nach den Rechten der Palästinenser münden würde, muss auch die Dritte-Welt-Problematik tabuisiert werden. Man kann nicht über Gleichberechtigung, Freiheit und Selbstbestimmung im Allgemeinen reden, ohne irgendwann auch das Verhältnis zwischen Israelis und Palästinensern an der Elle dieser Ideale zu messen.“
Auch wenn diese Sätze schon einige Jahre zurückliegen, an der Grundkonstellation der zionistischen Politik hat sich in der Zwischenzeit nichts geändert. Beit-Hallahmis Feststellungen erklären auch, warum Israel in der Dritten Welt nie mit den Befreiungsbewegungen, sondern immer mit den brutalsten und korruptesten Diktatoren zusammengearbeitet hat und das auch heute noch tut. Äußerst eng und freundschaftlich war das Verhältnis zum Apartheidstaat Südafrika.
Israel gehört mit seinem Siedlerkolonialismus nicht auf die Opferseite des vom Westen kolonisierten Südens, sondern auf die der Täter – auch wenn der zionistische Staat unter Berufung auf den Holocaust selbst immer noch Opfer sein will. Diesen Status muss er aufrechterhalten, denn wenn Israel die Palästinenser als Opfer anerkennen würde, würde er das ganze moralische Fundament des Zionismus in Frage stellen. Das Immer-noch-Opfersein-Wollen ist aber ein denkwürdiger Widerspruch zu Israels politischem und militärischem Verhalten! Wo sollte im postkolonialen Konzept der indonesischen Ausstellungsmacher ein Platz für den zionistischen Siedlerstaat sein?
Israel hat in der Geschichte Indonesiens denn auch eine unselige Rolle gespielt. Es hat sich eindeutig auf die Seite des Diktators Suharto gestellt, der in den 1960er Jahren 500 000 Landsleute, die unter dem Verdacht des Kommunismus standen, hat umbringen lassen. Israel pflegte enge Beziehungen zu diesem Diktator und lieferte ihm Waffen – vor allem Kampfflugzeuge aus amerikanischen Beständen. Auch der israelische Geheimdienst Mossad arbeitete eng mit dem Suharto-Regime zusammen – natürlich in geheimen Rahmen. Indonesien lief in diesen Kontakten mit Israel unter dem Codewort „Haus und Garten“. Eine Tarnfirma des Mossad machte, wie der israelische Autor Joseph Croitoru jetzt berichtete, mit indonesischen Staatsunternehmen Geschäfte. Es soll um Phosphate, Pestizide, Rohdiamanten, militärische Ausrüstungen und Uniformen gegangen sein. 1993 besuchte der israelische Regierungschef Itzhak Rabin Indonesien und Diktator Suharto.
Die engen Beziehungen zwischen beiden Ländern – der antikommunistischen Militärdiktatur und dem zionistischen siedlerkolonialistischen Staat Israel – spiegeln sich auch in dem großen Triptychon Peoples Justice auf der Documenta wider, das der Stein des antisemitischen Anstoßes wurde und entfernt werden musste. Es stellt das Gericht des gequälten indonesischen Volkes über das Suharto-Regime dar, wobei dessen Vertreter und Unterstützer in Gestalt von Schweinen, Hunden und Ratten erscheinen. Rechts im Bild protestieren die noch lebenden Opfer, links fast im Paradeschritt die Schergen der Diktatur und ihre ausländischen Helfer.
Der Protest des Künstlers richtet sich also keineswegs nur gegen Israel. Dargestellt sind Vertreter der meisten ausländischen Geheimdienste: des ASIO (Australien), Mossad (Israel), MI-5 (Großbritannien), CIA (USA) und KGB (Sowjetunion). Auch 007 ist vertreten, wohl eine Chiffre für alle westlichen Geheimdienste. Die Geheimdienstler sind als militärische Schreckensgestalten porträtiert – mit Schweinenasen. Das Schwein gilt in Indonesien als Symbol für die Anhänger des Suharto-Regimes. Der Mossad-Kämpfer ist zudem mit einem Davidstern gekennzeichnet.
An dieser sarkastischen Symbolsprache des Bildes wäre eigentlich nichts auszusetzen, wäre da nicht auch noch die Gestalt des orthodoxen Juden mit Schläfenlocken, Raffzähnen und der SS-Rune auf seinem Hut. Das antisemitische Stereotyp kann hier nicht geleugnet werden. Vermutlich wollte der Künstler mit dieser Darstellung sagen, dass Israel die an den Juden begangenen Verbrechen der Nazis nun selbst an den Palästinensern begeht. Direkt ausgesprochen wird das aber nicht, zumal die eigentlichen Opfer auf dem Bild Indonesier sind.
Vermutlich ist die antisemitische Stereotype, die in islamischen Kreisen in Indonesien populär sein soll, durch arabische Vermittlung dorthin gekommen. Der Arabist Alexander Flores warnt aber davor einfach vorauszusetzen, dass der „orientalische“ Antisemitismus denselben Charakter, dieselbe Intensität, denselben Kontext und dieselben möglichen Folgen hat wie derjenige der Nazis. Der arabische Raum kannte ursprünglich keinen Antisemitismus. Er kam erst über den europäischen Nationalismus, der auch antisemitische Züge hat, in die arabische Welt, und breitete sich, obwohl zunächst nur eine marginale Erscheinung, durch das aggressive Auftreten des Zionismus in Palästina dann aber sehr schnell aus.
Der Zionismus war von Anfang an eine siedlerkolonialistische Bewegung und stützte sich auf die imperialen Interessen der europäischen Mächte (vor allem Großbritanniens), ohne deren Unterstützung er sich in Palästina nicht hätte durchsetzen können. Die Umwandlung dieses Landes in einen jüdischen Staat konnte aber nur auf Kosten der Palästinenser realisiert werden, die deshalb eine heftige Feindschaft gegen die Zionisten und später gegen den Staat Israel entwickelten. Diese Feindschaft lässt sich aus dem Schaden und den Verheerungen erklären, die die Zionisten bei der Realisierung ihres Projekts den Palästinensern zufügten.
Dieses Ressentiment ist aber erst dann antisemitisch, wenn es sich gegen Juden als Juden artikuliert oder wenn auf Israel, seine Politik und Institutionen antisemitische Stereotypen angewendet werden. Zwei Faktoren führten vor allem dazu, dass der Unterschied zwischen Zionismus und Judentum im arabischen Raum – und damit auch in Indonesien – verwischt wurde: Erstens der Anspruch der Zionisten, für alle Juden der Welt zu sprechen; zweitens das Faktum, dass Israel bzw. die zionistische Bewegung es immer verstanden haben, sich als Vorposten der führenden imperialistischen Mächte in der Auseinandersetzung mit ihren Gegnern (vor allem in der Dritten Welt) darzustellen. Der Staat Israel hält heute „die ganze Region in Furcht und Schrecken“ und kann es sich leisten, die schreiendsten Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen zu begehen, ohne dass eine der größeren Mächte ihn daran hindert. (Alexander Flores) Warum sollten angesichts solcher Fakten der postkoloniale indonesische Blick auf Israel sehr freundlich sein?
Das alles hätte man anführen können, wenn man den Willen gehabt hätte, das deutsche Erinnern um die Einbeziehung der kolonialen bzw. neokolonialen Verbrechen zu erweitern, die Untaten der Nazis hätten dabei keineswegs vernachlässigt oder relativiert werden müssen. Ohne einen kritischen Blick auf den Zionismus ist ein solches Erinnern aber nicht möglich. Eine Globalgeschichte der kolonialen bzw. neokolonialen Massengewalt ist das anzustrebende Ziel, stattdessen wird die postkoloniale Sicht auf den globalen Süden aber dämonisiert. Das repressive geistige Klima im Deutschland von heute lässt ein mehrdimensionales Erinnern nicht zu, alles wird eindimensional auf den Holoaust, den Antisemitismus und das Verhältnis zu Israel fokussiert.
Katja Maurer, die früher bei medico international beschäftigt war, hat den Sachverhalt sehr treffend beschrieben: „Es handelt sich um einen Angriff auf ein multiethnisches Deutschland und seine multiperspektivischen Erinnerungsräume. Der generalisierte Antisemitismus-Vorwurf droht diese Räume zu schließen und alle unter eine verstaatliche Erinnerungspolitik zu zwängen.“ So gesehen war die Documenta mit ihrer postkolonialen Perspektive eine große Chance, aber der in Deutschland herrschende intellektuelle Provinzialismus hat sie verspielt. Israel und seine Verteidiger haben aber ihr Ziel bei der Documenta voll erreicht: den Focus ganz auf den Antisemitismus zu lenken und damit eine Kritik an Israels Vorgehen gegen die Palästinenser gar nicht erst aufkommen zu lassen.
14.07.2022