Henry Miller der Mystiker

Eine ganz andere Sicht auf den „größten Pornographen der Weltliteratur“

Wenn einem als Schüler auf einem deutschen Gymnasium der sechziger Jahre, als stramme Nazi-Lehrer oder überstrenge Protestanten dort noch ihr pädagogisches Unwesen trieben, die Bücher von Henry Miller in die Hände fielen, war man hochgradig gefährdet. Um nicht zu sagen, es war eine Katastrophe, denn es galten an diesen Schulen noch die preußischen Werte beziehungsweise „Sekundärtugenden“ Fleiß, Ordnung und Disziplin. Wer mit Jeans in den Unterricht kam, wurde umgehend nach Hause geschickt, um sich umzuziehen. Wer so kühn war, sich in den Ferien einen Bart wachsen zu lassen und damit vor seinen Lehrern erschien, dem erging es nicht besser: ab nach Hause unter das Rasiermesser! Und da kam dieser Prophet einer völlig ungebundenen, anarchischen Freiheit und eines ausschweifenden Sex daher und eroberte mit seinen Wendekreisen mein Pennälerherz, die polare Spannung war kaum auszuhalten. Als meine Klassenkameraden an ihre Karrieren als Studienräte, Rechtsanwälte oder Ärzte dachten, stand meine Zukunftsperspektive fest: Ich wollte nach Paris gehen und wie Henry dort als schreibender Bohemien leben.

Miller war als „Pornograph“ verschrien, (der „größte Pornograph der Weltliteratur“), was er in Wirklichkeit aber gar nicht war. Pornographie befriedigt Konsumentenwünsche, hinter ihr stecken also vor allem kommerzielle Interessen, sie ist damit eine eher dekadente Erscheinung verklemmter Personen oder sogar einer ganzen Gesellschaft. Denn Pornographie ist immer eine Projektion. Soll heißen: Erst der prüde Betrachter oder Leser macht aus einem natürlichen Objekt eine „pornographische Fantasie“. Letzten Endes entscheidet also das Subjekt darüber, was Pornographie ist.

Miller huldigte dagegen der Obszönität, deren Ziel es ist, schonungslos und auch mit dem Mittel des Schocks gesellschaftliche Realität wiederzugeben. Der Schock wird durch den Blick in die sonst tabuisierte menschliche Intimsphäre erzeugt. Der Begriff des Obszönen ist bei Miller aber durchaus religiös zu verstehen, ihm liegen spirituelle Motive zu Grunde. Aus Protest gegen das westlich-christliche Verständnis von Sex, mit dem Miller zu seiner Zeit konfrontiert war, soll der Blick in das Obszöne befreien, aufwecken, aufrütteln, läutern, den Geist reinigen und letztlich den Schein der menschlichen Existenz entlarven. Die Verwendung des Obszönen durch den Künstler soll also kathartische Wirkung haben. Miller lehnt sich hier an antike Traditionen an, aber auch an religiöse und spirituelle Ideen und Inhalte, wie sie etwa der Zen-Buddhismus kennt. Auch dort soll der Schock dazu verhelfen, die dunklen Seiten des Ich, seine Widersprüche und Polaritäten zu erkennen und anzunehmen.

Das letztendliche Ziel des Obszönen ist also Selbstbefreiung. Deswegen spielt sie auf dem spirituellen Weg Millers eine so wichtige Rolle. Dieser Autor bewegt sich auch in den obszönsten Passagen, die er geschrieben hat, zwischen Jesus, Buddha, Laotse und Franz von Assisi. Gott ist dabei immer anwesend. Sex und die Suche nach Gott sind also nicht zu trennen. Millers Freund Lawrence Durrel hat sein Werk als eine „spirituelle Autobiographie“ bezeichnet; die Gefährtin seiner Pariser Jahre Anais Nin nannte ihn einen „buddhistischen Mönch“.

Miller selbst schrieb über das Verhältnis von Pornographie und Obszönität: „Wenn Obszönitäten in der Kunst und besonders in der Literatur eine Rolle spielen, so ist das gewöhnlich ein technisches Mittel; die Absicht, die da verfolgt wird, hat aber nichts mit sexueller Erregung zu tun, wie sie in der Pornographie beabsichtigt ist. Wenn es in einem solchen [obszönen] Werk ein tiefer liegendes Motiv gibt, dann geht es weit über Sex hinaus. Seine Absicht ist, aufzuwecken, den Sinn der „eigentlichen“ Realität zu vermitteln. Einen Sinn, dessen Verwendung durch den Künstler man mit dem Gebrauch des Wunders durch die großen Glaubenslehrer vergleichen kann.“

Dieses Zitat weist auf die Doppelnatur dieses amerikanischen Schriftstellers hin: auf der einen Seite die unstillbare Sehnsucht nach einem prallen dionysischen Leben und auf der anderen das Verlangen nach Rückzug, Askese und Meditation. Man kann hier eine Seelenverwandtschaft mit dem kretischen Schriftsteller Nikos Kazantzakis feststellen, der seinen unbändigen Drang nach Leben in seiner Romanfigur des Alexis Sorbas ausgedrückt hat und als Kontrast den „tintenklecksenden“ Schriftsteller dazu gestellt hat, der sich buddhistischen Studien und Spekulationen hingibt. Kazantzakis hat zudem ein zutiefst religiöses Buch über die Askese geschrieben und ein huldigendes Werk über Franz von Assisi. Miller wird immer wieder im Zusammenhang mit diesem Autor, aber auch mit Giono, Laxness, Benn und Hamsun genannt, die alle die Fesseln der sie bedrängenden Zivilisation abwerfen und den verlorengegangenen Kontakt zum Ursprünglichen, Kreatürlichen und Elementaren „wiederherstellen“ wollten. Benn und Hamsun brachte dieser Vorstoß in die gefährliche Nähe des Nationalsozialismus, Miller ist dieser Gefahr aber nicht erlegen.

Die andere Seite von Millers Doppelnatur ist also der Mystiker – ein Etikett, das so gar nicht zum Image des großen Pornographen passen will. Aber der Widerspruch ist nur scheinbar. Miller war in Wirklichkeit ein tief religiöser Mensch, natürlich nicht im christlichen, sondern in einem eher pantheistischen Sinn. In einer Welt, in der das Leben durch die alles beherrschende Technik immer künstlicher wird, rebellierte er „gegen die Pest des modernen Fortschritts“ – dagegen, dass die Zukunft nicht dem Menschen, sondern den Maschinen und den Robotern gehöre. Die Dominanz der Technik verurteile den heutigen Menschen zu einer „sekundären Daseinsform“, war seine feste Überzeugung. Wie würde Miller, wenn er denn noch lebte, auf die gegenwärtig stattfindende digitale Revolution und die Schaffung künstlicher Intelligenz reagiert haben – der endgültigen Maschinisierung und Roboterisierung der Welt?

Er setzt gegen den „klimatisierten Alptraum der modernen Welt“ seine mystische Religion des Eins-Seins mit der Schöpfung: Erfahrungen jenseits des Bewusstseins machen und in die heiligen Bezirke des Un- und Unterbewusstseins einkehren. Der moderne entfremdete Stadtmensch soll die Fesseln seines psychologischen Eingesperrtseins sprengen, er soll wieder in Kontakt mit dem Unmittelbaren, Elementaren und Ursprünglichen treten. Unter dem Schock des Obszönen tut sich dann eine neue Welt auf, die in Wirklichkeit die alte, die unzerstörbare Welt ist, die der Mensch immer in sich getragen hat, so hat er seine esoterisch-mystische Religion immer wieder beschrieben. Er strebte so etwas wie „kosmisches Bewusstsein“ an.

Im Wendekreis des Krebses schreibt er: „Das Leben ist in ein Samenkorn gepresst, das eine Seele ist. Alles hat eine Seele, einschließlich der Minerale, Pflanzen, Seen, Berge und Felsen. Alles hat Empfindung, sogar auf der niedrigsten Bewusstseinsstufe. Wenn man diese Tatsache erst einmal begriffen hat, kann es keine Hoffnungslosigkeit mehr geben. Auf der niedrigsten Sprosse der Leiter, bei den Samenfäden, herrscht der gleiche Glückszustand wie auf der Spitze bei Gott. Gott ist die Summe aller zu vollem Bewusstsein gekommenen Samenfäden.“

Seinen Traum von einem einfachen Leben hoffte Miller in Griechenland verwirklicht zu finden. Die Griechen hatten sich in Millers Augen noch das bewahrt, was die „hoch zivilisierten“ Menschen des Westens längst als Preis für ihren „Fortschritt“ verloren hatten: die Unschuld eines reinen Menschentums oder – anders ausgedrückt – ein ursprüngliches, archaisches Bewusstsein. Der Amerikaner aus Brooklyn betrat 1939 die Geburtsstätte des Abendlandes ohne jeden Funken von historischer Gelehrsamkeit und klassischer Bildung, er hatte sich nie mit Archäologie, Altertumswissenschaft und antiker Ästhetik beschäftigt. Homer gehörte nie zu seiner bevorzugten Lektüre. Er kam dagegen nach Griechenland mit der Witterung des Entfremdeten, der jenseits seiner Zivilisationsenttäuschung eine bessere Welt suchte. Er glaubte, sie im Urvergangenen zu finden, im vorklassischen Archaikum. Mehr als die vollkommenen Statuen eines Apoll interessieren ihn die blutigen Altäre des Dionysos, nicht Athen, sondern Delphi und Eleusis, nicht die lichtumflossenen und harmonisch geordneten Säulenschäfte, sondern die Grabkammern, die von Tonscherben und Schafsmist übersäten Grüfte der Heroen und Könige etwa in Mykene. (Walter Schmiele)

 

Die fünf Monate in Griechenland hat Miller später als die „wichtigste geistige Erfahrung seines Lebens“ bezeichnet. Wie so viele andere durch Hellas reisende Schriftsteller hatte er das Gefühl, seine wahre „Heimat“ gefunden zu haben. Das Langersehnte, das Ur-Vertraute war ihm hier ganz gegenwärtig. Griechenland stellt sich ihm „als der wahre Mittelpunkt des Weltalls, als der ideale Treffpunkt von Mensch zu Mensch in Gegenwart Gottes“ dar. Wenn es denn je ein Paradies gegeben hat – es muss in Hellas gelegen haben. „In Griechenland wird man immerwährend von dem Gefühl der Ewigkeit erfüllt, das sich im Hier und Jetzt ausdrückt“, notiert er. Und: „Das Licht Griechenlands öffnete meine Augen, durchdrang meine Poren, weitete mein ganzes Ich. Ich fand meine Heimat: die Welt und den wahren Mittelpunkt und die tatsächliche Bedeutung des Kreislaufs.“

 

Griechenland hatte einen so starken Eindruck auf ihn gemacht, weil es – im Gegensatz zu Amerika – „eine Welt von menschlichem Maß“ war. Die olympischen Götter, die der menschliche Geist geschaffen hatte, mögen längst tot sein, aber Miller empfand sie als noch immer anwesend. Im ganzen Abendland sei das Band zwischen Menschlichem und Göttlichem zerrissen, schrieb er und führte auf diese schicksalhafte Trennung alle Katastrophen der Geschichte und die Verderbnis der gegenwärtigen Kultur zurück. Nur in Griechenland sah er dieses Band wenigstens teilweise noch nicht als zerschnitten an, schrieb er in seinem Griechenlandbuch Der Koloss von Maroussi,in dem er dem mit ihm befreundeten Dichter Georgios Katsimbalis ein Denkmal setzte, der aus dem Athener Stadtteil Maroussi stammte.

 

Die Griechen, die ihn immer wieder auf die Armut ihres Landes ansprachen, verblüffte er mit der Aussage, dass er ihr Land gerade deswegen so liebe. Amerikas Reichtum, der auf einem illusorischen Materialismus gründe, stellte sich für ihn, den scharfen Kritiker der westlichen Zivilisation, „abstrakt und entmenschlicht“ dar – als „ein Sieg des Todes“. Griechenland ist für ihn dagegen gerade wegen seiner Armut in Wirklichkeit reich: „Ich bin so verrückt zu glauben, dass der Mensch, der die wenigsten Bedürfnisse hat, der glücklichste ist. Ich glaube auch, dass wenn man ein solches Licht hat wie hier, alle Hässlichkeit verschwindet. Armut allein macht den Menschen nicht elend. Hellas habe ihn den – den arroganten und hochmütigen Amerikaner aus New York – Bescheidenheit und Demut gelehrt.

Sinnlichkeit und Kreativität, die das Geistige einschließen und sich mit ihm zu einer höheren Seinsstufe verbinden – das ist der Inhalt seines Protestes und seiner Auflehnung.

 

Alles, was er über Griechenland und seine Menschen später sagen und schreiben wird, kulminiert in dem Tag, an dem er auf Kreta den minoischen Palast von Phaistos besuchte. Der Ort hat auch heute nichts von seiner Grandiosität eingebüßt. Es ist die Kombination von einmaliger Landschaft – der ins Unendliche sich ausdehnende grüne Olivenbaumteppich der Messara-Ebene, das gewaltige nach Westen sich auftürmende Ida-Gebirge mit seinen viele Monate des Jahres Schnee tragenden Gipfeln – und großer Geschichte, die direkt aus dem Mythos kommt: die beinahe lieblich daliegenden Palast-Ruinen, die den Blick auf beides freigeben – weite Ebene und gewaltiges Bergmassiv. Lieblich sind die Ruinen deshalb, weil es hier keine wehrhaften Mauern gab, keine trutzigen Türme und steinernen Kasematten. Waffen scheinen in dieser Kultur keine wichtige Rolle gespielt zu haben. Dafür gab es große Höfe, weite Treppen, schöne Plateaus und zauberhafte Gemächer und Bäder für die Herrschenden. Es muss eine Kultur der Anmut und spielerischen Verzauberung gewesen sein, die hier geherrscht hat. Jeder Stein in Phaistos atmet auch heute noch diese wunderbare Atmosphäre.

 

An diesem Ort begrüßte der Fremdenführer Alexandros Venetikos Miller mit überschwänglicher Herzlichkeit, vermutlich weil zu dieser Zeit wegen des herannahenden Krieges kaum noch Touristen kamen und die Trinkgelder knapp wurden. Alexandros küsste Millers Hand, pflückte Blumen für ihn und kniete nieder, um seine Schuhe zu putzen, was Miller nicht im Geringsten verlegen machte, weil diese Demut für ihn Größe war. Dann führte Alexandros ihn durch die Ruinen des Palastes. Als Miller auf dem großen Platz stand, auf dem die Minoer vermutlich ihre heiligen und geheimnisvollen Feste mit dem akrobatischen Stierspringen gefeiert hatten, da notierte er fassungslos: „Mein Gott, es ist unglaublich! Ich wandte die Augen ab, es war zu viel, um alles in sich aufzunehmen!“

 

Alexandros brachte einen Tisch aus dem Wärterhaus, der zugleich auch als Kiosk für die Besucher diente, und deckte ihn für Miller, der aber darauf bestand, dass der Fremdenführer das Mahl mit ihm teilen müsse. So saßen die beiden so verschiedenen Männer – der amerikanische Schriftsteller aus Brooklyn, dessen Ruhm gerade begann, und der einfache Fremdenführer, dessen Ahnen vermutlich seit Jahrhunderten kretische Bauern gewesen waren – an diesem mythischen Ort, während aus der Ferne das Grollen der großen Kriegskatastrophe näher kam, und aßen Brot, Käse und Oliven und tranken einen schweren dunklen Rotwein, der Miller noch euphorischer machte. Der Mystiker Miller notierte in diesem Augenblick: „Gott hat alles im Voraus bedacht. Wir brauchen keine Probleme zu lösen, es ist alles für uns gelöst worden. Wir müssen nur zerschmelzen, uns auflösen, um in der Lösung zu baden. Wir sind vergehende Fische, und die Welt ist ein Aquarium.“

 

Seine Begeisterung über Phaistos fasste er in den hymnischen Sätzen zusammen: „An diesen Toren des Paradieses machten die Nachkommen von Zeus auf ihrem Weg zur Ewigkeit  halt, um einen letzten Blick auf die Erde zu werfen, und sie sahen mit den Augen der Unschuldigen, dass die Erde wirklich das ist, was sie immer geträumt hatten: eine Stätte der Schönheit und der Freude und des Friedens. Im Grunde seines Herzens ist der Mensch ein Engel, im Herzen ist er eins mit der ganzen Welt. Phaistos birgt alle Elemente des Herzens, es ist weiblich durch und durch, Alles, was der Mensch vollbracht hat, ginge verloren, gäbe es nicht dieses letzte Stadium der Bußfertigkeit, das hier im Sitz der himmlischen Königinnen verkörpert ist.“

 

Das Erlebnis mit Alexandros in Phaistos muss so etwas wie eine Erweckung oder Erleuchtung für Miller gewesen sein, die natürlich schon lange vorher in ihm spirituell angelegt war. An diesem „heiligen“ Platz der Minoer wird ihm klar: Er will die Welt nicht verändern, sie ist für ihn – wenn man sie richtig versteht – die beste Ordnung überhaupt, man muss sich nur angemessen in sie „einordnen“. Der Mensch ist– so gesehen – in Wirklichkeit ein Engel, wenn er eins mit dieser Ordnung ist. Bei solchen Gedanken fällt einem unwillkürlich Albert Einsteins „kosmische Religion“ ein, deren Kernsatz lautet: „Ich glaube an den Gott, der sich in der gesetzlichen Harmonie des Seienden offenbart, nicht an einen Gott, der sich mit den Schicksalen der Menschen abgibt.“ Dass Miller dieses mystische Erlebnis gerade in Phaistos hatte, spricht für das wunderbare Flair dieses Ortes, das er offenbar von seinen ersten Anfängen an hatte.

Es kommt etwas anderes hinzu: Millers Griff zu den Mythen war kein Zufall. Phaistos und Knossos sind keine Schauplätze, die große historische Ereignisse hervorgebracht haben und deshalb bedeutend waren. Zumindest weiß man darüber nichts, weil es keine Überlieferung darüber gibt. In den Mythen der Minoer und später der Griechen, die sich um Phaistos ranken, war die Begegnung und Verbindung von Göttern und Menschen noch etwas ganz Normales und Selbstverständliches. So raubte der in einen Stier verwandelte Göttervater Zeus im Land der Phönizier die schöne Königstochter Europa, entführte sie nach Kreta und schuf durch die Liebe zu ihr das erste Königsgeschlecht auf dieser Insel. Es ist also nicht Fiktion, wenn MiIller hier von den „himmlischen Königen“ spricht. Die Muttergöttin der Minoer war die Herrin über den kosmischen Naturzyklus von Wachsen und Vergehen in der Natur, von Tod und Wiederkehr. Sie stand mit den Menschen in engem Kontakt, weil ihre lebensspenden Kräfte das Dasein auf der Erde erst möglich machten. Miller muss, sich bevor er nach Phaistos kam, intensiv mit den Mythen dieses Volkes beschäftigt haben.

Noch einmal pflückte Alexandros Blumen für Miller, kniete vor ihm nieder und küsste seine Hand. Der Schriftsteller gestand später, wenn er in diesem Augenblick Phaistos nicht verlassen hätte, wäre er für immer geblieben. Aber er habe gehen müssen, weil Bleiben die niederste Form der Undankbarkeit gewesen wäre. Ob die beiden in diesem Augenblick ahnten, dass sie ein Leben lang Freunde bleiben, aber sich nie wiedersehen würden? Miller musste wie alle US-Bürger wegen des drohenden Krieges Griechenland im Dezember 1939 auf Geheiß der amerikanischen Regierung verlassen und kehrte auch nicht nach Paris, sondern nach Amerika zurück, wo er sich in der Einsamkeit des Künstlerdorfes Big Sur am Pazifik niederließ, dessen grandiose Bergwelt mit den abfallenden Klippen zum Meer ihn stark an ähnliche Landschaften in Griechenland erinnert haben muss. Brieflich tauschten sich die beiden noch Jahrzehnte lang nach ihrer denkwürdigen Begegnung in Phaistos aus, die nur wenige Stunden gedauert hatte.

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Ich hatte Millers Philosophie, die glutvollen und mythischen Bilder seines Griechenlandbuches, vor allem aber die Schilderung seiner Begegnung mit Alexandros in Phaistos tief in mich aufgenommen und deshalb eine große Sehnsucht nach Hellas entwickelt. Im März 1967 brach ich als Student selbst nach Griechenland auf, sah viele der klassischen Stätten und lernte die Gastfreundschaft der Menschen dort kennen, setzte dann mit dem Schiff von Piräus nach Kreta über, verbrachte faszinierende Tage in Matala an der kretischen Südküste, das damals ein globales Zentrum der Hippies war, lebte unter diesen Paradiesvögeln aus aller Welt, traf dort interessante Leute (unter ihnen den noch ganz unbekannten Georg Danzer). Mit ihm und einigen anderen wanderten wir nach Phaistos. Wir erreichten die Ruinen des Palastes oben auf dem Hügel am Mittag bei glühender Sonne in höchst euphorischer Stimmung, da wir auf unserem Weg immer wieder mit einem fröhlichen „Jassas!“ begrüßt und dann zu einem Ouzo oder Raki eingeladen worden waren.

 

Als wir das Palastgelände betraten, sahen wir als erstes einen kleinen, in einen dunklen Anzug gekleideten älteren Herrn mit einer großen Dienstmütze, unter der weiße Haare hervorlugten. Er wirkte überaus korrekt und trug trotz des heißen Sonnenwetters auf dem rechtwinklig angehobenen Arm einen schwarzen Regenschirm. Er führte eine einzelne Amerikanerin durch die Ruinen und erklärte ihr in vorzüglichem Englisch jede Einzelheit. Wir gesellten uns zu den beiden und er begrüßte uns mit einer höflichen, altmodischen Verbeugung und stellte sich vor: „Alexandros.“ Wir hatten es längst geahnt, dass er es war.

Wir schlossen uns dem Rundgang der beiden an. Abwechselnd gab er seine Erläuterungen zur Geschichte des Palastes in Englisch oder Deutsch: Seine Entstehung um das Jahr 2000 v.u.Z., seine Zerstörungen durch Naturkatastrophen und der mehrmals erfolgte Neuaufbau. Alexandros zeigte uns die Wohn-, Repräsentations-, Kult- und Wirtschaftsräume, die Werkstätten, das Theater und die große Treppe. Immer sprach er von sich in der dritten Person und vermittelte stets das Gefühl, dass er gerade uns in diesem Moment etwas ganz Besonderes und Einzigartiges zeigen wollte.

 

Nach dem Rundgang setzten wir uns alle auf eine niedrige Mauer. Georg Danzer hatte Millers Koloss von Maroussi dabei, holte das Buch hervor und reichte es Alexandros. „Ah, Henry Miller“, sagte er und schlug sofort zielsicher die Seiten auf, die von ihm handelten und die ihn weltberühmt gemacht hatten. Vermutlich war er schon von vielen Reisenden um eine Widmung gebeten worden. Und dann erzählte er uns die ganze Geschichte von der kurzen Begegnung mit Miller. Er berichtete auch, wie dankbar er ihm sei, denn er habe ihm und seiner Familie in der schweren Zeit im und nach dem Krieg, als keine Besucher nach Phaistos kamen, ständig Pakete mit dem Lebensnotwendigen geschickt. Millers Briefe hüte er wie einen Schatz. Alexandros schrieb mit seiner kleinen exakten Schrift eine Widmung in das Buch. Dann nahmen wir Abschied von ihm.

                                                                       *

Ich war seitdem immer wieder in Kreta und hätte gern Einblick in die Korrespondenz zwischen Miller und Alexandros genommen. Aber ich scheute davor zurück, bei der Familie Venetikos in Vori aufzutauchen und meinen Wunsch vorzubringen. Im Sommer 2002 hatte der deutsche Maler Peter Foeller, der in dem kretischen Dorf Plora lebt und arbeitet, ein Essen arrangiert – bei der alten Kreterin Katina, die so wunderbar in der Tradition ihrer Insel kochen kann. Foeller ist ein Meister darin, bei solchen Gelegenheiten interessante Menschen zusammenzubringen. Ich saß an jenem Abend neben einer Frau, die aus Deutschland stammte und einen Kreter aus Vori geheiratet hatte – und zwar den Sohn von Alexandros! (Ich werde sie auch im Folgenden die „Schwiegertochter“ nennen, da sie mich darum bat, ihre Anonymität zu wahren.) Ich sprach sie natürlich auf den Briefwechsel an und sie sagte mir, dass sie diesen „Schatz“ in einer Schatulle sicher aufbewahre. Ich könnte ihn gern bei Gelegenheit einsehen. Ich erfuhr auch, dass Alexandros 1986 gestorben war.

 

Bei meiner nächsten Kreta-Reise suchte ich sie auf. In ihrem Wohnzimmer – ein ernst, aber zugleich milde lächelnder Alexandros schaute mir aus einem Bilderrahmen von der Wand bei meiner Arbeit zu – durchforstete ich alles, was Miller ihm an schriftlichen Mitteilungen geschickt hatte: Briefe, Postkarten, gedruckte Aufsätze von und über ihn, Zeitungsausschnitte, Faksimiles von Texten und Buchkataloge. Konfrontiert mit diesem Material stellte sich für mich die Frage: Welche tief in der jeweiligen Persönlichkeit liegende Schicht hat diese beiden so verschiedenen Männer – einen der größten Provokateure der Weltliteratur und den einfachen Fremdenführer von Phaistos so magisch zueinander hin gezogen, dass ihre denkwürdige Freundschaft so lange Bestand hatte?

 

Die Schwiegertochter erzählte mir, dass Alexandros streng und patriarchalisch – wie es damals in Griechenland üblich war – seine Familie regiert habe. Seine Frau lebte noch und verbrachte hoch betagt in einem kleinen Haus in Vori ihren Lebensabend. Heiligenbilder mit brennenden Lampen davor kündete von der Frömmigkeit der alten Dame. Sie empfing mich freundlich und zeigte mir die Fotoalben der Familie. Ich durfte mir eine Aufnahme von Alexandros als Andenken aussuchen. Und sie erzählte eine kleine Geschichte, über die wir alle herzlich lachten: Als Alexandros aus Altersgründen seinen Dienst in Phaistos aufgegeben hatte und in den Ruhestand getreten war, fragten noch viele Besucher dort nach ihm. Die anderen Fremdenführer waren die Fragerei aber bald leid und sagten, um ihre Ruhe zu haben, einfach: „Der ist inzwischen gestorben!“ Tief traurig fuhren viele seiner Verehrer sofort nach Vori, kauften einen Blumenstrauß und wollten der Witwe ihre Anteilnahme aussprechen. Sie waren nicht wenig erstaunt, als Alexandros persönlich und sehr vergnügt ihnen die Tür aufmachte!

 

Diese kleine Geschichte zeigt, wie beliebt dieser Mann war. In seinem Nachlass finden sich Berge von Briefen und Dankschreiben aus der ganzen Welt. Auch die Gästebücher von Phaistos waren voll von solchen überschwänglichen Eintragungen. Er war wohl Jahrzehnte lang der gute Geist dieses großen historisch-mythischen Ortes. Aber zurück zu Henry Miller. Ich war tief gerührt, ja im wahrsten Sinne des Wortes sinnlich „angefasst“, als ich zum ersten Mal in meinem Leben von diesem Mann, den ich so lange verehrt hatte, originale Schriftzüge in den Händen hielt – kaum vergilbt von der Zeit. So nah war ich ihm noch nie gewesen. „Mr. Alexandros Venetikos, Phaistos – Messaras, Crete, Greece“ hatte Miller jeweils als Adresse geschrieben und Alexandros als „meinen lieben“ oder sogar „gesegneten Freund“ angesprochen.

 

Ich weiß nicht, ob die Korrespondenz, die ich in Vori vorgefunden habe, vollständig ist. Sie erstreckt sich auf die Jahre 1957 – 1974. Ich konnte leider nur Millers Briefe einsehen, die von Alexandros waren mir nicht zugänglich. Sie befinden sich im Archiv der Universität von Kalifornien (UCLA) in Los Angeles, dem Miller seinen Nachlass vermacht hat. Wahrscheinlich sind auch nach Millers Abreise aus Griechenland 1939 und nach 1974 Briefe und Postkarten gewechselt worden, sie liegen in Vori aber nicht vor. Die Schreiben Millers an Alexandros sind Dokumente einer großen Zuneigung und Anhänglichkeit. Natürlich haben sie keinen intellektuellen Austausch zum Inhalt. Es geht in ihnen um die kleinen Dinge des Lebens – Arbeit, Gesundheit, Glückwünsche zu bestimmten Feiertagen (zumeist Weihnachten und Neujahr), um Geld – und Millers Absicht, noch einmal nach Griechenland zurückzukommen. Alexandros’ Antworten müssen ebenso gefühlvoll gewesen sein, denn Miller bezeichnet sie als „herzenswarm“ und „wundervoll“.

 

Interessant ist, dass die Korrespondenz 1974 endet, denn dieses Jahr ist ein einschneidendes Datum für Griechenland, weil die Militärjunta, die 1967 die Macht ergriffen hatte, abdanken musste. Alexandros hatte sich, wie Reisende berichten, die ihn gut kannten, ganz offensichtlich in der Opposition gegen die Militärs engagiert, bekam Berufsverbot und konnte seine Führungen im Palast von Phaistos nur noch illegal fortsetzen. Durch den Verdienstausfall geriet seine Familie in große finanzielle Not, weshalb Miller ihn bis zu diesem Zeitpunkt unterstützt haben wird. Weil Alexandros‘ Post vermutlich überwacht wurde, findet sein Widerstand gegen die Militärs in Athen in Millers Briefen keine Erwähnung.

 

Die Freundschaft zwischen diesen beiden so ungleichen Männern lebte offenbar von jenen mystischen Stunden, in denen Alexandros Miller in Phaistos wie einen König empfing und verabschiedete. Dabei muss die Frage unbeantwortet bleiben, ob der Kreter den Namen des berühmten Autors vorher schon einmal gehört hatte oder ob er in ihm nur den spendablen Amerikaner vermutete, der in einer Zeit, als der Zweite Weltkrieg bevorstand und die Touristen ausblieben, ihm in seiner schwierigen Lage helfen konnte. Der Amerikaner aus Paris schrieb im Dezember 1957 (ohne genaues Datum) an Alexandros über den Augenblick des Abschieds in Phaistos: „Du kamst damals zu mir mit einem Blumenstrauß, als ich Phaistos verlassen wollte. Du knietest vor meinen Füßen und hast meine Hand geküsst. Nur ein einziger anderer Mensch hat das vor Dir mir gegenüber getan – der armenische Wahrsager in Athen, bei dem Miller sich seine Zukunft deuten ließ (siehe die Stelle im Koloss von Maroussi). Deine Geste zeugte von einem großen, noblen und zur Demut fähigen Geist. Ich werde Dich niemals vergessen. Ich hoffe, ich werde Dir und Deiner Familie ein bisschen Sonnenschein bringen.“

 

Am 20.10.62 schickt Miller eine Postkarte aus West-Berlin. Er habe dort – so schreibt er – einen jungen Mann getroffen, der in Phaistos gewesen sei und Alexandros kennen gelernt habe. „Wir sprachen lange und intensiv über Dich.“ Auch 23 Jahre nach seinem Besuch auf Kreta war der Amerikaner also immer noch von Alexandros fasziniert. „Jeder, der Dir begegnet ist, liebt Dich“, schreibt Miller am 20.5.1963 an ihn und fragt besorgt nach seiner Gesundheit, um die es offenbar um diese Zeit nicht zum Besten stand. Alexandros war im Krankenhaus gewesen und Miller hatte ihm dorthin geschrieben: „Ich bete für Dein Wohlbefinden!“ (25.4.1963) Er schreibt ein anderes Mal, als Alexandros offenbar wieder krank war: „Was für eine große Freude war es, als Dein Brief ankam und ich erfuhr, dass alles in Ordnung ist mit Dir. Ich erhole mich gerade von zwei ernsten Operationen.“ (12.1.1974)

 

Auch von seiner schriftstellerischen Arbeit berichtet Miller immer wieder. Er schickt gedruckte Texte von und über sich in englischer Sprache, mit denen Alexandros vermutlich wenig oder nichts anfangen konnte – so auch eine Broschüre, in der verschiedene Autoren zu Millers Text Into the nightlife Stellung nehmen. Miller hatte das Heft sogar signiert: „Für den guten Alexandros von seinem Freund Henry Miller, 23.1.1958“. Am 25.4.1968 teilt er mit, dass er ganz verrückt (crazy) vor Arbeit sei und in Kürze nach Paris reisen werde, um beratend an den Arbeiten zur Verfilmung seines Buches Wendekreis des Krebses teilzunehmen. Außerdem habe er gerade eine „gute Einleitung“ für ein Kunstbuch über Griechenland geschrieben. Auch dass sein Schriftstellerfreund Lawrence Durrel aus gemeinsamen Pariser Tagen gerade in Big Sur zu Besuch sei, lässt er den „lieben Alexandros“ wissen.

 

Natürlich musste es diesen interessieren, dass im Jahr 1957 Millers Griechenland-Buch Der Koloss von Maroussi erschienen ist. Der späte Erscheinungstermin erklärt sich wohl durch den Krieg. Miller will Alexandros mehrere Exemplare schicken, damit er sie in Phaistos verkaufen soll (7.9.1957). Am 17.9. 1958 schreibt er, dass das Buch, in dem Alexandros eine so wichtige Rolle spielt, nun auch auf Griechisch vorliege. Er habe ein Buchgeschäft in Athen beauftragt, ihm ein Exemplar zu schicken. Die Schwiegertochter besitzt diese Ausgaben alle noch, sogar eine in spanischer Sprache.

 

Das Thema Geld taucht in der Korrespondenz immer wieder auf. Alexandros hat ihn wohl des Öfteren um materielle und finanzielle Hilfe gebeten – damit das damals in Hellas vorherrschende Klischee bestätigend, dass jeder Amerikaner sagenhaft reich und jeder Grieche bettelarm sei. Dabei ging es Miller im Krieg und bis in die 50er und 60er Jahre aber keineswegs gut, weil er die Honorare aus Europa für seine in Amerika noch verbotenen Bücher nicht dorthin einführen durfte. Alexandros war andererseits so schlecht nicht gestellt, denn er war Angestellter des griechischen Staates und hatte – wie die Leute in Vori noch heute erzählen – einen der „größten und schönsten Gärten“ im Dorf. Die Familie Venetikos galt nicht als reich, hatte aber ihr gutes Auskommen. Blanke Not hatten Alexandros und seine Familie also vermutlich nicht gelitten, sieht man von den Jahren der Militärherrschaft ab.

 

So klingt es einleuchtend, was die Schwiegertochter heute erzählt: Dass Alexandros’ Schwester Despina, die in Phaistos den Kiosk für die Touristen betrieb, für diese kochte und Getränke ausschenkte, den Bruder ständig drängte, den „reichen Amerikaner“ Miller in Bettelbriefen um Hilfe zu bitten. Despina galt als sehr dominierend und geldgierig.

Miller ließ den Freund auch nicht im Stich. Er schreibt im Dezember 1957 (kein genaues Datum): „In ein oder zwei Tagen sende ich eine internationale Postanweisung, die Du in Drachmen bekommst. Ungefähr 50 Dollar. (...) Außerdem schicke ich ein Paket mit Kleidern für den Winter. Ich weiß nicht, ob Du das erste Paket bekommen hast.“

 

Der Vater Miller hat sogar seine Kinder Valentine und Tony veranlasst, Alexandros zu schreiben, die den Kreter natürlich noch nie gesehen hatten. Tony wünscht „Fröhliche Weihnachten und Glück fürs Neue Jahr“ und fährt dann fort: „Weil Du nichts und ich alles habe, will ich Dir helfen. (...) Du hast kaum genug Geld, Deiner Familie ein bescheidenes Mahl zu ermöglichen. Ich hoffe, dies (Geldgeschenk) ist genug, um wenigstens eine Mahlzeit davon zu bezahlen. Wir brauchen uns nicht darum zu sorgen, genug zum Leben zu haben. Ich will – wenn es geht – jeden Monat etwas sparen und Dir dann das Geld senden. Wenn ich nicht jeden Monat etwas schicke, dann im nächsten Monat. Es wird eine größere Geldsumme sein“ (ebenfalls Dezember 1957). Seine Schwester Valentine schreibt mit derselben Post: „Mein Vater erzählte uns über Dich und dass Du Geld brauchst. Da ich viel davon habe, dachte ich, dass ich Dir ein schönes Geldgeschenk machen kann. Ich hoffe, es wird Dir helfen, weil ich Dich und Deine Familie unterstützen möchte.“

 

Miller fragt immer wieder, ob seine Kleiderpakete angekommen seien. Am 12.3.1958 schreibt er sogar an die ganze Familie: „Liebe Maria, Elvira, Helene, und Jannis – ich grüße Euch alle! Ich hoffe, dass unter den Kleidern, die wir geschickt haben, etwas nach Eurem Geschmack ist und dass sie Euch passen.“ In so gut wie in jedem Brief an Alexandros lässt Miller die Familie grüßen. Er kündigt ständig weitere Geldsendungen an: „Von Zeit zu Zeit werde ich eine 5- oder 10-Dollar-Note in meinen Briefen beilegen. Ich werde diese Briefe mit Einschreiben senden. Zur Zeit habe ich kein Geld, nicht einen Penny. Aber bald!“ (1.11.1958) Auch Lebensmittel schickt er: „Lieber Alexandros, ich freue mich zu hören, dass es Dir gut geht. Vielen Dank für die Fotos!“ Ich habe gestern eine Anweisung über 15 Dollar und ein Lebensmittelpaket (Delikatessen) abgeschickt. (...) Ich hoffe, Deine Familie wird den Inhalt genießen.“ (6.6.1958)

 

Fotos werden immer wieder zwischen den Familien Miller und Venetikos ausgetauscht. Wenn Miller zu Weihnachten und zum Neuen Jahr schreibt, klebt er oft eine Fotografie von sich und den Seinen auf den Briefbogen. Sie zeigen ihn, seine Frau Eve und die Kinder Tony und Valentine. Auf einem dieser Bilder ist der Autor der Wendekreise neben einem Baum zu sehen. Eve hat an den Rand die Bemerkung hinzugefügt: „Henry ist ganz ergriffen, er denkt über diese Götter nach („caught in special thought in those gods“), die es überall gibt – der Pfirsichbaum trägt seltsamerweise in jedem Frühling weiße und schwarze Blüten!“

 

Auch dies ist ein Hinweis auf den tief religiösen Menschen Miller, der sich in der Einsamkeit von Big Sur am Pazifik viel eher wie ein tibetanischer Lama oder ein chinesischer Weiser fühlte als ein Autor des amerikanischen Literaturbetriebes. Aber so sehr hatte sich sein Weltbild seit den wilden New Yorker und Pariser Jahren gar nicht gewandelt. Miller war immer ein pantheistischer Mystiker gewesen. Die Grenze zwischen dem Obszönen und dem Heiligen hatte für ihn nie existiert. Auf dem Hügel von Phaistos hatte er ja hymnisch bekannt: „Das ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich jeden und alles auf dieser Erde in einem einzigen Gedanken umschlossen habe. Gesegnet sei die Erde, jedes lebende Atom, und alles ist lebendig, atmet wie ich und ist sich dessen völlig bewusst.“

 

Der Kreter Alexandros muss in Millers Augen fast so etwas wie ein mystischer Partner gewesen sein: rein, unschuldig und selbstlos. Das passte zu seiner Vorstellung zu Phaistos als „Tor zum Paradies“, als „Sitz der himmlischen Königinnen“, der „alle Elemente des Herzens birgt“ – ein Ort, dessen „strahlender Glanz den Denkprozess erstarren lässt.“ Alexandros tat nicht nur priesterlichen Dienst an diesem für Miller heiligen Platz, er wird zur Verkörperung des mythisch-archaischen Menschen, den Miller in Griechenland so gesucht hatte und den er dem von ihm verachteten Typ des Intellektuellen entgegen stellte. Das Ideal eines einfachen Menschen, der von der modernen Zivilisation noch ganz unverdorben spontan aus seiner Ursprünglichkeit heraus lebt – Nikos Kazantzakis hatte dies in seinem Alexis Sorbas gefunden, Miller in Alexandros. War es Realität oder nur eine seelische Projektion?

 

Sein Biograph Robert Ferguson nennt Millers Begegnung mit Alexandros „ungewöhnlich und geheimnisvoll“. Sie sei – neben dem Gespräch mit dem armenischen Wahrsager in Athen – der „symbolische Höhepunkt seiner Griechenlandreise“ gewesen: „Ihm liegt die Überzeugung zu Grunde, die sich gegen Ende seiner Reise einstellte, dass er dort  (in Phaistos) eine Wiedergeburt erfahren habe und jetzt weniger ein Schriftsteller als vielmehr ein Weiser sei. Für jemanden, dessen erstes Idol Walt Whitman gewesen war – dieser hatte geglaubt, die Religion entstehe aus der Kunst, – war eine solche Entwicklung nur konsequent. In Griechenland vertiefte sich Millers Abkehr vom Rationalismus. Der nahende Krieg, die großen Ideologien Faschismus und Kommunismus, die nun aufeinanderprallten, interessierten den religiösen Sucher Miller nicht mehr. Für ihn war nur wichtig, wie er der Apokalypse entgehen konnte.“

 

Mit religiös gemeinten Wünschen oder Aufforderungen schließt Miller auch viele Briefe an Alexandros: „Preise Gott!“ (27.4.1958) oder: „Gott segne Dich!“ (18.6.1959) und (20.5.1963). Einmal schreibt er: „Es ist Gott, der uns hilft, dass wir uns gegenseitig helfen!“ (1.11.1958). Aber der Gott, den Miller hier anführt, ist sicher nicht der Gott der orthodoxen Kirche, an den Alexandros glaubte.

 

Immer wieder drückt Miller seinen Wunsch aus, wieder nach Griechenland zu kommen und natürlich auch Alexandros zu besuchen. Am 18.6.1959 schreibt er aus Frankreich: „Ich sehe nicht, wie ich nach Griechenland kommen kann. Ich wünsche, es wäre möglich, sei es auch nur für ein oder zwei Tage.“ Im Jahr 1962 muss er ernsthaft mit dem Gedanken an eine Hellas-Reise gespielt haben. Am 12.1 notiert er: „Es ist möglich, dass ich in diesem Sommer nach Griechenland komme.“ Und am 17.5.1967 schreibt er an seine Tochter Valentine, die sich in Athen aufhielt: „Ich bin sicher, Alexandros Venetikos ist noch in Phaistos. Wenn Du dorthin fährst, gibt ihm bitte die Postkarte und sage ihm meine herzlichen Grüße. Ich weiß noch nicht, wann oder ob ich nach Griechenland komme.“ Es kam nicht zu dieser Reise. Miller hat Griechenland und seinen „geliebten Freund Alexandros“ nie wiedergesehen.

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Eines Abends saß ich mit Alexandros’ Schwiegertochter in ihrem Wohnzimmer und sprach ihr meinen Dank aus, dass sie mir Einblick in die Briefe und damit in diese seltsame Freundschaft gewährt hatte. Sie erzählte mir noch eine Geschichte, die mich sehr anrührte: Ein paar Schritte vom zentralen Dorfplatz in Vori entfernt gibt es ein sehr schönes Haus, dem man auch heute noch den Reichtum seiner einstigen und heutigen Bewohner ansieht. Eine hohe Mauer und ein großes Tor verwehren aber jeden Einblick in den Hof. Draußen an der Wand weist eine Tafel darauf hin, dass hier eine Familie von Rang zu Hause war und ist, die viele bedeutende Köpfe hervorgebracht hat – so auch den Arzt Charilaos Stephanides, der wiederum ein enger Freund des kretischen Schriftstellers Nikos Kazantzakis war, diesem engen Geistesverwandten Henry Millers. Aber die beiden Männer sind sich persönlich nie begegnet.

 

Kazantzakis war oft in dem kleinen Palazzo in Vori zu Gast. Despina, die Schwester von Alexandros, arbeitete in ihren jungen Jahren bei dieser vornehmen Familie als Dienstmädchen. Bei einer Abendgesellschaft mit vielen Gästen ergab es sich irgendwie, dass die Gäste aus Spaß und Zeitvertreib eine Wette abschlossen. Der Preis war ein sehr schönes rotes Samtkleid. Kazantzakis mogelte ein bisschen, er manipulierte die Wette, sodass keine der anwesenden vornehmen Damen das Samtkleid gewann, sondern das Dienstmädchen Despina.

 

Alexandros’ Schwiegertochter ging dann zu einem Schrank und holte das purpurrote Samtkleid hervor und breitete es vor mir aus. Es existierte also noch! Ich strich voller Ehrfurcht mit meinen Fingern über den samtenen Stoff, wie ich zuvor ebenso ehrfurchtsvoll mit den Augen über die tintenen Schriftzüge Millers geglitten war. Wie sinnlich nah war ich hier in Vori diesen beiden von mir so verehrten großen Autoren gewesen!