Schönheit auf schmalem Grat - der Maler Peter Foeller

Unsere Ordnungen sind nur Inseln im
reißenden Meer des Chaos. Jürgen Kriz

Plora ist ein Dorf am südlichen Rand der Messara-Ebene – da, wo die Berge ansteigen und erst sanft, dann immer schroffer in das Asterousa-Gebirge übergehen, das dann im Süden steil ins Libysche Meer abfällt. In diesem Ort scheint die kretische Welt noch in Ordnung. Beschaulich ziehen sich die Gässchen mit den geduckten Häusern links und rechts der „Hauptstraße“ den Hang hinauf. Naturstein herrscht noch vor. Viele Katen sind frisch geweißt. Auf den Treppenabsätzen stehen in Blechbüchsen – wie es hier üblich ist – bunte Blumen. Alte Frauen, ganz im traditionellen Schwarz, sitzen auf Stühlen vor grell bemalten Holztüren und Fenstern. Uralte Platanen spenden hier und dort Schatten. Der Pope schreitet voller Würde und in wallendem Gewand daher. Ziegen werden durch den Ort getrieben und der Geruch ihrer Pferche sticht überall in die Nase. Schwarze feinmaschige Netze für die Olivenernte sind in den Mauervorsprüngen und unter Dachverhauen gelagert.

Bisweilen ist eine Lücke im Gewirr der niedrigen Häuser. Grob zusammengefügte und vom Wetter bloß gelegte Mauerreste ragen wie Zahnstümpfe empor. Grundrisse, Fenster, Durchgänge – vom wuchernden Wildwuchs fast verdeckt – sind noch zu erkennen. Eidechsen huschen auf dem Boden. Der verbliebene Putz an den Innenwänden mit seinen Flecken und Färbungen ist noch imprägniert vom einstigen Leben und Sterben seiner Bewohner hier. Wohin mögen sie abgewandert sein? Immer geben die Löcher im Mauerwerk faszinierende Blicke frei: auf die kubistisch verschachtelten Strukturen des Dorfes am Hang oder auf die Weiten der Messara-Ebene mit ihrem grünen Olivenbaum-Teppich.

Diese archaische Idylle ist noch ganz echt, denn kaum je verirrt sich ein Tourist hierher, weil Plora außer seiner eigenen Ursprünglichkeit nichts Spektakuläres zu bieten hat – nicht einmal eine Taverne. Würde ich nicht Katina kennen – eine überaus würdige ältere Dame mit strengen, aber schönen Zügen – nirgendwo könnte ich hier einkehren. Auf ihrer von Weinblättern überdachten Terrasse kredenzt sie dann Speisen, wie sie einst im alten Kreta der Bauern und Fischer auf den Tisch kamen. Und einen dunklen schweren Rotwein, der direkt ins Blut geht und einen augenblicklich in eine so berauschte Hochstimmung versetzt, dass dieser weiße Ort mit seinen Cézanne-Formen zwischen Ebene und Bergen zum heroischen Endpunkt all dessen wird, was man je gesucht hat: ein einfaches, überschaubares Leben, das noch nicht den Kontakt mit den Wurzeln des Seins verloren zu haben scheint, eben menschliches Maß besitzt.

Das ist vermutlich auch der Grund, warum der Berliner Maler Peter Foeller sich schon vor etwa zwanzig Jahren hier niedergelassen hat und oben am Hang – gleich hinter einem bäuerlichen Anwesen mit Ziegenpferch – ein altes Haus umgebaut hat. Es muss einmal etwas herrschaftlicher als die anderen Gebäude im Ort gewesen sein. Foeller hat seiner Umgestaltung nicht Protz und Pracht, sondern Einfachheit und Stil hinzugefügt – den erlesenen Geschmack des Künstlers und Ästheten sozusagen. Alles Kretische – darauf hat er akribisch geachtet – ist geblieben, er hat es sogar überall verstärkend hervorgehoben: Natursteinmauerwerk, Balken in den Decken und die Kamine für die kalte Jahreszeit. Die großen Räume sind – alles Überladene und Pompöse meidend – fast leer, nur hier ein Bett mit einfarbiger oder kaum gemusterter Decke, in der Ecke ein Pithos, Licht fällt farbig gebrochen durch ein buntes Glasfenster. Auf den verschiedenen Ebenen laden Bänke oder Sitzgruppen zum Verweilen ein – im Haus oder Garten, je nach dem Stand der Sonne oder der Hitze des Tages. Das Turmzimmer hat nach allen vier Seiten Fenster mit Laden. Wenn man sie öffnet, zieht auch in der Glut des Mittags angenehme windige Kühle hindurch. Nur bei seinem Atelier hat Foeller eine Ausnahme gemacht. Hier hat er Beton hinzugefügt, um einen riesigen Raum für seine Arbeit zu erhalten. Die Bilder, die er zuletzt gemalt hat oder die noch in Arbeit sind, stehen auf Staffeleien oder hängen an der Wand. Alles Werke, die einen faszinierenden Blick in unendliche Welten eröffnen: In diesen Bildern herrscht immer grandios durchgestaltete Gegensätzlichkeit von geometrischer Form und Amorphem, scharf umrissener Kantigkeit und Wolkig-Nebelhaftem vor, von Festigkeit und fließender Zerstäubung, von Starre und äußerster Lebendigkeit. Immer verschachtelt Foeller diese Pole in extremer Dichte, so dass sie sich eng überlagern und für äußerste Spannung und Konzentration sorgen. Seine Farben sind intensiv, manchmal aggressiv, immer aber fein aufeinander abgestimmt und von suggestiver Symbolik. Es siegt in diesen mit größter Konzentration durchgearbeiteten Bildkonstruktionen bei aller Widersetzlichkeit der einzelnen Elemente und vulkanischen Eruptionen das harmonische Prinzip, eben die ästhetische Ordnung, ein oft strenger Bildkosmos von surrealer Fremdartigkeit und Dynamik. Foeller schafft eine Welt von architektonisch anmutenden Phantasien, voll mit zeitlosen Chiffren und Ausblicken in grenzenlose Weiten, geheimnisvoll und zauberhaft. Sein großes Thema, das er immer wieder variiert, ist – ich würde es so formulieren – der Gegensatz von Chaos und Ordnung.

Foeller, ein mittelgroßer trotz seines Alters von Mitte fünfzig noch jungenhafter Typ mit hagerem, scharf geschnittenem Gesicht, wachen, immer leuchtenden neugierigen Augen und einer schwarzen Haartolle über der Stirn hat für uns beide in seinem Atelier eine Flasche Sekt aufgemacht und schenkt mir von dem die Hitze besiegenden edlen kalten Tropfen ein. Mit verschmitzter Freude erzählt er, welche Mühe die Kunstkritiker haben, sein Werk genau einzuordnen. Es entzieht sich offenbar allen vorschnellen Katalogisierungsversuchen, sperrt sich gegen pedantisches Schubladendenken. Ich kann das gut nachempfinden, könnte ich doch auf Anhieb seine Bildersprache auch nicht mit Begriffen beschreiben, so sehr sie mich auch spontan anzieht und begeistert. Wie die meisten Maler mag er das Theoretisieren der Kunsthistoriker nicht. „Jeden Tag erfinde ich neu, wie ich meine Farben mische“, sagt er und weist darauf hin, dass seine Kunst nichts als ein Stück Leben sei, nicht mehr und nicht weniger. Er will eben einfach malen und „seine Arbeit machen“, wie er sie versteht. Die Deutung überlässt er anderen.

Er zeigt mit dem Finger auf die eine Wand seines Ateliers. Ich sehe oben im Betonmauerwerk eine ganze Reihe von eingelassenen Dreieck-Fenstern. Sie rahmen einen kleinen Blick aus der Umgebung seines Hauses ein: einen Ast oder einen Baum mit einem Stück Hügelland im Hintergrund. „Geh mal einen Schritt nach rechts oder links“, sagt Peter, „und schau wieder hin!“ Ich tue es und sehe in dem Dreiecksrahmen nun ein ganz anderes Bild: einen staubigen Weg, der zu einem weißen Haus in der Ferne führt. In dem Dreiecksrahmen daneben sehe ich Dächer von Häusern und eine große Platane. Wenn der Zufall es will, müsste in dem dritten Rahmen gerade ein Hirte mit seiner Schafherde auftauchen. Ein faszinierendes Wechselspiel – Bilder, die sich je nach Standpunkt selbst erstellen. „Mein grandiosestes Bild aber ist dieses“, sagt Foeller und zeigt auf das große Glasfenster seines Ateliers, das eine ganze Wand einnimmt und nach Nordwesten ausgerichtet ist. Ich sehe hinter den grünen Wipfeln seines Gartens wieder die weißen kubistischen Formen von Plora, den grünen Olivenbaum-Teppich der Messara-Ebene, ein paar Dörfer, die daraus hervorragen und dahinter das majestätisch ansteigende Ida-Gebirge. Ein Blick, wie er vermutlich den Göttern schöner auch nicht vom Olymp vergönnt war. „Das gibt mir Kraft“, sagt Foeller und umfährt mit der Hand den weiten Horizont. Ich schaue auf dieses traumhafte Panorama und in mir steigt eine Frage auf: „Was an Foellers abstrakter und universaler Formensprache, die ich auf seinen Bildern hier im Atelier um mich herum sehe, ist eigentlich griechisch oder kretisch?“ Ich spreche meine Frage aus. Er lacht und sagt: „Das weiß ich nicht, darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht.“ Ich kann das fast nicht glauben, denn dieser grandiose Ausblick muss sich doch einfach in der Seele und im Schaffen eines Künstlers von dem Format Peter Foellers niederschlagen. Und die zwanzig Jahre in diesem Dorf und auf dieser alten Kulturinsel – sie müssen doch ihre Spuren hinterlassen haben. „Ich werde dir die griechischen Einflüsse nachweisen“, beharre ich etwas kühn. Er lacht wieder sein erfrischendes und so jungenhaftes Lachen und sagt zustimmend: „Da bin ich aber gespannt!“

Wir stoßen auf mein Vorhaben mit einem kräftigen „Jammas!“ an. Ich weiß natürlich, dass Foellers Bildwelt letzen Endes unausdeutbar ist und dass ich mit meiner Auslegung an Grenzen stoßen werde, genau da – wo das Geheimnis der Seele mit dem Geheimnis der Kunst identisch wird. Aber ich war von dem Gedanken fasziniert, das „Griechische“ in Foellers Werk zu finden.

 

 

Exkurs über Peter Foellers Bild „Atlantis III“:

 

„Atlantis“ ist der Urmythos von Chaos und Ordnung schlechthin – die Erzählung von der Insel mit der großen Kultur, die im Chaos untergehen musste, weil die Atlanter gegen die ewigen Gesetze der Götter, die die Ordnung (den Kosmos) garantieren, verstoßen hatten. Zeus selbst hatte diese Form der Strafe beschlossen und sie in der Versammlung der Olympischen verkündet. So schreibt es der griechische Philosoph Plato (427 - 347 v. Chr.) in seinen beiden Dialogen „Kritias“ und „Thimaios“, der einzigen Quelle, die über Atlantis berichtet. Die Zahl der Deutungs- und Findungsversuche ist bis heute Legion, aber der Mythos hat – bei allen historischen Annäherungsversuchen – sein Rätsel noch nicht preisgegeben. Er bleibt das große Geheimnis, das größte der Antike.

Peter Foeller hat ein Triptychon „Atlantis“ geschaffen, ein Bild von suggestiver mythischer Kraft und Schönheit. Eine fremde, rätselhafte submaritime Welt ist dieses Atlantis. Zersplitterte Reste einer offenbar vor dem Untergang streng geometrisch und logisch-rational gestalteten High-tech-Welt türmen sich da auf dem dunkelblauen Meeresboden – die Bläue gewinnt nach oben an Licht, ja es entsteht nach dorthin eine oszillierende, schwebende Wasser-Transparenz. Zwei riesige Versatzstücke einer merkwürdig verfremdeten, alogischen Architektur ragen vertikal in die Höhe vor einem nur dunkel angedeuteten und am unteren Ende in schraffierter Brechung dargestellten Riesenquader – einer Tür, eines Hochhauses? – in grellem Weiß, Gelb, Grünblau und abgestuftem rostigem Rosa. Wie ein flaches Schwert ohne Raumtiefe das eine Gebilde, plastisch und dreidimensional – bepackt mit trigonometrischen Körpern das andere. Wie ein wuchtiger und gewaltiger Pendelschlag verläuft darunter eine weiße geschwungene Linie, die auch ein riesiger, nur angedeuteter Schiffsrumpf sein könnte. Der Innenraum des Schiffsleibs oder der Pendelschlaglinie ist transparent und gewährt Einblick: Von oben ragen die beiden vertikalen architektonischen Raumkörper hinein in einen Bereich, der zwar äußerlich geometrisch exakt umzirkelt ist, in seiner Fläche aber – blau und grün hingetupft – amorph, wurzelhaft und verschwommen ist. Ein spitzer roter Keil durchschneidet – aus einer weißen spitzwinkligen Treppe kommend – die untere Markierung des Schiffsleibes oder der Pendelschlaglinie und weist bedrohlich in noch dunklere Tiefen – Möglichkeiten andeutend, die man sich lieber nicht vorstellt.

Ein zartblauer Kreis mit einem ebenso bräunlichen runden Mittelpunkt schwebt wie ein Auge im tiefblauen Wasser. Die in schroffe Winkel zerlegte Treppe führt zum linken Bildteil, in den auch die verlängerte Schiffsleib-Pendelschlag-Linie diagonal nach oben hineinragt. Von einem anderen flachen treppenartigen Gebilde mit geringer Raumtiefe, das auf dem Meeresboden aufliegt, steigen dreidimensionale Linien, hinter denen sich Räume in die horizontale Tiefe öffnen, gerade nach oben, wo sie einen sich im Wasser fast auflösenden „Turm“ tragen. Neben diesem „hängt“ ein überschwerer plastischer Winkel mit einer nach unten ragenden runden Säule. Zu beiden Seiten laufen andere – wie im Wasser treibende – Stelen auf den Winkel zu. Weiße Dreiecke weisen in den rechten Teil des Triptychons, wo sich wieder verzerrte architektonische Elemente türmen: Gut erhalten ein trompetenförmiger Turm und ein Stahlquader, aus dem zwei geradlinig abgeschnittene Rohre schräg ins Wasser zeigen. Ein schmales Rohr läuft an einem gelbbraunen Geometrie-Körper entlang nach unten und erzeugt an dessen steiler Spitze durch seinen Strahl kurz über dem fast schwarzen Meeresboden zwei transparent übereinander liegende Pyramiden. Sind das submaritime Blau der Ozeantiefe und der düstere Grund schon Zusammenhalt genug für diese abgesunkene Welt, durchziehen noch große schlangen-körperartige dunkle Wellen – teils in Form von abgezirkelten Schiffskörpern, teils wie Riesenungeheuer des Meeres – den Raum dieses Atlantis und stellen genau wie die ruhig schwimmenden oder munter tanzenden kleinen und großen Dreiecke und Winkel Verbindung und Kommunikation her. Immer wieder öffnen sich winzige Fenster, Öffnungen und Durchbrüche – oft führen Stufen zu ihnen – in die Tiefe des Raumes, in der grelle Helle oder ein Feuer aufleuchten. Einige der trigonometrischen Raumteile sind von intensiver Farbigkeit, als erhielten sie von irgendwoher Licht. Eine Vollmondscheibe scheint matt im etwas leichter blauen Wasserhimmel zu hängen. Es gibt offenbar bei aller Düsternis und Bedrohlichkeit noch Leben und Hoffnung in dieser versunkenen Stadt. Peter Foeller hat diese Bild 1991 gemalt.

 

Durch das große Atelier-Fenster Peter Foellers in Plora schweift der Blick wieder über sein Dorf hinweg auf die weit gestreckte Ebene und das Ida-Gebirge – einen Landstrich, der von Mythen genau so getränkt ist wie der Boden hier vom Blut und den Gebeinen einer endlosen Zahl historischer Geschlechter. Vor allem der „heilige“ Ida, den die Griechen heute Psiloritis nennen, hat in der Theogonie – der mythischen Lehre der Entstehung von Göttern und Menschen einen herausragenden Platz. Aber nicht nur das – die Themen der Urmythen spielen in Foellers Werk auch eine wichtige Rolle.

Am Anfang allen Werdens und Seins steht bei den Griechen das Chaos – die formlose Materie, der ungeordnete Stoff, ein gähnend leerer Raum. Aus diesem Ursein, zu dem auch Tartaros (die Unterwelt) gehört, ging Gaia (die Erde) hervor. Neben ihr erschien als gestaltende Kraft Eros, die im All wirkende Liebe. Die breitbrüstige Gaia zeugte aus sich selbst heraus Uranos, den Himmel, und Pontos, das Meer. Gaia vereinigte sich dann mit ihrem Sohn Uranos. Aus dieser Verbindung gehen als Kinder die zwölf Titanen hervor (das zweite Göttergeschlecht), die eigentlich Naturgewalten sind. Zu den Titanen gehören aber auch Rhea, die große Mutter (die orientalische Kybele), und ihr Bruder und Gemahl Kronos. Dieser entthront seinen Vater Uranos, wobei er den Sohn verfluchend ihm dasselbe Schicksal weissagt. Kronos tritt nun als Führer des zweiten Göttergeschlechts die Weltherrschaft an. Um der Prophezeiung des Vaters zu entgehen, dass auch er von seinem Sohn gestürzt werde, verschlang er gleich nach der Geburt alle Kinder, die er mit Rhea gezeugt hatte.

Nur bei Zeus gelang es Rhea, ihn heimlich auf Kreta zur Welt zu bringen. Sie ließ Kronos statt des Kindes einen in Windeln gewickelten Stein verschlingen. Das Zeuskind verbarg die Mutter dann in der Höhle oberhalb der Nida-Ebene im Ida-Gebirge, das dort zum Greifen nah vor uns liegt. Nymphen erzogen ihn, Bienen nährten ihn mit Honig und Ziegen mit Milch. Wenn er schrie, machten die Kureten (die Priester seiner Mutter) Lärm mit ihren Schilden, damit Kronos das Versteck des Sohnes nicht entdecken konnte.

Als Zeus erwachsen war, machte er zusammen mit einigen Titanen einen Aufstand gegen seinen Vater und stürzte ihn vom Thron. Er zwang Kronos, seine unsterblichen Brüder und Schwestern wieder auszuspeien und besiegte die Giganten (ein Riesengeschlecht), die sich zusammen mit seiner Mutter Rhea gegen ihn aufgelehnt hatten. Nun konnte er die Weltherrschaft der Olympier antreten. Was aber fast noch wichtiger ist: An die Stelle des Chaos, der chaotischen Mächte trat das Prinzip der Ordnung, die Griechen nannten es „Kosmos“. Und vielleicht ist der griechische Mythos – so fremd und fern er uns heute auf der einen Seite anmutet – doch auf der anderen Seite so lebensnah und dauerhaft, weil sich in ihm Menschliches, Monströses, Heldenhaftes, Erniedrigendes, Reines und Erotisches so lebensnah mischen und deshalb immer noch unmittelbar berühren. Und die Menschen brauchen – damals wie heute – einen Schlüssel, einen Leitfaden, der es ermöglicht, sich in und zwischen diesen nebeneinander existierenden Elementen zu orientieren. Dies leistet auf einer frühen Stufe der Mythos, er bringt Ordnung ins Chaos und gibt Sinn.

Aber der Mythos genügte bald nicht mehr zur Erklärung des Weltgeschehens. Die ersten Philosophen – die sogenannten Vorsokratiker – nahmen seine Elemente auf und führten sie fort. Es reichte aber nicht mehr, alles Unerklärliche in Gestalt von Göttern zu bannen, in denen sich menschliche Handlungsmotive – Zorn, Liebe, Eifersucht, Gerechtigkeitssinn, Hilfsbereitschaft und Bosheit – mit übermenschlichen Kräften verbanden. In dem Augenblick, wo der Ursachenzusammenhang oder die mathematische Ordnung einer Naturerscheinung durchschaubar wird, bedarf es zu ihrer Erklärung der Götter nicht mehr. Berechenbare Notwendigkeit und unberechenbares göttliches Wirken sind schwer miteinander vereinbar, ja schließen sich gegenseitig aus.

Die vorklassischen Philosophen stellten als erste die entscheidenden Fragen, die alle mit Chaos und Ordnung zu tun haben. Etwa: Was ist der Urgrund und der Anfang der Dinge? Sie beantworteten sie sehr verschieden. Das Schema ist aber immer gleich: Von einem ungeordneten Uranfang des Alls entwickelt sich durch Ausdifferenzierung eine „Ordnung“. „Das Wasser war am Beginn“, sagte etwa Thales von Milet (624 - 545 v. Chr.), weil es der gestaltlose Stoff ist, der jede Form annehmen kann. „Das Apeiron, das Unendliche, Unbegrenzte und Unbestimmte, das zugleich das Ungeschiedene und Gegensatzlose ist“, sagte Anaximander (610 - 545 v. Chr). „Nein, es ist die Luft“, sagte Anaximines (585 - 525 v. Chr.). Alle Dinge bildeten sich aus ihr durch Verdickung und Verdünnung. Heraklit stellt dann als erster die Frage, warum es zu diesen Prozessen kommt und gibt die Antwort: Im ewigen Kreislauf vollzieht sich das Werden des Urstoffs zur Form. Dieser Bewegung liegt aber als allgemeines Ordnungsprinzip das Gesetz, der Logos (die Vernunft) zu Grunde. Logos ist in sich aber zugleich Einheit und Vielheit, Dauer und Wechsel. Alles Werdende geht im Kampf der Gegensätze aus dem Logos hervor und wird etwas Bestimmtes, Einzelnes. So enthält alles Entstehende in sich schon den Keim des Gegenteils, der es zum Untergang treibt und wiederum anderes hervortreibt. Aber wenn das Widerstrebende sich vereinigt, kann daraus die schönste Harmonie werden.

Diesem Begriff wandte sich dann vor allem Pythagoras aus Samos (570-496 v.Chr.) zu, und er beantwortete die Frage nach dem ordnenden Prinzip in der Beziehung von Stoff und Form in ganz neuer Weise, die auch für die Kunst – bis heute – von großer Bedeutung wurde. Er hatte offenbar den Musikern auf die Finger geschaut und dabei festgestellt, dass das Hervorbringen verschiedener Töne und Tonzusammenstellungen festen Zahlenreihen folgt. Eine Saite bestimmter Länge, Dicke und Spannung gibt stets den gleichen Ton. Wird die Saite genau in der Mitte niedergedrückt und eine Hälfte angezupft, so ist der entstehende Ton höher als der Ton der ganzen Saite. Teilt man die Hälfte noch einmal in der Mitte, also beim Viertel der ursprünglichen Saitenlänge, ist der Ton nochmals um eine Oktave höher.

Daraus ergab sich für Pythagoras und seine Anhänger eine Revolution des Denkens. Denn sie behaupteten, dass die an der Saite erzeugten Zahlenverhältnisse (Intervalle) nicht nur die Grundlagen der Musik, sondern darüber hinaus auch Naturgesetze, also Bestandteile der objektiven Natur seien. Zahlen sind für Pythagoras der „Urstoff“, aus dem alles geworden ist und noch immer besteht. Er glaubte, eine mathematische Ordnung im Naturgeschehen gefunden zu haben, eine für die damalige Zeit ungeheure Entdeckung. Er folgerte daraus: Wenn Zahlen, die zugleich Proportionen und Intervalle sind, der Welt zu Grunde liegen, dann muss das ganze Universum ein aus Maß und Zahl zusammengefügtes harmonisches Ordnungsganzes, ein klingender Kosmos sein. Eine Vorstellung, die nicht nur Plato wieder aufgriff, sondern die sich auch in der Gestalt eines Gottes, des griechischsten aller Götter ausdrückte: in Apoll. Er ordnet das Chaos, bringt das Ungeordnete ins klare Ebenmaß des Taktes und das Gegensätzliche zur Harmonie, die Menschen zur Identität. Er kann das nur, weil die Musik – das reine Symbol der Ordnung und des „richtigen“ Maßes in der Welt – sein ureigenstes Wesen ist. Der Gegensatz zu ihm ist Dionysos, der wilde Gott des Rausches, der Besessenheit und Ekstase und des orgiastischen Ausgelassenseins. Sein Wesen ist ewiger Wandel, sein Symbol deshalb die Maske. Aber beide Gestalten – auch sie Verkörperungen von Chaos und Ordnung – sind nur verschiedene Seiten ein und derselben Wirklichkeit und ein und desselben Menschenbildes, wie es sich die Weisheit der Griechen vorstellte.

Die pythagoreische Gleichsetzung von Proportionen in der Natur und Musik – also der Glaube an eine mathematisch-harmonische Struktur der ganzen Schöpfung – lässt an eine wunderbare Architektur denken, in denen sich die Verhältnisse des Kosmos widerspiegeln. „Warum soll die Architektur, jene Kunst, welche so oft mit Musik verglichen wird, ohne rhythmische, d.h. geometrische Gesetze komponiert werden?“ schrieb ein Anhänger dieser Richtung im 20. Jahrhundert. Ich musste bei diesen Worten an Peter Foellers architektonisch-geometrische Gebilde denken, mit deren kühner Anordnung er versucht, die Kontraste und Dissonanzen in einer neuen höheren Einheit aufzuheben, die reine Musik ist. Würde ein Schüler des Pythagoras sich daran machen, die Proportionen seiner wenn auch verzerrten und gebrochenen Bildarchitekturen zu vermessen, ich bin sicher, es kämen die wunderbarsten Intervalle und Tonfolgen dabei heraus.

Die Begriffe von Chaos und Ordnung haben seit der Antike einen völligen Bedeutungswandel erfahren, aber ihre Aktualität ist eher noch größer geworden – in der Wissenschaft, in der Gesellschaft und in der Kunst. Das Weltbild ist aber auch komplizierter und differenzierter geworden und deshalb unübersichtlicher und unüberschaubarer. Es gibt keine Zusammenschau mehr. Quantenphysik und Relativitätstheorie etwa haben das Bild von der allumfassenden, berechenbaren und vorhersagbaren Ordnung und Harmonie, in deren „Einklang“ die Pythagoreer zu leben anstrebten, relativiert. Die Physiker fragen sich heute, wie es kommt, dass alle physikalischen Elementarprozesse ebenso gut rückwärts wie vorwärts ablaufen könnten, dass daraus aber dennoch eine Welt mit Zeitrichtung entsteht. Ist es auch denkbar, dass ganz am Anfang nicht das Chaos, sondern die Ordnung stand, die im Augenblick des Urknalls ihre höchste Ausprägung gefunden hatte? Die Bildung von Galaxien und Sternen, die Entstehung von Leben und die Menschwerdung wären dann nur der langsamen Zerstörung der Ordnung zuzuschreiben.

Das Chaos – verstanden als der unfassbare und unendlich komplexe Prozess der Weltentwicklung, also von Phänomenen, die man nicht mehr kompakt beschreiben und vorhersagen kann – steht im Mittelpunkt des Interesses ganz neuer Wissenschaftszweige. Ordnungen sind aus heutiger Sicht bestenfalls nur noch kleine Inseln im reißenden Meer des Chaos. Die Prozesshaftigkeit der Welt überfordert das Fassungsvermögen. Denn wenn die Welt gar nicht ist, sondern geschieht, gibt es nichts Festes und Ewiges mehr, auf das Verlass wäre. Heraklit hätte dann Recht gehabt mit seinem Satz: Man kann nie zweimal in denselben Fluss steigen. Der Physiker und Nobelpreisträger Werner Heisenberg hat es immer wieder ausgesprochen, dass seine Wissenschaft das Ziel längst aufgegeben habe, zu einer objektiven, vom Menschen unabhängigen Ordnung dieser Welt vordringen zu können. „Man kann fast nichts klar sagen. Wenn man alles Unklare ausgemerzt hat, bleiben wahrscheinlich nur völlig uninteressante Tautologien übrig“, bekannte Heisenberg.

Und doch gibt es in der Natur Prozesse der Selbstorganisation, in denen Systeme – für eine kosmisch kurze Zeit wenigstens, und das können Jahrtausende sein – die ihnen eigenen Strukturen entfalten, also zu einer Ordnung finden. Natürliche Ordnung und kreatives Chaos ergänzen sich im Wechselspiel. Leben ist immer dem Chaos abgerungen, es ist das Gegenprogramm zum ständig stattfindenden Zerfall. Die Prozesse des Lebens verfolgen also eine „Chaosverhinderungsstrategie“. Der Biologe und Mediziner Friedrich Cramer betont deshalb: „Ordnung, Formenbildung, Schöpferkraft sind das Resultat einer inhärenten Chaosvermeidung, im Kosmos wie auch im Leben des Einzelnen.“ Und er fügt ausdrücklich hinzu, dass dies auch für die Schöpfungen in Kunst und Ästhetik gelte.

Cramer beschreibt das Verhältnis von Ordnung und Chaos, wie es heute in der modernen Naturwissenschaft gesehen wird, so: „Der Naturprozess verläuft nach dem antagonistischen Prinzip von ‚Schwingen’ (normales Pendel, stabile Struktur, Ordnung) und ‚Kippen’ (Doppelpendel, Übersprung zu neuem Chaos). Offenbar ist mit dem Urknall die homogene Totalsymmetrie 'aufgebrochen' worden, aufgebrochen im doppelten Sinne. Sie ist aufgebrochen wie die Schale eines harten Kerns eines Keims; ihre Symmetrie ist zerbrochen, und eine Folge von Symmetriebrüchen quillt nun keimend hervor und ist nach diesem ersten 'Sprung' des Naturprozesses nicht mehr aufzuhalten. Zugleich ist die Natur 'aufgebrochen' wie einer, der sich auf den Weg gemacht hat und der nun Schritt um Schritt in Neuland vorstößt. Die Schritte bilden kein Kontinuum wie die Pendelbewegung einer Uhr, vielmehr ist jeder Schritt ein Kippen, ein 'Wagnis', potentiell ein Chaos-Ordnungs-Übergang: Natur ist Aufbrechen und Aufbruch zugleich.“

Und welchen Platz hat die Schönheit der Kunst in diesem Prozess? „Schönheit, wirkliche Kunst, ist eine 'Flucht nach vorne'; sie entsteht, wenn ein dynamisches System gerade noch vor dem Chaos ausweichen kann; Schönheit ist eine Gratwanderung zwischen Chaos und Ordnung, zwischen Zerfall und Erstarrung.“  Es lassen sich Beispiele nennen: Die große Schönheit der Fraktale aus der Chaosmathematik oder Naturgebilde (Blumen, Schnecken, Muscheln), die in ihren Strukturen alle den Goldenen Schnitt aufweisen, die „göttliche Proportion“, die als musikalische Intervallproportion zwischen der kleinen und großen Sexte liegt.

Rainer Maria Rilke hat in der „Ersten Duineser Elegie“ die Beziehung zwischen Chaos und Ordnung – unter Einbeziehung des Betrachters – in seherischer Weise so beschrieben:

 

                        „...das Schöne ist nichts

                        als des Schrecklichen Anfang, den wir noch gerade ertragen,

                        und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht,

                        uns zu zerstören.“

 

Damit bin ich wieder bei Peter Foeller. Ich kenne keinen Künstler, der den Fragen und Zusammenhängen von Chaos und Ordnung so intensiv Ausdruck gegeben hat wie er. Er tut das in einem ganz existenziellen Sinn, denn seine Bilder sind vermutlich der einzige Weg, wie man das Chaos-Ordnung-Problem, vor dem wir alle stehen, bewältigen kann. Aber es gibt auch objektive Gründe für sein Tun. Denn die Verwandtschaft zwischen Physik, Psychologie und Kunst ist offenbar viel größer als vermutet. Der Physiker Wolfgang Pauli, ebenfalls Nobelpreisträger wie Heisenberg, nahm wie sein Freund der Psychologe und Therapeut C.G.Jung an, dass es Archetypen - seelische Urbilder – gebe, die zur Naturerkenntnis ebenso nötig seien wie zum Hervorbringen von Kunst. 1952 schrieb Pauli an Jung: „Der Vorgang des Verstehens der Natur (...) scheint demnach auf einer Entsprechung, einem zur Deckung-Kommen von präexistenten inneren Bildern der menschlichen Psyche mit äußeren Objekten und ihrem Verhalten zu beruhen. Diese Auffassung der Naturerkenntnis geht bekanntlich auf Plato zurück und wird auch von Kepler in sehr klarer Weise vertreten (...) Diese Urbilder, welche die Seele mit Hilfe eines angeborenen Instinktes wahrnehmen könne, nennt Kepler archetypisch. Die Übereinstimmung mit den von C. G. Jung in die moderne Psychologie eingeführten Archetypen ist eine sehr weitgehende.“ Plato und Kepler waren aber bekennende Pythagoreer, was Pauli zu der Bemerkung veranlasste, auch einen „Zahl-Archetypus“ anzunehmen, „welcher die Anwendung der Mathematik in der Physik letzten Endes ermöglicht. Andererseits hat der gleiche Archetypus eine Beziehung zur Psyche.“ Pauli folgert: „Die moderne Psychologie hat die Aufmerksamkeit wieder auf die vorbewusste, archaische Stufe der Erkenntnis gelenkt. Auf dieser Stufe sind an Stelle von klaren Begriffen Bilder mit starkem emotionalem Gehalt vorhanden, die nicht gedacht, sondern gleichsam malend geschaut werden.“ [Hervorhebungen vom Autor]

In den „Urbildern“ sind also nicht nur die Formen der Natur, die Zahlen und damit die Musik, sondern auch die mythischen und archaischen Bilder aufbewahrt. Der physikalischen, psychischen und der geistig-kognitiven Welt liegen also dieselben formenden Strukturprinzipien zu Grunde. Und damit sind wir wieder mitten in der Bilderwelt Peter Foellers, die ganz „aus den gestaltenden Kräften des menschlichen Geistes und den ungebändigten, emotionalen Trieben der ursprünglichen Natur kommt“, wie ein Kenner und Interpret seines Werkes geschrieben hat. In der Tat: Alles lebt hier vom Gegensatz: Die klar konstruierten geometrischen Architekturen, die aber nie in reiner Form auftreten, sondern immer verzerrt, gebrochen, fragmentiert, überraschend verformt und zersplittert sind, flächige oder plastische Gebilde und Körper von oft surrealer und suggestiver Schönheit. Aber um diese feste und beinahe logische Ordnung brodeln in enger Überlagerung und Verschachtelung andere Kräfte und Energien – vage, diffus, unbestimmt, alogisch, amorph, zerstäubend und fließend scheinen sie die geometrische Klarheit bedrohen und zerstören zu wollen. Aber es kommt nicht dazu, weil die polare Spannung von Statik und Dynamik, Stabilität und Instabilität, Begrenztheit und Unbegrenztheit, Geometrie und lebendiger Urkraft doch immer zum Ausgleich gebracht wird. Diese letzten Endes auf Proportionen beruhende Harmonie des Gegensätzlichen zusammen mit Rhythmus und Dynamik seiner Bildelemente erinnern unwillkürlich an musikalische Kompositionen.

Ist Peter Foeller ein Pythagoreer? Er war sehr überrascht, als ich ihn darauf ansprach. Natürlich wollte er sich darauf nicht festlegen lassen. Und doch bin ich sicher, dass seine Bilder von hoher Musikalität sind. Immer wenn ich ihn in Plora besuche und den Berg zu seinem Haus hinaufsteige, höre ich es schon von weitem aus seinem Atelierfenster heraus „tönen“. Nie arbeitet Foeller ohne Musik im Hintergrund – zumeist hört er Klassik, gregorianische oder byzantinische Gesänge oder auch moderne griechische und kretische Kompositionen. Ich habe ihn nie gefragt, ob er wie Kandinsky glaubt, dass Farbtöne wie Klänge auf den Menschen wirken (er sprach von „Farbklängen“), aber seine Verwendung der Farben legen dies nahe: Das intensive Rot kann Bedrohung, aber auch Verheißung bedeuten, Blau abweisende Kälte, aber auch große emotionale Wärme ausdrücken. Seine virtuose Handhabung des Schwarzen schafft eine fast unausdeutbare Dramatik. Vielleicht haben Foellers Bilder und die großen Werke der Musik eins gemeinsam: die Einheit von Zahlenharmonien und unwägbarem unentschlüsselbarem Geheimnis.

Deshalb stehen diese Bilder mit ihren zeitlosen Chiffren auch dem Mythos nahe. Schon viele Titel verraten es: Atlantis, Phoenix, Minos und Metropolis, aber auch die Symbole Schiff, Kreuz und Vogel. Nietzsches „Wiederkehr des Immergleichen“, die zyklische Wiederholung des Geschehens, ist ein wichtiger Teil von Foellers Sicht der Welt. Mythos, Musik, geometrische Urformen, Chaos und Ordnung sind die Elemente seiner Kunst. Damit ist er nicht nur dem Denken und Fühlen der Griechen sehr nahe, sondern Peter Foellers Botschaft ist ebenfalls eine, die viel Griechisches enthält: Auch wenn unsere vermeintlichen Ordnungen nur Inseln im reißenden Meer des Chaos sind, besteht dennoch kein Anlass zu verzweifeln. Denn es gibt eine Welt mit Harmoniegesetzen, in die der Mensch sinnvoll einbezogen werden kann, wenn er es denn will. Die Griechen wussten um diese Zusammenhänge, die Kenntnis dieser Dinge war ihnen „Heilswissen“ und kein „Herrschaftswissen“ wie uns Heutigen, die wir von den Nutzen bringenden Naturwissenschaften geprägt sind.

Ich habe meine Antwort auf die Frage „was ist an Peter Foellers Bildern griechisch?“ also gefunden. Ich bin gespannt auf seine Ansicht darüber, wenn ich das nächste Mal nach Plora komme. Ob ich ihn überzeugen kann? Vermutlich wird er dann nur sein herzliches jungenhaftes Lachen erklingen lassen und sich über mein „Theoretisieren“ freuen, wo er doch einfach nur schöne Bilder malen will. Ich muss bei der Gelegenheit dann unbedingt mit ihm über etwas anderes sprechen, das ich hier noch gar nicht erwähnt habe: die Einmaligkeit des griechischen Lichts, das schon in der Antike und bis heute immer wieder beschrieben worden, ja besungen worden ist. Nimmt dieses Wunder des griechischen Lichts Einfluss auf seine Farben? Und ich werde ihm dann noch etwas anderes erzählen. Nämlich, dass der große Pythagoras, von dem hier so viel die Rede war, sich direkt in dieser kretischen Gegend herumgetrieben hat. Es ist belegt, dass er zur Zeus-Höhle im Ida-Gebirge gepilgert ist, um dort drei Mal neun Tage – in die Wolle eines Widders gehüllt – zu schlafen. Es war der rituelle Vollzug eines mystischen Todes, um wiedergeboren und wissend zu werden. Durch die symbolische Rückkehr in die Höhle des Mutterschoßes wollte der Pilger hier als Gewandelter in eine neue Seinsform gelangen. Den Ort des Geschehens kann man von Peter Foellers Atelierfenster mit einem Fernglas beinahe sehen.

Als ich ihn das letzte Mal – es war im Sommer 2001 – in Plora besuchte, zeigte er mir eine Serie kleiner Formate, die er gerade fertiggestellt hatte. Bei ihnen überwog – und das war überraschend – das Amorphe, Gestaltlose und Ungeordnete. Geometrie gab es kaum noch. Die Farben explodierten geradezu. Dionysos hatte Apoll den Rang abgelaufen. Als er mein Erstaunen bemerkte, lachte er: „Du reagierst so, wie meine Freunde und Galeristen in Deutschland die Bilder aufnehmen werden, die sie noch gar nicht kennen. Sie werden sagen: 'Das ist doch gar kein Foeller mehr!'“ Und fügte hinzu: „Die werden sich noch wundern, was ich jetzt alles zulassen kann!“ Er freute sich diebisch, dass er allen ein Schnippchen schlagen wird – und vor allem darüber, dass es künstlerisch weitergeht, in eine Richtung, die er selbst noch gar nicht beschreiben kann. Auf jeden Fall, da bin ich ganz sicher, wird sein Werk auch in Zukunft sehr „griechisch“ sein.

Ich muss noch einmal Friedrich Cramer zitieren, denn dieser Naturwissenschaftler hat wie kaum ein anderer über den Zusammenhang der Vorgänge von Natur und künstlerischem Schaffen geschrieben. Und jeder Satz ist wie auf Peter Foeller gemünzt: „Schönheit ist offenbar am ergreifendsten, am deutlichsten dort, wo sie an die Grenze zum Chaos vorstößt, wo sie ihre Ordnung freiwillig aufs Spiel setzt. Schönheit ist immer eine schmale  Gratwanderung zwischen dem Risiko zweier Abstürze: auf der einen Seite die Auflösung aller Ordnung im Chaos, auf der anderen die Erstarrung in Symmetrie und Ordnung. Nur auf diesem gefährlichem Grat entsteht Schönheit, wird sie Gestalt.“ Und Friedrich Cramer erläutert diese Sätze mit einem Beispiel aus Kreta! Er schreibt: „El Greco, der Flüchtling aus Kreta nach der türkischen Eroberung und ganz der erstarrten byzantinischen Ikonenmalerei verpflichtet, hat unter dem Eindruck seiner neuen Heimat Spanien die Formen in unerhörter Weise gesprengt. Ich denke da an das Bild 'Gewitter über Toledo'. Eine Explosion an Farben und Formen, aber gerade noch vor dem Chaos zurückschreckend.“
Ist es ein Zufall, dass der Neu-Kreter Peter Foeller den Kreter el Greco über alles liebt?