Wenn man zwischen „guten“ und „bösen“ Juden unterscheidet
Die deutsche Israel-Ideologie führt zu immer absurderen Blüten
Der israelische Sozialwissenschaftler und Philosoph Moshe Zuckermann darf nicht in München und Oldenburg reden. Abi Melzer darf in verschiedenen deutschen Städten nicht sprechen. Und der ehemalige Bundestagsabgeordnete und Rechtsprofessor Norman Paech darf seinen Vortrag in Oldenburg auch erst nach Intervention eines Oberlandesgerichts halten. Ein paar Vorfälle aus den letzten Tagen und Wochen, die Liste dieser Ungeheuerlichkeiten ist inzwischen lang und wird immer länger und absurder. Eine kleine Gruppe von selbst ernannten Scharfrichtern und Inquisitoren maßt sich – mit der Israel-Lobby im Rücken – an, den Deutschen vorzuschreiben, worüber sie sich in Sachen Israel/Palästina informieren und diskutieren dürfen und worüber nicht.
Dass hier ganz eindeutig gegen den Artikel 5 des Grundgesetzes (Meinungs-, Presse-, Informations- und Wissenschaftsfreiheit) verstoßen wird – das vielleicht wichtigste Recht, das eine Demokratie erst konstituiert – die Verantwortlichen in der Politik, den Medien, Stadtverwaltungen und Universitäten sowie private Raumvermieter machen das infame Spiel mit: Erstere legen permanent Treubekenntnisse zu Israel ab; Intendanten, Verleger und Chefredakteure lassen zumeist eine nur sehr einseitige Berichterstattung über die Vorgänge im Nahen Osten zu; und Behördenchefs (und neuerdings sogar Besitzer von Kneipen oder Restaurants, die Säle zu vermieten haben) knicken aus Angst vor dem Antisemitismus-Vorwurf bei fast jeder Gelegenheit ein und verweigern Räume für Vorträge und andere Veranstaltungen zum Thema – inzwischen selbst für Juden bzw. Israelis, die die Situation aus ihrer besonderen Kenntnis heraus und der Sorge um ihr Land eben anders beurteilen als der philosemitische Mainstream hierzulande. (Auch ATTAC gehört jetzt zu diesen feigen Einknickern. Siehe aber auch die Vorgänge um den Göttinger Friedenspreis.) Es ist der Gipfel der Infamie, wenn Deutsche dann Juden in „gute“ und „böse“ sortieren (um das Wort „selektieren“ zu vermeiden), in solche, die politisch „genehm“ und solche die „untragbar“ sind.
Wenn man solche Ungeheuerlichkeiten vor Jahren noch für unmöglich hielt, heute sind sie bittere Realität. Und die Israel-Verteidiger fühlen sich natürlich auch absolut im Recht, sie und die „guten“ Juden stehen natürlich auf der „richtigen“ Seite der Politik und der Geschichte, können aber ihre kruden Thesen, die sie als allgemeinverbindliche Glaubenssätze sozusagen ex Cathedra verkünden, nur in die Öffentlichkeit lancieren, indem sie sträflich wichtige Realitäten nicht zur Kenntnis nehmen.
Erstens unterscheiden sie nicht zwischen Judentum und Zionismus, dass das Eine eine politische Ideologie ist und das andere eine kulturelle Identität im weitesten Sinne (in der die Religion natürlich eine wichtige Rolle spielt, aber es gibt auch säkulare, nicht-gläubige und atheistische Juden in großer Zahl). Kritik an Israels Politik ist deshalb keineswegs automatisch Antisemitismus, wie die Verteidiger Israels und seine Anhänger glauben machen wollen.
Zweitens ist es ein unleugbares Faktum, dass das heutige Judentum in die beiden Gruppen der Partikularisten (zionistische Nationalisten aller Schattierungen) und Universalisten (also die Vertreter von Völkerrecht und Menschenrechten) gespalten ist. Der britisch-jüdische Philosoph Brian Klug und andere diagnostizieren diese Spaltung als eine tiefe Krise des Judentums und schließen sogar nicht aus, dass es an der Israel-Frage zerbrechen kann. Die fanatischen Israel-Anhänger machen also den großen Fehler, dass sie den zionistischen Nationalismus für das einzige Judentum halten und die Universalisten davon ausschließen. Nur deshalb können sie ihre infame Unterscheidung von „guten“ und „bösen“ Juden vornehmen. Diese Realitätsverweigerung gilt im Übrigen auch für die Interpretation der Geschichte Israels. Für die Zionisten und ihre Anhänger gilt logischerweise nur das zionistische Narrativ, die weitergehenden Kenntnisse über die Geschichte des Staates Israel (etwa den Krieg von 1948 und die Nakba), die die sogenannten „neuen Historiker“ erarbeitet haben, werden gar nicht zur Kenntnis genommen, es gibt sie schlicht nicht.
Wenn man aber die Frage stellt, wie im Jahr 2019 in Deutschland so etwas wie die Unterscheidung von „guten“ und „bösen“ Juden möglich ist und dass Angehörige dieses Tätervolkes (sogar und gerade junge Menschen), die mit den Verbrechen ihrer Groß- oder Urgroßväter gar nichts mehr zu tun haben, sich nun rück- und vorbehaltlos auf die Seite der völkerrechts- und menschenrechtswidrigen, ja verbrecherischen Politik Israels stellen, dann kann man die Antwort auf diese Frage nur in der der Psychologie suchen.
Und das heißt: Die durch das Mega-Verbrechen Holocaust ausgelöste Schuld wird auch – bewusst oder unbewusst – in der dritten Generation danach noch als so groß und belastend empfunden, dass man meint, sie nur mit der vollständigen Identifizierung mit den Opfern verarbeiten und überwinden zu können und deshalb auch in Kauf nimmt, dass die Opfer inzwischen längst zu Tätern geworden sind und selbst furchtbare Untaten begangen haben und auch immer noch begehen. Nun sind Scham, Betroffenheit und Nachdenken über den Holocaust, der übrigens nicht nur Juden, sondern auch andere Minderheiten in sein Mordprogramm eingeschlossen hat, natürlich sehr begrüßenswert.
Man muss aber die richtigen Folgerungen daraus ziehen. Und das kann im Sinne Theodor W. Adornos, dass „so etwas nie wieder geschehe“, nur heißen, permanent die Bedingungen aufzuzeigen, unter denen es eben doch wieder geschehen kann und sich für die Menschenrechte einzusetzen, wo immer sie verletzt werden. Wozu vor allem natürlich in erster Linie auch ein ungehinderter, völlig freier und offener politischer Diskurs gehört. Das wäre eine souveräne Reaktion auf den Holocaust, die gleichzeitig aber auch Distanz zu Israel bedeutet – in dem Sinn: Wir stehen hinter Euch, aber Ihr müsst im universalistischen Geist die Standards des deutschen Grundgesetzes, der UNO-Charta, des Völkerrechts und der Menschenrechte einhalten.
Kritikern der unmenschlichen israelischen Politik und sogar kritischen Juden die Legitimität abzusprechen, sie als „Antisemiten“ zu denunzieren und öffentliche Auftritte zu verweigern, weil sie universalistische Positionen vertreten, ist totalitäres Denken und Handeln und hat mit der Verarbeitung des Holocaust, also angemessenen Schlussfolgerungen aus ihm gar nichts zu tun. Zudem fördert eine solche Haltung eher den Antisemitismus als ihn zu bekämpfen, denn unbefangene Zeitgenossen können aus einem solchen Verhalten die wirklich antisemitische Folgerung ziehen, „dass die Juden und ihre Freunde hier schon wieder so viel Macht haben, dass sie uns vorschreiben können, was geschrieben und gesendet wird und wer reden darf und wer nicht.“ Ein solch verheerender Verdacht darf eigentlich gar nicht erst aufkommen.
Die Psychoanalytiker Alexander und Margarete Mitscherlich haben in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ihr bahnbrechendes Buch „Die Unfähigkeit zu trauern“ geschrieben, in dem sie angesichts der furchtbaren deutschen Verbrechen den Anstoß zu einer fruchtbaren Aufarbeitung dieser Vergangenheit gegeben haben. Sie warfen den Deutschen vor, dass sie sich „nicht den inneren Wahngehalten, die wechselseitig projiziert wurden, nähern konnten.“ Die Mitscherlichs wollten mit ihrer Analyse einen Beitrag dazu leisten, diesen „Wahn, der zum Unzulänglichsten am Menschen gehört“, durch Bewusstmachen des Unbewussten zu verstehen und damit davon frei zu werden. „Hier eröffnet sich ein Verständnis, das uns vielleicht weiterbringt,“ schrieben sie.
Betrachtet man die diffamierenden und denunziatorischen Konzepte und Aktionen der Israel-Anhänger, dann wird klar, dass diese Leute und leider auch Teile der deutschen Politik und Öffentlichkeit noch kein aufklärerisches Verständnis im Sinne der Mitscherlichs erlangt haben, das weiterbringt. Und die beiden Psychoanalytiker sahen noch etwas anderes. Damals war infolge der nicht aufgearbeiteten Vergangenheit – genau wie heute – die Informations-, Meinungs-, Presse- und Wissenschaftsfreiheit auf das höchste gefährdet, was einen von den Mitscherlichs beklagten politischen Immobilismus zur Folge hatte, der auch heute nicht nur im Diskurs über Israel/Palästina zu beklagen ist. Die Feinde der offenen Gesellschaft und damit eines offenen politischen Diskurses waren auch damals schon überaus aktiv.
Die Mitscherlichs schrieben in ihrem Buch: „Mehrt oder mindert sich die Toleranz, abweichende Meinungen – auch solche, die uns ärgern – zu ertragen und zu achten? Ist Gedankenfreiheit für die Bürger unseres Landes zur unabdingbaren Forderung an ihre Gesellschaft geworden? Mit anderen Worten: Wird diese Freiheit lebendig empfunden, oder ist sie ein günstiger Zufall, der wie in der Weimarer Republik schnell wieder verloren gehen könnte? Das sind Fragen nach der Stabilität des Bewusstseins der Vielen, welche unsere Öffentlichkeit ausmachen. Wo aber Gedankenfreiheit nicht fortwährend kritisch herausgefordert wird, ist sie in Gefahr, wieder zu verlöschen. Denn sie ist an den schwächsten Teil unserer seelischen Organisation, an unser kritisches Denkvermögen, geknüpft.“ Prophetische Sätze, wenn man an die heutige Situation denkt.
1.04.2019