Der amerikanisch-jüdische Politologe Norman G. Finkelstein hat vor Jahren Sätze geschrieben, die in der aktuellen Situation der israelischen Militäroperation im Gazastreifen mit Tausenden toten Palästinensern wieder hochaktuell sind: „Die Warnungen vor einem neuen Antisemitismus sind weder neu noch haben sie etwas mit Antisemitismus zu tun. Jedesmal, wenn Israel durch internationalen Druck dazu gebracht werden soll, seine Besatzungspolitik zu beenden, inszenieren diejenigen, die Israel blind gegen jede Kritik verteidigt sehen wollen, eine weitere, bis ins kleinste Detail durchkomponierte Oper, die den Zuschauern medienwirksam die erschrecklichen Ausmaße des weltweiten Antisemitismus vor Augen führen soll. Diese schamlose Ausnutzung von Antisemitismus soll der Kritik an Israel die Berechtigung entziehen und die Juden (und nicht die Palästinenser) als Opfer darstellen.“
Was ja bedeutet: Wenn die israelische Politik mit ihrem brutalen Vorgehen wie jetzt im Gazastreifen (Ministerpräsident Netanjahu: „Wir werden dort nur Trümmer hinterlassen!“) Feindseligkeit gegenüber Juden hervorruft, dann könnte das ja bedeuten, dass Israel selbst für diese Judenfeindschaft und ihr Anwachsen verantwortlich ist, der zionistische Staat also Unrecht tut. Ein Gedanke, der aber gar nicht gedacht werden darf!
Die deutsche Politik tut sich in dieser Hinsicht wieder ganz besonders hervor: Wenn Tausende Menschen und darunter sehr viele Kinder durch das grausame Vorgehen der israelischen Armee im Gazastreifen sterben müssen, darf dagegen in vielen Städten gar nicht, in anderen nur mit sehr scharfen Auflagen demonstriert werden. Kanzler Scholz hat es ja klargestellt: Israel ist ein demokratischer Staat und seine Armee hält sich an das internationale humane Recht.
Eine Regierung, die schweigend und tatenlos geschehen lässt, was im Gazastreifen zurzeit geschieht, verstößt nicht nur gegen das Völkerrecht, sie lädt moralisch schwere Schuld auf sich. Die Schlussfolgerung aus dem Verbrechen des Holocaust zu ziehen, dass nur Juden ein Recht auf Schutz und Sicherheit haben, andere Menschen – in diesem Fall die Palästinenser –zum Abschuss freigegeben werden, spricht jeder Menschlichkeit, die ja eigentlich aus dem Massenmord an den europäischen Juden abgeleitet werden müsste, Hohn.
Bundesjustizminister Buschmann hat sich nun eine besondere Variante des Vorgehens gegen Antisemitismus (was er darunter versteht) ausgedacht: Migranten soll die Einbürgerung verweigert werden, wenn sie sich „antisemitisch“ betätigen. Der CDU-Vorsitzende Merz setzt sogar noch eins drauf und verlangt, dass Migranten ein Bekenntnis zu Israel ablegen sollen, wenn sie hier um Asyl oder Aufenthaltsrecht nachsuchen. Minister Buschmann erfüllt hier eine Forderung, die jüdische Interessengruppen (etwa der Zentralrat) seit langem vorbringen. Denn in ihren Augen sind es vor allem die moslemischen Migranten, die den Antisemitismus ins Land tragen.
Nun ist der hier verwendete Antisemitismus-Begriff schon höchst fraglich, weil er in erster Linie gar nicht die Funktion hat, Juden zu schützen, sondern Israels Politik – so brutal und unmenschlich sie auch ist – vor Kritik zu bewahren. Das ist auch der Inhalt der IHRA-Definition von Antisemitismus, die von israelischen Interessenvertretern maßgeblich formuliert worden ist und von der Bundesregierung vorbehaltlos befürwortet wird.
Es ist also klar, worauf der Gesetzesentwurf des Justizministers abzielt: Migranten jede kritische Äußerung über Israels Politik zu untersagen. Nun sind es aber gerade Migranten oder Flüchtlinge aus dem Nahen Osten (den besetzten palästinensischen Gebieten, Syrien, dem Irak und dem Libanon), deren Schicksal oft eng mit der israelischen Politik verknüpft ist, wenn sie nicht sogar Opfer des Zionismus geworden sind. Sie haben deshalb ein ganz anderes Narrativ, das auf eigenen Erfahrungen beruht. Es versteht sich von selbst, dass diese Sicht nicht mit der deutschen Israel- und Holocaust-Ideologie übereinstimmt.
Das Narrativ der Migranten zu tabuisieren und teilweise sogar unter Strafe zu stellen, ist politisch und rechtlich höchst riskant, denn es ist völlig ungeklärt, wo die Nennung von Fakten und die Äußerung von Meinungen aufhört und Beleidigungen und Hetze anfangen. Zudem ist der Artikel 5 des Grundgesetzes (Meinungs- und Informationsfreiheit) ein zu wichtiges demokratisches Gut, als er für die Interessen einer politischen Gruppe oder eines Staates in Frage gestellt werden könnte. Das Gegenteil wäre rechtstaatlich geboten, die Migranten müssten das Recht und die Freiheit haben, ihr Narrativ öffentlich vorzutragen und es in den deutschen Diskurs einzubringen.
Der renommierte Antisemitismusforscher Wolfgang Benz sieht die größere Gefahr gar nicht im Antisemitismus, dessen Existenz er natürlich nicht bestreitet, sondern viel mehr in der Feindschaft gegenüber Muslimen. Die Islamophobie arbeite mit ganz ähnlichen Argumentationsmustern und Stereotypen wie der Antisemitismus. Gemeinsam sei diesen Vorurteilen die Einteilung in Gut und Böse sowie das Phänomen der Ausgrenzung: „Das Feindbild der Juden wird heute durch das Feindbild der Muslime ersetzt. Wieder geht es um die Ausgrenzung einer Minderheit. Es ist höchste Zeit, die Diskriminierungsmechanismen zu verstehen und schließlich zu verhindern.“
Was die Bundesregierung mit ihrem neuen Einbürgerungsgesetz plant, ist etwas typisch Deutsches und hat einen berüchtigten Vorläufer im 19. Jahrhundert. Kein geringerer als der Komponist Richard Wagner, ein radikaler Antisemit, forderte, dass Juden nur dann in die deutsche Gesellschaft aufgenommen werden sollten, wenn sie ihrem Judentum abschwören, also ihre jüdische Identität aufgeben würden. (Quelle: Wagners Schrift: Das Judenthum in der Musik). Eine Forderung, die sicherlich in weiten Kreisen des deutschen Bürgertums populär war.
Der Gesetzesvorstoß Buschmanns diskriminiert Andersdenkende und grenzt sie aus. Er hat viel Ähnlichkeit mit dem Vorstoß des Bayreuther Komponisten: Die Zuwanderer oder Flüchtlinge aus den muslimischen Ländern, sollen ihr Narrativ, also ihre weltanschaulich-politische Identität aufgeben und die deutsche Israel- bzw. Holocaust-Ideologie annehmen, wenn sie deutsche Bürger werden wollen. Ein politisch höchst zweifelhaftes Unternehmen, das an schlimme deutsche Traditionen anknüpft.