Bremer Literaturpreis: Ein Skandal, der bis heute in der Hansestadt nicht wahrgenommen worden ist

Der NS-Propagandist Erhart Kästner hielt 1958 die Laudatio für den jüdischen Dichter und Holocaust-Überlebenden Paul Celan

Bremen ist keine Stadt der Musen, auch wenn oft das Gegenteil behauptet wird. Es herrscht nüchterner Geschäftsgeist vor. Literarisch ist die Hansestadt eher ein Ödland. Mit bedeutenden Autoren kann sie nicht aufwarten. Was sich hier in Sachen Literatur ereignet hat, ist schnell aufgezählt. Der Romantiker Wilhelm Hauff (1802-1827) besuchte 1826 die Hansestadt und wurde nach einem durchzechten Abend im Kellerlokal des Rathauses zu seinen Träumereien in Bremer Ratskeller angeregt. Heinrich Heine (1897-1856) kam zwei Mal auf der Durchreise nach Bremen, kehrte auch im Ratskeller ein und besang da berühmte Weinlokal mit den Versen: „Glücklich der Mann, der den Hafen erreicht hat, und hinter sich ließ das Meer und die Stürme, und jetzo warm und ruhig sitzt im Ratskeller zu Bremen…“ Goethe weilte zwar nie in der Stadt, ließ sich aber vom Ratskeller mit Wein beliefern.

Das 20. Jahrhundert ist auch arm an literarischen Ereignissen. Der große amerikanische Epiker Thomas Wolfe (1900-1938) weilte 1935 und 1936 auch in der Stadt (er war in Bremerhaven mit dem Schiff angekommen), hat aber nichts Schriftliches über seine Eindrücke hinterlassen, obwohl er Deutschland sehr liebte und viele Stationen seiner Reisen hier ausführlich beschrieben hat. Erwähnt werden muss aber, dass einer der ganz Großen des Literaturbetriebes aus der Hansestadt stammte: der Verleger Ernst Rowohlt (1887-1960). Er blieb seiner Vaterstadt auch immer verbunden und suchte, wenn er hier weilte mit seinen Autoren auch immer den Ratskeller auf – wie 1962 mit Henry Miller.

Mit der Stadt eng verbunden war auch der Schriftsteller Friedo Lampe (1899-1945), dessen Romane zumeist in Bremen spielen und der im Verlag von Ernst Rowohlt als Lektor arbeitete. Peter Weiss (1916-1982) verbrachte einige Jahre seiner Kindheit in der Stadt. In Bremen und Worpswede lebte und arbeitete auch der Schriftsteller Manfred Hausmann (1898-1986), ein sehr erfolgreicher Autor, der aber später wegen seiner Nähe zum NS-Regime in die Kritik geriet.

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Vielleicht sollte es eine Kompensation für die mangelnde Präsenz der Dichter in der Stadt sein, dass der Bremer Senat zu Beginn der 1950er Jahre einen der bedeutendsten Preise für Autoren der Bundesrepublik ins Leben rief: den Bremer Literaturpreis. Er wurde erstmals 1954 vom Senat vergeben. Schon sechs Jahre nach der Erstverleihung gab es einen handfesten Skandal um diesen Preis. Die Jury hatte als Preisträger Günter Grass (1927-2015) für seinen Roman Die Blechtrommel vorgeschlagen. Der Bremer Senat sprach sich aber gegen das Werk aus, besonders die sozialdemokratische Senatorin Annemarie Mevissen (1914-2006) machte sich für die Ablehnung stark, weil der Roman „pornographisch“ sei. Es hat lange gedauert, bis Grass der Bremer politischen Führung diese völlige Fehleinschätzung seines Buches verziehen hat. Aufgrund dieser Querelen wurde die Preisverleihung für ein Jahr ausgesetzt. Ab 1962 übernahm die vom Senat unabhängige Rudolf Alexander Schröder-Stiftung die Vergabe der Auszeichnung, die seit 1977 auch mit der Verleihung eines Förderpreises verbunden ist.

Es gab noch einen anderen Skandal, der eine Preisverleihung betraf, im eher konservativen Bremen aber gar nicht registriert worden ist, ob mit Absicht oder versehentlich mag dahingestellt sein. Er betraf die Preisvergabe an den Lyriker Paul Celan (1920-1970). Dieser Skandal hat eine Vorgeschichte, die weitgehend bekannt ist, zum besseren Verständnis des Sachverhalts aber hier angeführt werden muss. Von 1953 bis 1958 war der Bremer Schriftsteller, Architekt und Designer Rudolf Alexander Schröder (1878-1962) Vorsitzender der Jury für den Literaturpreis der Stadt Bremen. Er hatte sich als Dichter weit über seine Vaterstadt hinaus einen Namen gemacht, er war Mitbegründer der Zeitschrift Die Insel, aus der dann der Insel-Verlag hervorgegangen ist.

Aus heutiger Sicht stellt sich das Lebens- und Schaffensbild dieses Autors sehr „ambivalent“ dar. Als erster hat der Bremer Kunsthistoriker Kai Artinger auf diesen Tatbestand hingewiesen. Denn Schröder soll dem NS-Regime ferngestanden haben, ja er soll ein entschiedener Gegner des Hitlerstaates gewesen sein und schon frühzeitig vor ihm gewarnt haben, so behaupten seine Verteidiger. Aus diesem Grund habe er sich in der NS-Zeit auch in die oberbayrischen Berge zurückgezogen, er habe dort sozusagen in der „inneren Emigration“ gelebt und in „wirrer Zeit die erschütterten Grundlagen abendländischer Kultur verteidigt.“ Schröder galt als Vertreter einer humanistischen Tradition, die sich mit protestantischer Gläubigkeit verband, weshalb er auch der Bekennenden Kirche angehört habe.

Als Zweifel an der Rolle des Dichters im „Dritten Reich“ immer lauter geäußert wurden, gab die Schröder-Stiftung ein Gutachten in Auftrag, das Klarheit über die Vita des Bremer Autors herstellen sollte. Die Ergebnisse des Forschungsauftrages wurden 2010 veröffentlicht und ergaben zusammen mit Recherchen unabhängig von der Stiftung arbeitender Wissenschaftler folgendes Bild: Schröder kann wohl kaum in der NS-Zeit ein „unerwünschter Autor“ gewesen sein (eine Klassifizierung, die sich offenbar nur auf seine Wertschätzung Thomas Manns bezog), denn er fungierte in Bremen als Ortsgruppenleiter des Reichsverbandes Deutscher Schriftsteller, was ihm entscheidenden Einfluss auf die Literaturentwicklung in der Hansestadt sicherte. Außerdem setzte eine solche Funktion auch die Mitgliedschaft in der Reichsschrifttumskammer voraus, der von Propagandaminister Josef Goebbels ins Leben gerufenen Institution, die über die „Reinheit“ des deutschen Schrifttums wachte.

Zuvor hatte Schröder dem Kampfbund für deutsche Kultur angehört, ein völkisch gesinnter, antisemitisch ausgerichteter politisch tätiger Verein in der Zeit der Weimarer Republik und des NS-Regimes, der ursprünglich Nationalsozialistische Gesellschaft für deutsche Kultur (NGDK) hieß und vom Chefideologen der NSDAP, Alfred Rosenberg, gegründet worden war. Sein Ziel war es, gegen den „Kulturverfall“ und den „Kulturbolschewismus“ der Weimarer Republik (auch „Verfallszeit“ genannt) vorzugehen und die „Wiedergeburt“ der deutschen Kultur im Sinne des Nationalsozialismus zu unterstützen. Regelmäßig nahm Schröder auch an den Lippoldsberger Dichtertagen von Hans Grimm teil, einem NS-Apologeten und Antisemiten, der den Bestseller Volk ohne Raum verfasst hatte. Zu diesem weltanschaulichen Hintergrund passte es auch, dass Schröder den Gehorsam als „naturgegebene, einzig tragfähige Brücke“ zum Führer bezeichnet hatte.

Dazu kam, dass Schröders Texte, die er 1914 ganz im deutsch-nationalen-patriotischen Sinne verfasst hatte, in der NS-Zeit ausgesprochen populär waren. Sein Gedicht Deutscher Schwur war fester Bestandteil jedes Fahnenappells der HJ und wurde die zentrale Hymne dieser Jugendorganisation und der SA. In seinem Text Das Banner fliegt, die Trommel ruft musste nur das Wort Kaiser durch Führer ersetzt werden, um zu einer der verbreitetsten NS-Hymnen zu avancieren. Sie war im Liederbuch der SS sowie in der Lied-Sammlung der Wehrmacht vertreten. Zu Schröders Entschuldigung muss aber angemerkt werden, dass nicht er selbst das Wort Kaiser durch Führer ersetzt hatte, sondern der Komponist Heinrich Spitta. Aber der Text war eben so stramm autoritär formuliert, dass er diesen Worttausch hergab.

Schröder hatte auch keine Skrupel, 1938 die ihm als erstem Preisträger vom Bremer Senat verliehene Plakette für Kunst und Wissenschaft vom damaligen Bürgermeister Johann Heinrich Adolph Böhmcker, einem berüchtigten SA-Schläger, anzunehmen. Es gibt ein Foto von dieser Preisübergabe, das die beiden Männer in gutem Einvernehmen zeigt. Kai Artinger schreibt über dieses Foto: „Betrachtet man die beiden einander herzlich die Hände schüttelnden Männer, erhebt sich unmittelbar die Frage, ob ein ‚innerer Emigrant‘ und/oder ‚Warner‘ in dunkler Zeit so auftritt. Der Dichter schlug die ihm dargereichte Hand nicht aus, wie hätte er auch, da er ja den Preis annahm. Er hatte sich dafür sogar auf die lange Reise aus den oberbayrischen Bergen in die norddeutsche Tiefebene gemacht. Einer, der sich wirklich von der brutalen Wirklichkeit des Regimes abwendete, hätte sich kaum gegen seine Überzeugung einem solchen Akt der Zustimmung ausgesetzt. Auch wäre er den Nationalsozialisten, wenn er als ‚Warner‘ öffentlich in Erscheinung getreten wäre, kaum als preiswürdiger Kandidat in den Sinn gekommen.“

Nach diesem „Warner“ heißt heute noch die Stiftung, die den Bremer Literaturpreis vergibt. Im Jahr 1958 erhielt der aus der rumänischen Bukowina stammende aber in deutscher Sprache schreibende jüdische Lyriker Paul Celan vom Bremer Senat diese Auszeichnung. Über diesen Kandidaten hatte es in der Jury aber eine handfeste Auseinandersetzung gegeben, denn so heißt es, die in Schröders Ägide vorgenommenen Preisvergaben bevorzugten Autoren der „Inneren Emigration“, Schriftsteller des Exils waren dagegen eher chancenlos. Man kann aber mit guten Gründen bezweifeln, ob Hermann Schmidt-Barrien (1954) und Ernst Jünger (1956) Autoren der „inneren Emigration“ waren. Es dauerte insgesamt drei Jahre, bis sich in der Jury eine Mehrheit für Celan fand. Es ist überliefert, dass Schröder sich vom „Schreck über die mir zugemutete Wahl“ Celans kaum zu erholen vermochte.

Schröder hatte also lange versucht, die Auszeichnung Celans zu verhindern. Außerdem war er wenig davon angetan, dass sie – als sie dann doch stattfand – ausgerechnet mit der Feier seines 80. Geburtstages zusammenfiel. Spielte bei dem Widerstand Schröders vielleicht auch eine Rolle, dass Celan Jude und Holocaust-Überlebender war? Denn er hatte in einem KZ gesessen und seine Eltern waren von den Nazis umgebracht worden. Dieser Antisemitismus-Verdacht ist natürlich nicht belegt und reine Spekulation, nach dem Wirken Schröders im „Dritten Reich“ aber keineswegs undenkbar.

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Denn mehr als merkwürdig ist die Wahl des Laudators, der für Celan die Festrede halten sollte: der NS-Autor Erhart Kästner! Und das ist der Skandal, von dem hier die Rede sein soll. Denn Kästner, der ursprünglich Bibliothekar war, trat 1939 in die NSDAP ein und meldete sich im selben Jahr bei Kriegsbeginn sofort freiwillig für den Eintritt in die Wehrmacht. Da er behauptete, über (wenn auch geringe) Kenntnisse des Neugriechischen zu verfügen, wurde er 1941 ins von den deutschen Truppen besetzte Griechenland versetzt, erst nach Thessaloniki, dann nach Athen.

Dort tat Kästner Dienst in der Psychologischen Eignungsprüfungsstelle für Luftwaffensoldaten und Piloten. Da ihn diese Tätigkeit nicht allzu sehr in Anspruch nahm, hatte er Zeit, sich die eindrucksvollen Schönheiten dieses Landes anzusehen, und daraus entstand die Idee, Bücher über Hellas zu schreiben, die den dort stationierten deutschen Soldaten das Land erklären sollten. Kästner stellte beim zuständigen General den Antrag auf Freistellung, der auch genehmigt wurde.

So konnte Kästner auf Kosten und mit Hilfe der Wehrmacht das besetzte Land und die Inseln bereisen und drei Bücher schreiben: Griechenland. Ein Buch aus dem Kriege (1942), Kreta (1946) sowie das spätere Werk Griechische Inseln (1975). Besonders die beiden ersten Bücher waren reine Propagandatexte. Das Griechenland-Buch wurde an die deutschen Soldaten in Hellas verteilt, das Kreta-Buch kam allerdings erst heraus, als der Krieg schon beendet war. Griechenland fand die allerhöchste Anerkennung beim Oberkommando der Wehrmacht, es wurde als „herrlich“ beurteilt. Kästner selbst schrieb stolz: „Bis ins Führerhauptquartier ging es [das Buch]. Es ist gut beurteilt worden.“

Kästner bejahte in seinen Texten die deutsche Eroberung Griechenlands vorbehaltlos, da es sich im Grunde um eine „Heimkehr“ der germanischen Deutschen „in die alte Heimat“ handelte. Denn nordische Einwanderer hätten einst das Land besiedelt und die antike griechische Hochkultur begründet. Reinrassige Griechen wie zur Zeit des Perikles, Platon und Aristoteles gab es aber nach Ansicht des Autors in Hellas nicht mehr, weil deren nordisches Blut längst von slawischem und albanischem Blut überlagert bzw. verdrängt worden war. Kästner suchte deshalb die Hirten in den Bergen auf, weil die in ihrer Abgeschiedenheit noch das „reine“ Blut bewahrt hätten. Er vertrat in seinen Büchern also exakt das rassenbiologische Geschichtsmodell der Nazis, bettete es aber immer wieder in ein mythisch-hellenisches Umfeld ein.

Ein Beispiel. Als Kästner 1941 mit der Bahn von Thessaloniki nach Athen unterwegs war, musste am Fuße des Olymp auf der eingleisigen Strecke ein Gegenzug halten. Er beschreibt diese Begegnung so: „An dieser Stelle unserer Fahrt begegneten wir einem Zug, der nordwärts fuhr und auf einer Ausweichstelle der eingleisigen Strecke unser wartete. Es waren Männer von Kreta, die von dort kamen und nun einem neuen Ziel und einem neuen Kampf entgegengingen. Unser Zug schob sich langsam an der nachbarlichen Wagenreihe entlang. Auf den offenen flachen Eisenbahnwagen standen fest vertäut die Geschütze, die Kraftwagen und die Räder, von Staub überpudert und deutlicher von den überstandenen Strapazen redend als die Männer. Darauf und dazwischen saßen, standen und lagen gleichmütig die Helden des Kampfes, prachtvolle Gestalten. Sie trugen alle nur die kurze Hose, manche den Tropenhelm, und blinzelten durch ihre Sonnenbrillen in den hellen Morgen. Ihre Körper waren von der griechischen Sonne kupferbraun gebrannt, ihre Haare weißblond.

Da waren sie, die ‚blonden Achaier’ Homers, die Helden der Ilias. Wie jene stammten sie aus dem Norden, wie jene waren sie groß, hell, jung, ein Geschlecht prahlend in der Pracht seiner Glieder. Alle waren sie da, der junge Antenor, der massige Ajax, der geschmeidige Diomedes, selbst der strahlende, blondlockige Achill. Wie anders denn sollten jene ausgesehen haben als diese hier, die gelassen ihr Heldentum trugen und ruhig und kameradschaftlich, als wäre es weiter nichts gewesen, von den Kämpfen auf Kreta erzählten, die wohl viel heldenhafter, viel kühner und viel bitterer waren als alle Kämpfe um Troja. Wer auf Erden hätte jemals mehr Recht gehabt, sich mit jenen zu vergleichen als die hier – die nicht daran dachten. Sie kamen vom schwersten Siege, und neuen, unbekannten Taten fuhren sie entgegen. Keiner von ihnen, der nicht den Kameraden, den Freund da drunten gelassen hätte. Um jeden von ihnen schwebte der Flügelschlag des Schicksals. Es wehte homerische Luft.“

Getreu der NS-Rassenideologie, der Kästner anhing, waren die antiken Griechen, die ja Abkömmlinge germanischer Nordvölker gewesen sein sollen, Menschen von „höherem Geleucht, rein, sauber und klar: die weißen Götter“. Für die modernen Griechen hatte er nur Verachtung übrig, er diffamiert sie als „Affengesichter“, „Levantiner“, „schwarzen Pöbel“ und „Lemuren“ (eine Halbaffenart auf Madagaskar). Dem griechischen Volk bescheinigte er „Verfall, Tod und Verwesung im Geblüt.“ Die Kreter sind für ihn Menschen, die nichts dabei finden zu stehlen, zu rauben und zu töten. Den griechischen und kretischen Widerstand, der gegen die deutschen Besatzer für die Befreiung des Landes kämpfte, bezeichnete er abfällig als „rote Banden“. Der deutsche Historiker Hagen Fleischer hat Kästner einen „Arno Breker der Feder“ genannt.

Am Ende des Krieges geriet Kästner auf Rhodos in britische Gefangenschaft und musste zwei Jahre in einem Lager im ägyptischen Tumilat in der Nähe von Port Said verbringen. Über diese Zeit hat er später das Zeltbuch von Tumilat geschrieben. Er hatte in dem Lager viel Muße, da er nicht arbeiten musste. Kästner reflektiert in diesem Buch über Gott und die Welt. Über seine Zeit in Griechenland als NS-Propagandist und die Schrecken der deutschen Besatzung dort verliert er kein Wort.

Als er wieder in Deutschland war, musste er nach Dachau fahren, um dort seine Entlassungspapiere von den Amerikanern zu bekommen. Dem Namen dieser Stadt haftet bis heute das Grauen seiner Geschichte an. Dachau war die erste Todesfabrik der Nazis, von hier aus baute Heinrich Himmler das Netzwerk der Vernichtungslager auf, über 40 000 Häftlinge starben in dieser Hölle. Kästner beschreibt ganz nüchtern seine Registrierung bei den Amerikanern dort, die Schrecken dieses Ortes, die noch so kurz zurücklagen, erwähnt er mit keinem Satz, obwohl er sonst in seinen Texten in historischen Assoziationen nur so schwelgt.

Empathie war Kästners Sache nicht. Nach dem Krieg hat er kein Wort der Entschuldigung für seine furchtbaren Texte gesagt oder geschrieben. Ganz im Gegenteil, er hat die „braunen“ Stellen in seinen Büchern gestrichen, sie verharmlosend umgeschrieben. Die Passage mit den deutschen Soldaten auf dem Zug am Olymp lautete in seinem korrigierten, neuen Griechenlandtext Ölberge. Weinberge. Ein Griechenlandbuch nun: „An einer Ausweichstelle der eingleisigen Strecke wartete ein entgegenkommender Zug. Unsere Wagenreihe schob sich langsam an der anderen entlang. Es waren Fallschirmjäger von Kreta und eine Flakbatterie; auf den flachen Eisenbahnwagen standen vertäut die Geschütze, überpudert von Staub, darauf und dazwischen standen und saßen die Kämpfer, kurze Hose, Sonnenbrille und Tropenhelm. Ihre Körper waren in den wenigen Tagen kupfern gebrannt, ihre Haare weißblond.

Da die griechischen Bahnen eine Leidenschaft für Aufenthalte besitzen, entstand eine Rast. Man kam von Zug zu Zug ins Gespräch. Bald aber kletterten einzelne, dann mehrere von den Wagen herunter, rannten über die Kieselfläche zum Ufer hinab und in die aufsprühende Salzflut hinein. Und was sich in der nördlichen Heimat keiner hätte einfallen lassen, alle verschmähten das Abzeichen neuzeitlicher Körperscham, die Badehose zu tragen. In junger Nacktheit tummelte sich am Fuß des Olympos die landfremde Schar, und unversehens wehte homerische Luft. Mit Ahnungslosen malte die Landschaft sich ein Erinnerungsbild.“ Nun waren aus den kühnen Helden von Kreta, den „prachtvollen blonden Achaiern Homers“, auf einmal „Ahnungslose“ geworden.

 

Kästner gab seine um die „braunen“ Passagen gereinigten Bücher nach 1945 neu heraus – im Insel-Verlag, den der Bremer Rudolf Alexander Schröder mitbegründet hatte! Hier spielten wohl alte Beziehungen eine Rolle. So mancher Griechenlandliebhaber ist mit Kästners Werken noch durch Hellas gewandert, ohne zu wissen, was er da in der Hand hatte. Und nun sollte dieser NS-Autor, der inzwischen ein angesehener und renommierter Direktor der Lessing-Bibliothek in Wolfenbüttel war, im Januar 1958 die Laudatio für den dem Holocaust gerade noch entkommenen jüdischen Lyriker Paul Celan halten. War es ein Zufall, dass Rudolf Alexander Schröder gerade Erhart Kästner als Laudator ausgewählt hatte? Da hatte offenbar jede Sensibilität dafür gefehlt, dass man einen jüdischen Dichter und Holocaust-Überlebenden nicht mit einem Propagandisten der NS-Rassenideologie als Festredner zusammenbringen konnte.

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Paul Celans Gedichte sind keine einfache Lektüre. Kenner seines Werkes haben sie als „hermetisch“, „kryptisch“ und „verschlüsselt“, also als schwer zugänglich bezeichnet. Die autobiographischen Spuren – der Mord an seinen Eltern im Holocaust, seine eigene Leidenszeit in einem NS-Lager – sind in seinen Versen nicht leicht zu entdecken, sieht man von dem Gedicht Todesfuge ab, in dem er beschreibt, wie die dem Tod in einem Lager Überantworteten ihre eigene Ermordung durch Musik und Tanz als Kunstwerk inszenieren mussten. In diesem Gedicht fällt dann auch das berühmte Wort vom „Tod als Meister in Deutschland“. Aber Celan bekannte: „Ich habe nie eine Zeile geschrieben, die nicht mit meiner Existenz zu tun hatte.“ Mit anderen Worten: Allen seinen Gedichten ist die persönliche Erfahrung des Holocaust eingeschrieben.

Es stellt sich die Frage, wie sich die Dunkelheit, Fremdheit und Abgeschlossenheit („Verriegelung“) seiner Sprache erklären lässt, wenn sie doch einen so konkreten Ausgangspunkt – eben den Massenmord an den Juden – hat. Der Germanist Wolfgang Emmerich hat den Schlüssel zu diesem Rätsel gefunden. Die deutsche Sprache, schreibt er, war seine geliebte Mutter-Sprache [Hervorhebung von A.Str.], nur in ihr konnte er schreiben, aber sie war zugleich die Sprache der Juden-Mörder, vor allem aber auch die Sprache seiner Mutter, an der er sehr hing. So war er von den deutsch sprechenden Lesern (und sie waren seine Hauptleserschaft) durch eine tiefe Kluft getrennt.

Emmerich schreibt: „Also musste diese Kluft auch sprachlich markiert werden, in jedem Gedicht wieder neu, und zumal als Barriere für ein vereinnahmendes, ‚unmittelbares‘ Verstehen, das dem (meistens durchaus gutwilligen Leser) am Ende sogar die Illusion bescheren konnte, er habe sich mittels des verstandenen Gedichts mit den Opfern versöhnt, mitleidend identifiziert. Demgegenüber ist hartnäckig daran festzuhalten, dass der Leser Celanscher Gedichte ihnen nur dann gerecht wird, wenn er ihre Fremdheit respektiert.“

An anderer Stelle führt Emmerich diese Gedanken weiter aus: „Mit der Ermordung der Eltern war die so geliebte Mutter-Sprache (im wörtlichen Sinne) zur Mördersprache geworden, und es gab nicht nur einen Mörder, sondern ein ganzes Volk potentieller Mörder, das die deutsche Sprache sprach und dem sie, bei seiner Meisterschaft im Töten, als nützliches Werkzeug diente. War es dann noch erlaubt, sich als Jude dieser Sprache zu bedienen als Medium der Poesie? So fragt sich der Autor am Ende des vermutlich 1944 entstandenen Gedichts Nähe der Gräber, das schon eingangs die Mutter explizit anspricht: ‚Und duldest du, Mutter, wie einst, ach, daheim/den leisen, den deutschen, den schmerzlichen Reim?‘“

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Als Paul Celan am 26. Januar 1958 im Rathaus der Hansestadt den Bremer Literaturpreis entgegennahm, kam nichts von dem hier Geschilderten zur Sprache. Erhart Kästner erging sich in Allgemeinplätzen über Poesie, blendete die jüngste Geschichte vollständig aus, sprach die „Verschlüsselung und Verrätselung“ von Celans Sprache an und meinte aber dennoch einen Zugang zu ihr zu haben, weil da, wo „Verschlüsselung“ sei, auch „Aufschluss“ sei, wo „Rätsel“ sei, da sei auch „Rat“. Das hinge schon sprachlich zusammen. Kästner bestätigt Celans Gedichten „Liebeskraft, Leidenschaft, also Lebenskraft, das ist es.“ Und dann sieht der Laudator im lyrischen Werk Celans auch „Lebenskampf“: „Gedicht das ist Kampf um eine Wirklichkeit, um die Gewinnung von Wirklichkeit: jedes Gedicht eine Breite gewonnener Heimat, jedes Gedicht eine Hufe zurückgewonnenen Lands, jeder Satz, der diesen Namen verdient, eine erschlossene, wiedererschlossene Fremde. Wirklichkeit, in der wirklich und eigentlich gelebt werden kann, wird einzig auf solche Weise erstritten.“

Diese Worte, die ein eher hohles Wortgeklingel sind, sagt Erhart Kästner einem Mann, der – traumatisiert von der Schreckensgeschichte des Jahrhunderts und der eigenen Biographie – nie „Heimat“ und „Land“ gefunden hat, sondern am 19. oder 20. April 1979 am Pont Mirabeau in Paris in die Seine ging, um seinen Leben ein Ende zu setzen. Wolfgang Emmerich, vielleicht der beste Kenner seines Werkes, vermutet als Grund für diesen Schritt: „Schon sehr früh, von 1943 an, ist Celans Gedichten die Sehnsucht des Autor-Ichs eingeschrieben, sich mit der toten Mutter, mit allen unschuldig Gemordeten zu vereinigen. Viele seiner Gedichte imaginieren solche Vereinigung oder doch wenigstens eine Annäherung an sie. Gab es einen anderen Weg als den Freitod, um die Kluft zwischen den tatsächlichen Opfern und den Überlebenden zu schließen?“ Celan hinterließ als Bilanz seines Lebens das kleine Gedicht:

Die nachzustotternde Welt,

bei der ich zu Gast

gewesen sein werde, ein Name,

herabgeschwitzt von der Mauer,

an der eine Wunde hochleckt.

 

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In Bremen hat sich Paul Celan in seiner Ansprache artig für die Verleihung des Preises bedankt. Wusste er um die Umstände der Abneigung Rudolf Alexander Schröders ihm gegenüber und um die NS-Vorgeschichte des Laudators? Man weiß es nicht, er deutete es auch nicht an. Er ging nur auf die Sprache seiner Gedichte ein, auf die tiefe Kluft zwischen der Mutter-Sprache und der Sprache der Täter. Da klang in seiner Rede die Frage an (ohne die Dinge direkt beim Namen zu nennen), ob lyrische Sprache nach dem Holocaust überhaupt noch möglich sein kann. Celan sagte: „Sie, die Sprache blieb unverloren, ja, trotz alledem. Aber sie musste nun hindurchgehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede. Sie ging hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah; aber sie ging durch dieses Geschehen. Ging hindurch und durfte wieder zutage treten ‚angereichert‘ von alldem.“

 

Er beantwortete die Frage, ob Lyrik nach dem Schrecken des Massenmords noch möglich sei, die auch Adorno gestellt hat, für sich selbst also positiv, denn er habe versucht, Gedichte zu schreiben, die ihn bei der Orientierung und Selbstfindung unterstützt hätten zu erkennen, „wo ich mich befand und wohin es mit mir wollte, um mir Wirklichkeit zu entwerfen.“ Celan sagte nicht, ob er wirklich angekommen ist, was Kästner ja unterstellt. Er sprach von einem „Versuch“. Er drückte dann die Hoffnung aus, dass Gedichte wie eine „Flaschenpost“ sind und deshalb eine dialogische Aufgabe hätten: dass sie auf etwas zuhalten und irgendwo irgendwann an Land gespült würden. . .

 

Es gibt ein Foto von der Preisverleihung. Da steht ein freundlich lächelnder Paul Celan neben einem mürrisch dreinblickenden Rudolf Alexander Schröder. Zitiert wird in der Bildunterschrift ein Satz aus Schröders Rede zu Ehren Celans: „Zwei Schiffe, die sich auf der Fahrt begegnen, mein Kurs geht nach Norden, der Ihre nach Süden. Ich wünsche Ihnen einen hellen Lebensmittag.“ Was auch immer das heißen mag. . .

23.6.2020

PS. Diesen Text habe ich natürlich auch an die Bremer Medien geschickt. Der Kurier am Sonntag, die Sonntagszeitung des Bremer Weser-Kurier, der Monopolzeitung der Stadt, brachte am 22.11. 2020 auf seiner Feuilleton-Seite eine ausführliche Würdigung des Dichters Paul Celan und erwähnte auch, dass er 1958 den Bremer Literaturpreis bekommen hat. Von dem Skandal, dass ein NS-Autor für diesen Dichter, dessen fast ausschließliches Thema der Holocaust war, die Laudatio hielt, fand sich in dem Artikel kein Wort.  

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Literatur:

Celan, Paul: Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band, hg. von Barbara Wiedemann, Frankfurt/ Main 2003

Emmerich, Wolfgang: Paul Celan, Reinbek 1999

Kästner, Erhart: Griechenland. Ein Buch aus dem Kriege, Berlin 1943

ders.: Kreta, Berlin 1946

ders.: Ölberge. Weinberge, Frankfurt/ Main 1974

ders.: Das Zeltbuch von Tumilat, Frankfurt/Main 1956

Strohmeyer, Arn: Dichter im Waffenrock. Erhart Kästner in Griechenland und auf Kreta 1941-1945, Mähringen 2006

 

Aufsätze:

Artinger, Kai: Unerwünschte Bilder, Ossietzky Nr. 4, 2011

Bleyl, Henning: Das Problem mit dem Patron. Die Dichtungen von Rudolf Alexander Schröder sind im Evangelischen Gesangbuch ebenso vertreten wie in der Liedersammlung von SS und SA. Sein Beispiel demonstriert die innere Dehnbarkeit des Begriffs „Innere Emigration“, TAZ 21.10. 2010

ders.: Die Schröder-Dämmerung. Ein Gutachten holt den Dichter Rudolf Alexander Schröder aus der „Inneren Emigration“. Das betrifft auch den Bremer Literaturpreis, TAZ 2.2.2011

Celan, Paul: Ansprache bei der Verleihung des Bremer Literaturpreises (Der Druck enthält auch die Ansprache von Erhart Kästner)

Emmerich, Wolfgang: Paul, Celan, in: Die Literatur der Bundesrepublik Deutschland, hg. von Dieter Lattmann, in: Kindlers Literaturgeschichte der Gegenwart in Einzelbänden, München/Zürich 1973

 

Arn Strohmeyer, Jahrgang 1942, hat Philosophie, Soziologie und Slawistik mit dem Abschluss Magister studiert. Er hat dann als politischer Journalist an verschiedenen Tageszeitungen und einer politischen Monatszeitschrift gearbeitet. Neben dieser Tätigkeit hat er mehrere Bücher geschrieben. Seine besonderen Themenschwerpunkte waren dabei die kritische Aufarbeitung der NS-Zeit, Griechenland (speziell Kreta) und der Nahe Osten. Strohmeyer lebt und arbeitet heute als Schriftsteller in Bremen. (arnstrohmeyer.de)