Die westliche Staatengemeinschaft beruft sich in ihrem internen und globalen politischen Handeln stets auf die „westlichen“ oder „abendländischen“ Werte. In dieser Sicht zieht sich die Geschichte der westlichen Zivilisation als ein kontinuierlicher roter Faden von der klassischen Antike (Athen und Rom) bis zu den Ländern des modernen Westens. Es wird also eine kulturelle Genealogie behauptet, die von Plato bis zur NATO reicht. Die irische Historikerin Naoíse Mac Sweety zeigt in ihrem Buch Der Westen. Die neue Geschichte einer alten Idee auf, dass diese Version der westlichen Geschichte eine Erfindung, ein Mythos, eine Ideologie oder – noch schärfer formuliert – eine „moralisch bankrotte Fiktion“ ist.
Diese Sicht der Geschichte der westlichen Zivilisation, so die Autorin, hatte in der Vergangenheit vor allem die Funktion, die Expansion des Westens und den westlichen Imperialismus zu rechtfertigen und soll bis heute den fortbestehenden Systemen weißer Vorherrschaft Akzeptanz verleihen. Oder anders gesagt: Das Narrativ von der westlichen Zivilisation hatte vorrangig die Aufgabe, Imperialismus und Rassismus zu rechtfertigen. Die wirkliche Geschichte des Westens war dagegen der Autorin zufolge viel reicher diverser, bunter und widersprüchlicher als die sehr einseitige westliche Ideologie es wahrhaben will.
Wie Recht die Historikerin mit ihrer Kritik am westlichen Wertesystem hat, lässt sich gerade gut an Israels Krieg gegen den Gazastreifen demonstrieren. Der zionistische Staat kann dort ungestraft und ohne sanktioniert zu werden, Kriegsverbrechen monströsen Ausmaßes begehen, ohne dass die westliche Staatengemeinschaft, die sich auch „Wertegemeinschaft“ nennt, einschreitet und Israels kriegsverbrecherischem Treiben ein Ende setzt – ganz im Gegenteil zu Putins Krieg gegen die Ukraine, den der Westen nicht nur verurteilt hat, sondern in den er sich voll einmischt – auch mit Waffen. Die Doppelmoral und die Heuchelei könnten deutlicher nicht zu Tage treten.
Die Aussagen in dem Buch über die Ideologie der westlichen Zivilisation lassen sich, ohne dass die Autorin darauf speziell eingeht, sehr gut auf Israel anwenden. Denn der zionistische Staat behauptet ja paradoxerweise auch, als „einzige Demokratie im Nahen Osten“ zur „westlichen Wertegemeinschaft“ zu gehören. Aus den Ausführungen der Autorin ergibt sich aber gerade, dass Israel einen besonderen Anteil an den negativen Seiten der „abendländischen Tradition“ hat: an rassistischer Unterdrückung und dem Streben nach imperialer Hegemonie.
Der Zionismus hat seine Rolle und Aufgabe im Nahen Osten von Anfang an als „Bollwerk gegen Asien“, als Verteidiger der Kultur und Zivilisation gegen die „Barbarei“ dargestellt. Man denke an Theodor Herzls Äußerung: „Für Europa würden wir dort [in Palästina] ein Stück des Walles gegen Asien bilden, wir würden den Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei besorgen.“ (aus: Der Judenstaat) Und auch der revisionistische Zionistenführer Vladimir Jabotinsky sah den Judenstaat als „Eiserne Mauer“ gegen die Araber.
Wenn die Zionisten die Selbstbestimmung und Emanzipation für die Juden forderten, dann stammten diese Ideen aus der europäischen Aufklärung. Diese sehr bedeutende intellektuelle Bewegung lieferte aber mit ihren Theorien und ihrer Philosophie auch die praktischen und konzeptionellen Mittel und das Instrumentarium, die die Europäer für ihre imperialen Bestrebungen nutzen konnten. Die Autorin schreibt: „Damit schufen sie [die Aufklärer] die geistige Grundlage dafür, den Rest der Welt als wesentlich anders und fundamental minderwertig zu betrachten.“ (Über diese Aspekte der Aufklärung findet ja gerade ein heftig geführter internationaler Diskurs statt.)
Die „Anderen“ sind die vom westlichen Kolonialismus und Imperialismus Besiegten und Unterworfenen. Um ihre Unterwerfung zu rechtfertigen, entwickelte der Westen etwa seit dem 17. Jahrhundert sein ideologisches Konzept von der eigenen Überlegenheit und der „Minderwertigkeit der Anderen“. Die „Anderen“ sind im Zionismus die Palästinenser, die als „primitiv, um ihre Würde bemüht, aggressiv, ungebildet und sozial rückständig“ angesehen werden. Über diese typisch koloniale Beziehung schreibt die israelisch-deutsche Historikerin Tamar Amar-Dahl: „Die ‚Anderen‘, die auf diesem Gebiet lebenden Palästinenser, galt es zu verdrängen, sowohl physisch (als sich die Gelegenheit ergab) als auch aus dem Bewusstsein. Die Palästinenser stellen dabei die ‚out-group‘ der zionistischen Utopie dar, da sie auf dem [den Juden] als ‚verheißenes Territorium‘ begriffenen ‚Land ohne Volk‘ de facto leben.“ (aus: Tamar Amar-Dahl: Das zionistische Israel. Jüdischer Nationalismus und die Geschichte des Nahost-Konflikts, S. 57,65)
Natürlich entwickelten die Zionisten zunächst auch ein zivilisatorisches Narrativ, indem sie vorgaben, der indigenen Bevölkerung [den Palästinensern] mit den Mitteln ihrer fortgeschrittenen Zivilisation, die sie aus Europa mitgebracht hatten, aus der Rückständigkeit zu helfen, was sich aber sehr bald als leeres Versprechen herausstellte, denn den Zionisten ging es nur um die eigene ungeteilte Macht in Palästina. Um sie zu erreichen, setzten sie auch – wie es im Kolonialismus und Imperialismus gängige Praxis war – die „Rassifizierung“ als Mittel ein. Das heißt: Man entwickelte und benutzte Methoden, die die Funktion hatten, Unterschiede zwischen Menschen zu klassifizieren und diese Unterschiede zur Rechtfertigung von Machthierarchien zu nutzen. Solche rassistischen Systeme können sich durch Erbanlagen („Blutlinien“ und Abstammung), andere durch sichtbare körperliche Merkmale oder durch die Religion definieren. In Israel sind die entscheidenden Kriterien die „Blutlinie“ und die Abstammung. Nur wer eine jüdische Mutter hat, gilt als Jude.
Israel ist ein siedler-kolonialistischer Staat wie es auch die USA, Australien und Neuseeland waren. Deshalb lassen sich Parallelen in der Entwicklung feststellen. Wie die amerikanischen Siedler sich am Ende des 18. Jahrhunderts gegen den britischen Imperialismus auflehnten und für Freiheit und Selbstbestimmung plädierten, taten es auch die Zionisten in Palästina, indem sie gegen die britische Mandatsmacht dort kämpften. Wie die amerikanischen Siedler kämpften die Zionisten aber nicht für eine universale Freiheit und damit gegen jede Form des Imperialismus, sondern lediglich für ihr eigenes partikular-nationalistisches Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung. Und wie die amerikanischen Siedler diese Rechte nicht der afro-amerikanischen Bevölkerung und den indigenen Indianern zugestehen wollten, verweigerten die Zionisten den Palästinensern die Gleichberechtigung und tun das bis heute. Man lehnte sich also in beiden Fällen gegen Imperialismus auf, hatte aber kein Problem damit, diese Herrschaft über andere auszuüben. Nach den Unabhängigkeitserklärungen in beiden Staaten wäre dies eigentlich unmöglich gewesen, denn dort wurde ausdrücklich die Gleichheit aller Menschen betont, aber die politische Praxis sah eben ganz anders aus.
Die Autorin zieht die Bilanz für die Geschichte der gesamten westlichen Zivilisation, in die Israel als spät-kolonialistischer Siedler-Staat natürlich eingeschlossen ist: „Der politische Nutzen einer rassistischen Hierarchie liegt im Kontext des westlichen Imperialismus auf der Hand: Sie liefert die Rechtfertigung der Herrschaft einer Gruppe über eine andere.“ Und: „Die Unterlegenheit der Unterworfenen galt nunmehr als naturgegeben und unveränderlich.“ Genauso sehen die Zionisten die Palästinenser: Sie können, da sie einen Status als die „Anderen“ und als „Minderwertige“ haben, kein Partner für den Frieden sein. (Amar-Dahl, S. 67) Die Autorin konstatiert, dass der Prozess der Entkolonialisierung noch nicht abgeschlossen sei. Wo postkoloniale Regelungen nach Auslaufen eines Mandats zu tiefen und anhaltenden Spaltungen, Ungerechtigkeiten und Blutvergießen geführt hätten, beständen die inhumanen Zustände weiter. Genau das ist im Apartheidstaat Israel der Fall.
Weil die sogenannte westliche „Wertegemeinschaft“ ihre wesentlichen Grundsätze – Gleichheit, Menschenrechte, sozialer Liberalismus und Toleranz – gar nicht einhält, sondern oft sogar das Gegenteil praktiziert, sieht die Autorin dieses Konzept als gescheitert an – in der ganzen westlichen Welt und damit auch in Israel. Um sich weiterzuentwickeln, muss der Westen – so die Autorin – das überholte und nicht mehr zeitgemäße Narrativ von der westlichen Zivilisation verwerfen und ein neues Narrativ ausarbeiten – eins, das sich vor allem an die historischen Fakten hält. Man darf – wie oben dargestellt – ergänzen (darauf geht die Autorin natürlich nicht ein), dass Israels grausamer Krieg gegen den Gazastreifen nach dem 7. Oktober und die Zustimmung beziehungsweise das Schweigen der westlichen Regierungen, die Thesen der irischen Historikerin vollauf bestätigt haben: Menschenrechte gelten nicht universal, sondern nur dann, wenn sie den eigenen Interessen dienen.
Naoíse Mac Sweeny nimmt es natürlich nicht in Angriff, dieses neue Konzept auch selbst zu entwickeln. Daran müssen ihrer Auffassung nach viele Völker, Staaten und Kulturen arbeiten. Aber sie hat mit ihrer weitreichenden Analyse den Weg aufgezeigt, in welche Richtung sich der Prozess entwickeln muss, beziehungsweise wohin er nicht laufen darf. Das macht ihr Buch so wertvoll, weil es gängige Illusionen zerstört, an die weiter zu glauben nicht nur fahrlässig, sondern politisch auch äußerst gefährlich wäre.
Mac Sweeney, Naoíse: Der Westen. Die neue Geschichte einer alten Idee, Propyläen Verlag Berlin 2023, 34 Euro