Nur die halbe Wahrheit

Wie die ARD-Redaktion in Tel Aviv über ein brisantes Thema berichtet: die Juden aus dem Jemen

Die ARD-Redaktion in Tel Aviv hat ein heißes Eisen angepackt: die Situation der aus dem Jemen stammenden Juden in Israel. Anlass ist die Ankündigung der israelischen Regierung, Juden dieser Volksgruppe zu entschädigen. Denn viele dieser Menschen mussten nach ihrer Ankunft im zionistischen Staat eine furchtbare Erfahrung machen: Eltern wurden ihre Kinder weggenommen – unter dem Einsatz von brutaler Gewalt. Etwa 1000 kleine Kinder – andere Quellen sprechen von bis zu 5000 Kindern – wurden nach Angaben des ARD-Korrespondenten Benjamin Hammer zwischen 1948 und 1954 von ihren Eltern getrennt, die meisten auf Nimmerwiedersehen.

Der israelische Staat gab damals als Grund für die grausame Maßnahme an, er wolle die Kinder schützen, weil die zugewanderten Jemeniten in Israel unter sehr schlechten Bedingungen leben mussten. Die israelische Regierung hat jetzt – nach fast 70 Jahren! – angekündigt, die betroffenen Familien zu entschädigen. So sollen Personen, die damals über den Tod ihrer Kinder informiert wurden, 37 000 Euro bekommen; ist das Schicksal der Kinder ungeklärt, sollen die Hinterbliebenen 50 000 Euro erhalten. Viele der Kinder seien damals auf Grund der schlechten Lebensbedingungen gestorben, andere seien von europäisch-stämmigen Juden adoptiert worden.

Der israelische Historiker Rafi Shubeli, dessen Familie selbst aus dem Jemen stammt, akzeptiert das Bedauern der Regierung nicht, sie müsse Verantwortung übernehmen, fordert er, und eingestehen, dass der Staat diese Kinder unter Zwang ihren Müttern weggenommen habe. Er fügt hinzu: „Rassismus muss klar benannt werden. Nur zu sagen ‚es gab Leid und das tut uns leid‘ – das reicht nicht.“ Er fügt hinzu, diese Ereignisse widersprächen den Fundamenten des Zionismus. Es gehe hier um die Frage, ob alle Juden gleich seien. Wenn eine Gruppe von Juden innerhalb Israels Verbrechen gegen eine andere jüdische Gruppe verübe, komme das einem Erdbeben gleich.

Soweit der ARD-Bericht. Für einen öffentlich-rechtlichen Sender, der sich sonst nicht gerade durch Kritik an Israel auszeichnet, sehr mutig, möchte man sagen. Nur: Der Bericht enthält entscheidende Fehler und große Lücken. Denn die Jemeniten sind nicht – wie in dem Bericht behauptet – als „Flüchtlinge“ nach Israel gekommen, sondern sie sind von der israelischen Regierung unter Einsatz aller – auch zweifelhafter – Mittel dorthin geholt worden. Aus einem aus ihrer Sicht verständlichen Grund: Israel hatte im Krieg mit den Arabern 1948/49 viel Land erobert (es besaß nun 72 Prozent von Palästina), hatte aber zu wenig Menschen, das Territorium zu besiedeln, denn aus Europa konnten wegen des Holocaust kaum noch Juden nach Palästina kommen.

Israels erster Ministerpräsident Ben Gurion drückte den Sachverhalt 1949 so aus: „Wir haben Gebiete erobert, aber ohne Besiedlung haben sie keinen entscheidenden Wert, weder im Negev noch in Galiläa noch in Jerusalem. Besiedlung ist die wirkliche Eroberung. Tausende Jahre waren wir eine Nation ohne Staat, jetzt besteht die Gefahr, dass wir ein Staat ohne Nation werden.“ Israels Motive, die orientalischen Juden ins Land zu holen, waren also ganz prosaisch: Es ging um den Import jüdischer Landarbeiter, die die arabischen Landarbeiter ersetzen sollten. Es bestand ja das Prinzip der „jüdischen Arbeit“.

Bei der „Heimholung“ dieser Menschen unter dem Motto „Zion ruft“ ging man nicht gerade zimperlich vor. Man schickte Beamte oder Mosssad-Agenten in die arabischen Staaten und in den Iran, um Ausreisegenehmigungen für die Juden zu erreichen. Misslang das, wurde auch finanziell nachgeholfen. So kamen etwa der Schah des Iran, Nuri Said, und der Sultan des Jemen auf die Gehaltsliste des Mossad. Half das auch nicht, entwickelten die Zionisten die Strategie, die Lebensbedingungen der jüdischen Minderheit in den arabischen Staaten zu verschlechtern. So schrieb der Agent Itzhak Ben Menahem: „Massenauswanderung wird nur als Folge von Bedrängnis eintreten. Das ist eine bittere Wahrheit, ob es uns passt oder nicht. Wir müssen daran denken, diese Bedrängnis zu initiieren, sie in der Diaspora herbeizuführen.“ Im Irak soll der Mossad sogar Bombenanschläge durchgeführt haben, um die dortigen Juden unter Druck zu setzen und zur Auswanderung nach Israel zu bewegen.

Dass die meisten orientalischen Juden, die nach Israel kamen, „Flüchtlinge“ waren, ist also eine zionistische Legende. Keine Legende aber ist es, dass die orientalischen Juden im jüdischen Staat äußerst schlecht behandelt wurden, weil man sie als „Primitive“ und unzivilisierte „Wilde“ betrachtete. Sie bildeten das, was man seit dem Ende der 1950er Jahre als „Zweites Israel“ ansah. Sie wurden in Transitlagern untergebracht, die später zu von Arbeitslosigkeit und Elend geprägten Entwicklungsstädten wurden. Bei den Parlamentswahlen 1977 rächten diese Menschen sich an der Arbeitspartei, die sie für ihre Diskriminierung verantwortlich machten, und brachten mit ihren Stimmen den rechten Likud und deren Führer, Menachem Begin, an die Macht.

Das furchtbarste Kapitel in diesem Zusammenhang ist, dass die Kinder dieser Menschen auch als Versuchskaninchen für wissenschaftliche Forschungen eingesetzt wurden. In erster Linie handelte es sich dabei um aus Marokko stammende jüdische Kinder, aber auch Kinder aus anderen arabischen Staaten – also auch aus dem Jemen – waren dabei. Die französisch-jüdische Historikerin Esther Benbassa schreibt: Man habe damals an 100 000 Kindern Experimente mit überhohen Dosen von Röntgenstrahlen vorgenommen. Das Geld für diese Experiment sei von der US-Armee zur Verfügung gestellt worden. 6 000 dieser Kinder seien kurz nach der Bestrahlung gestorben, viele der Überlebenden hätten bleibende gesundheitliche Schäden davongetragen: Krebs, Epilepsie, chronische Kopfschmerzen usw. Die Israelis David Belhassen und Asher Hemias haben über dieses dunkle Kapitel der israelischen Geschichte einen Dokumentarfilm gedreht, der 100 000 Strahlen hieß und auch im israelischen Fernsehen ausgestrahlt worden ist.

Den Film würde man gern auch im deutschen Fernsehen sehen.

Literatur zum Thema:

Benbassa, Esther: Jude sein nach Gaza, Hamburg 2010

Bunzl, John: Juden im Orient. Jüdische Gemeinschaften in der islamischen Welt und orientalische Juden in Israel, Wien 1989

Segev, Tom: Die ersten Israelis. Die Anfänge des jüdischen Staates, München 2008