Es scheint für die größte Kunstausstellung der Welt in Deutschland kein anderes Thema zu geben als Israel und Antisemitismus. Die Macher der Ausstellung – die indonesische ruangrupa-Gruppe – haben das offizielle Israel nicht eingeladen. Ist das aber Antisemitismus? Sie haben ein klares Konzept: Das Thema ist „humbung“. Das ist das indonesische Wort für eine gemeinschaftlich genutzte Reisscheune, in der die überschüssige Ernte zum Wohle der Gemeinschaft gelagert wird. Es geht also um eine gemeinsame Lebens- und Arbeitsweise, um Werte wie Kollektivität und Solidarität. Humbung soll die Ungerechtigkeit der herrschenden Systeme aufzeigen und gleichzeitig demonstrieren, dass die Dinge auch anders gelöst werden können: eben durch das Teilen, das in Indonesien eine sehr lange Tradition hat.
Auf der Documenta sollen Organisationen und Institutionen aus der ganzen Welt zusammen humbung praktizieren. Die ruangrupa-Gruppe formuliert ihr Ziel so: „Jedes der humbung-member wird einen Beitrag leisten und verschiedene Ressourcen wie Zeit, Raum, Geld, Wissen, Fürsorge und Kunst teilen und erhalten.“ Wenn humbung also kurzgefasst die Idee von kollektiv zu verteilenden Ressourcen ist und die Kunst Anstöße geben soll, wie eine solche Verteilungsstruktur im Laufe der Zeit global aufgebaut werden kann, erhebt sich die Frage, ob offizielle Vertreter des siedlerkolonialistischen Apartheid- und Besatzungsstaates Israel in eine solche Ausstellung und ihr Konzept passen würden. Wo praktiziert dieser Staat in seinem Herrschaftsbereich Solidarität und Kollektivität gegenüber den Palästinensern? Nein, Israel ist ein Musterbeispiel für Ungleichheit und Ungerechtigkeit gegenüber einem ganzen Volk, das es unterdrückt.
Nun gibt es natürlich auch in Israel kritische und kreative Künstler, die gut in das Konzept von humbung gepasst hätten. Aber die Wächter über den Antisemitismus hätten dann sofort einen Affront, ja einen Angriff auf das offizielle Israel gewittert und auch den Antisemitismus-Vorwurf erhoben. Kritischen israelischen Intellektuellen hat man hierzulande ja schon Säle für ihre Vorträge untersagt und sie als „Antisemiten“ oder „selbsthassende Juden“ denunziert. Der Vorwurf von Micha Brumlik eines neuen McCartyismus in Deutschland ist ja mehr als berechtigt.
Wenn deutsche Politiker und Publizisten anlässlich der Documenta lautstark beklagen, dass Israel von der Ausstellung ausgeschlossen und das Antisemitismus sowie die Leugnung von Israels Existenz sei (Bundespräsident Steinmeier), dann ist das nur ein neuer Beleg für die Antisemitismus-Hysterie, die in Deutschland inzwischen herrscht. Demnächst wird es auch antisemitisch sein, wenn in einer Fußball-Bundesliga-Mannschaft oder in einem Theaterensemble nicht ein Jude oder Israeli vertreten ist.
Die indonesische ruangrupa-Gruppe betrachtet die Welt aus der Perspektive eines Schwellenlandes der Dritten Welt und nicht aus der Sicht der deutschen Israel-Ideologie. Sie hat deshalb vermutlich gute Gründe, warum sie offizielle Vertreter des siedlerkolonialistischen Besatzungsstaates Israel nicht eingeladen hat, auch wenn das nicht laut gesagt wird. Die Indonesier haben lange unter dem niederländischen Kolonialismus gelitten, sie wissen also sehr genau, was Kolonialismus bedeutet. Es kann deshalb nicht verwundern, wenn sie ihre Sympathie nicht den Unterdrückern, sondern den unterdrückten Palästinensern zuwenden.
Dazu kommt etwas Anderes, das in der deutschen Diskussion gar nicht vorkommt: das Verhältnis Israels zur Dritten Welt. Der israelische Sozialwissenschaftler Benjamin Beit-Hallahmi hat es vor Jahren untersucht und kam zu folgendem Ergebnis: Die israelische Politik hat sich nie mit Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt identifizieren können, weil die Begriffe „Befreiung“ und „Selbstbestimmung“ sofort die Ansprüche der Palästinenser in die öffentliche Debatte Israels gebracht hätten und das sollte unter allen Umständen vermieden werden.
Beit-Hallahmi schreibt: „Dem Zionismus waren von Anfang an, insbesondere was den Umgang mit der Dritten Welt betraf, einige unübersehbare und unausweichliche ideologische Festlegungen inhärent. Kernpunkt des zionistischen Programms war die Begründung eines souveränen jüdischen Staatswesens in Palästina durch Besiedlung und Ausübung politischer Herrschaft. Der Zionismus trug damit gleichsam per definitionem die Momente der Vergewaltigung einer eingeborenen Bevölkerung und der Konfrontation mit der Ditten Welt in sich.“
Und an anderer Stelle schreibt Beit-Hallahmi: „Der Gedanke der Befreiung und Selbstbestimmung für die Länder der Dritten Welt stellt für den Zionismus eine existentielle Bedrohung dar. Sogar der Begriff der Menschenrechte ist für das politische System Israels von potientieller Brisanz. Jede ernsthafte Auseinandersetzung mit der israelischen Politik in der Dritten Welt muss unvermeidlich zu einer radikalen Kritik am Zionismus und seinen politischen Zielen führen.“
Und weiter: „Der Zionismus kann sich eine moralische Selbstanalyse nicht leisten. Das Unrecht, das den Palästinensern angetan wird, liegt so klar auf der Hand, dass man, um es nicht zur Kenntnis nehmen zu müssen, das Thema als solches tabuisieren muss. Da aber jede Diskussion darüber, was Israel in der Dritten Welt anstellt, zwangsläufig in der Frage nach den Rechten der Palästinenser münden würde, muss auch die Dritte-Welt-Problematik tabuisiert werden. Man kann nicht über Gleichberechtigung, Freiheit und Selbstbestimmung im Allgemeinen reden, ohne irgendwann auch das Verhältnis zwischen Israelis und Palästinensern an der Elle dieser Ideale zu messen.“
Auch wenn diese Sätze schon einige Jahre zurückliegen, an der Grundkonstellation der zionistischen Politik hat sich in der Zwischenzeit nichts geändert. Beit-Hallahmis Feststellungen erklären auch, warum Israel in der Dritten Welt nie mit den Befreiungsbewegungen, sondern immer mit den brutalsten und korruptesten Diktatoren zusammengearbeitet hat und das auch heute noch tut. Mit humbung hat der Zionismus nichts im Sinn. Aber ist eine solche Kritik antisemitisch?
19.06.2022