Krieg, Kunst und kaum noch Ressentiments
Wie die Kreter in den Bergen des Psiloritis mit den Erinnerungen an die deutschen Schreckensherrschaft 1941 – 44 umgehen
Es ist jetzt 71 Jahre her, dass die deutsche Wehrmacht das kleine Städtchen Anogia im kretischen Psiloritis-Gebirge verwüstet und viele seiner Einwohner umgebracht hat. Kommt man heute dorthin, wird man noch immer ein beklemmendes Gefühl nicht los. Die Männer des Ortes hatten sich während der deutschen Besatzung ganz besonders gegen die fremden Okkupanten gewehrt. Viele von ihnen gingen als Partisanen in die umliegenden Berge. Der Kommandant der „Festung Kreta“, der deutsche General Müller, hatte am 13. August 1944 verfügt: Da die Stadt Anogia ein Zentrum britischer Spionagetätigkeit sei und verschiedenen Widerstandsgruppen Unterschlupf gewährt habe, sei sie dem Erdboden gleichzumachen und jeder männliche Einwohner hinzurichten, der in dem Ort oder in dessen Umkreis angetroffen werde.
Der Befehl, der heute auf einer Tafel am Mahnmal gegen den Krieg vor dem Rathaus in Deutsch zu lesen ist, wurde mit deutscher Gründlichkeit umgehend ausgeführt. Alle 950 Häuser des Ortes wurden zuerst niedergebrannt und dann mit Dynamit gesprengt. 117 Menschen wurden hingerichtet, die anderen Bewohner waren in die Berge geflohen. Die Schaf- und Ziegenherden töteten die Wehrmachtssoldaten und vernichteten so auch die wirtschaftliche Basis der Stadt – eben Viehzucht und Wollverarbeitung. Der Krieg ist auch nach 71 Jahren hier noch allgegenwärtig. Kommt man mit den Menschen ins Gespräch, erzählen sie, wer von ihren Angehörigen damals ermordet wurde und wer durch Glück oder Zufall überlebte. Überall in der Stadt hingen im vergangenen Jahr anlässlich der 70. Wiederkehr des deutschen Überfalls Plakate, die Szenen des damaligen schrecklichen Geschehens zeigten und die Aufschrift trugen: „Anogia – Holocaust August 1944“. Mit diesem Wort, das eigentlich der Vernichtung der europäischen Juden durch die Nazis vorbehalten ist, bezeichnen sie die Zerstörung ihrer Stadt und die Ermordung der Menschen hier. Die Traumatisierung ist aber auch nach sieben Jahrzehnten nicht überwunden. Und dennoch ist man hier oben willkommen, was immer wieder verwundert.
Anogia ist das Zentrum der kretischen Musik, viele berühmte Musiker kamen von hier oben. Kretische Musik ist im Wesentlichen Lyra-Musik. Dieses dreiseitige Streichinstrument wird aufrecht auf dem Knie gehalten und mit dem Bogen gestrichen. Die Saiten werden seitlich mit dem Fingernagel berührt, also nicht niedergedrückt, was der Lyra einen harten metallenen Klang verleiht. Der Rhythmus wird in der Hauptsache von der Lauto gemacht, einer Laute mit vier Doppelsaiten. Bisweilen wird der Rhythmus auch von einer Trommel verstärkt, die mit der Hand oder einem Stock geschlagen wird.
Den größten Musikerruhm erlangte die Familie Xilouris. Nikos, ein begnadeter Lyraspieler und Sänger, der sich auch im Widerstand gegen die von 1967 bis 1974 herrschende Militärjunta hervortat, machte unter dem Familiennamen Xilouris Karriere und erlangte Weltruhm. Als er 1980 in New York starb, habe – so heißt es – ganz Kreta geweint. Sein Bruder Andonis, der sich Psarantonis nennt, war und ist nicht weniger erfolgreich, er gilt heute als der Vertreter der kretischen Musik schlechthin, obwohl er musikalisch und im Gesang ganz eigene Wege gegangen ist. Jüngere Mitglieder der Familie sind dabei, ebenfalls eine musikalische Karriere zu starten. Zu nennen sind aber auch die Namen von Berühmtheiten wie Skoulas, Skordalos, Giorgos Klados, Nikophoros Aerakis und viele andere – sie alle stehen für die einzigartige Musiktradition von Anogia. Dem viel zu früh verstorbenen Nikos hat man am Dorfplatz im unteren Teil des kleinen Städtchens ein Museum eingerichtet, das liebevoll die Erinnerung an diesen Ausnahmemusiker pflegt und fast wie eine Weihestätte wirkt. In Schaufenstern des Ortes hängt sein Porträtfoto direkt neben Heiligenbildern. Sein Grab in Athen ist noch immer eine Pilgerstätte für seine Anhänger.
Die Lyra ist aber viel mehr als ein Musikinstrument, sie ist nicht nur die Stimme Kretas, sie ist das Symbol der kretischen Identität schlechthin. Die Beziehung der Kreter zu diesem Musikinstrument ist hoch emotional. Denn es stellt mit seiner Musik auch eine Verbindung zur Vergangenheit her – sei sie nun ruhmvoll oder furchtbar. Dazu gehören bei der Darbietung dieser Musik die Mantinaden – halb gesprochene, halb gesungene lyrische Verse, das „Blut oder die Seele“ der kretischen Musik. Sie haben die Wechselfälle des Lebens zum Inhalt: Liebe und Tod, können aber wie die Risitikas, die auch zur Lyra gesungen werden, auch die Vergangenheit, Widerstand und Krieg behandeln. Thema sind immer wieder der grausame Kampf gegen die Türken, die hier Jahrhunderte herrschten, – aber auch die Schreckenszeit von 1941 - 1944, als die Deutschen die Insel besetzt hielten.
In vielen Liedern und Versen haben sich die Trauer, der Schmerz und die Verzweiflung über die Untaten der Germanos niedergeschlagen. Im Blick auf Hitlers Soldaten heißt es in einem Lied: „Die Barbaren haben Feuer angelegt,/ Unschuldige schont der Schuss des Deutschen nicht./ Ein Kulturland in Europa droben/ richtet alle internationalen Normen hin./ Schrecken haben sie verbreitet, Tote aufgehäuft,/ ließen niemand am Leben./Verflucht sei das Land, verdammt sein Stamm, auf dass Jahrhunderte vergehen ohne Vergebung.“ In einem anderen Risitiko aus dem Zweiten Weltkrieg heißt es: „Eine Schwarzgekleidete sitzt in Maleme und weint./ In ihren Armen hält sie einen toten Körper,/ sie wischt ihn mit Tränen/ und kleidet ihn in Rosenblätter./ Sie singt ihm Trauerlieder/ und spricht Tausende Verwünschungen aus./ Hitler, Du sollst niemals wiedergeboren werden.“ Die Nazis sind in diesen Liedern und Versen nur die „Hunde“, die „Barbaren“, die „Hunnen“.
Besucht man das von der deutschen Wehrmacht geschundene Anogia, dieses lang gestreckte Felsennest im Psiloritis-Gebirge, dann muss man unbedingt auch noch die letzten Kilometer in Richtung Gipfel zurücklegen, um die Nidda-Ebene zu sehen: eine von Bergen eingeschlossene Hochebene, auf der die Schaf- und Ziegenherden wie vor Jahrtausenden langziehen und die Hirten in selbst gebauten steinernen Rundhütten (den Mitatas, die es schon in der Minoerzeit gab) hausen. Eine archaisch-bukolische Welt, in der die Zeit still zu stehen scheint und die Ewigkeitscharakter zu besitzen scheint, weshalb sich schon vor Äonen der Mythos ihrer bemächtigt hat. Nicht irgendein Mythos, sondern die Phantasie der Griechen hat hier in diese majestätischen Berge in eine Höhle von gewaltigen Ausmaßen oberhalb der Ebene die „Kinderstube“ ihres obersten Gottes verlegt: des Weltenherrschers Zeus.
Weil sein Vater Kronos befürchtete, dass seine eigenen Kinder ihm die Herrschaft entreißen würden, wollte er sie auffressen. Seine Frau, die Göttermutter Rea, überlistete den Gatten und schob ihm statt der Kinder Felsbrocken in den Mund. Den kleinen Zeus versteckte sie in der Höhle hier. Weil der Kleine aber wie alle Kinder laut zu schreien pflegte, postierte sie vor der Grotte die Kureten – mythische engelsgleiche Gestalten, die dort tanzten und mit Stöcken und Schwertern auf ihre Schilde schlugen, um mit diesem Lärm das Geplärr des kleinen Gottes zu übertönen und ihn vor der Gewalt des Vaters zu schützen.
Die Nidda-Ebene wurde in den Jahren der deutschen Besetzung aus ihrem Ewigkeitsschlummer gerissen. Hier in den Bergen hatten sich die kretischen Partisanen (die Andarten) verschanzt und hier leisteten sie den Deutschen erbitterten Widerstand, den die Wehrmachtssoldaten grausam und furchtbar mit „Sühneaktionen“ bestraften – wie oben im Fall Anogia beschrieben. Auf der Nidda-Ebene sollten die Flugzeuge der Eroberer landen, aber die Kreter wussten es zu verhindern, indem sie dort große Felsbrocken verteilten. Erbittert wurde um dieses Bergland gekämpft.
Ende der 80er Jahre kam die Berliner Künstlerin Karina Raeck nach Anogia und war von tiefer Scham über das erfüllt, was ihre Landsleute hier angerichtet hatten. Sie wollte ein Zeichen der Versöhnung und Wiedergutmachung setzen. Ihr Vorhaben: Auf der Nidda-Ebene am Fuße eines nach Norden sich erstreckenden Berges eine Figur aus Steinen auszulegen, die alles zusammenfasste, was diese Bergregion ausmacht: den antiken Mythos ebenso wie die Schrecken des Krieges. Dieses Projekt durchzusetzen war nicht so einfach in der patriarchalischen Männerwelt der Kreter dort oben. Aber sie schaffte es und so entstand mit Hilfe der Schäfer, die die schweren Steine heranschleppten und positionierten, in zweijähriger Arbeit direkt gegenüber der Zeushöhle die Figur des „Unsterblichen Partisanen“ (Athanatos Andartis) – ein riesiger liegender engelgleicher, geflügelter und tanzender Kurete, der die Arme weit ausstreckt und mit der einen Hand den Saum des Berges berührt.
In der Brust klafft dem Riesen, der die Maße 32 x 9 Meter hat, ein tiefer Riss – Erinnerung an einen Partisanen aus Anogia, der bei den Kämpfen am Oberkörper schwer verwundet worden war, sich in einer Höhle vor den Deutschen verstecken musste und von Frauen nachts versorgt wurde. Karina Raeck versteht diesen Riss aber auch als Symbol für die tragische und so folgenschwere politische Spaltung des griechischen Volkes, die bis heute anhält und ihren schrecklichen Höhepunkt im Bürgerkrieg 1944 – 1949 fand. Heute ist es gar nicht leicht, den „unsterblichen Partisanen“ zu finden. Machia und hohe Disteln haben ihn inzwischen überwuchert – er ist ein Teil der Natur der grandiosen Nidda-Ebene geworden. Was aber ganz im Sinne der Künstlerin ist: „Er soll ein Teil der Landschaft, der Mythen und der Geschichte dieser einzigartigen Bergwelt sein“ sagt sie heute.
Als ich in diesem Jahr durch Anogia schlenderte, blieb ich an einer Mauer stehen, weil quer durch die steinernen Schichten ein tiefer Bruch geht. Vielleicht die Folge eines Erdbebens, dachte ich, die in dieser Gegend ja sehr häufig sind. Ein älterer Mann stand plötzlich neben mir. Als hätte er meine Gedanken erraten, sagte er: „Das war kein Erdbeben, sondern es waren die deutschen Soldaten, sie wollten die Mauer mit Dynamit sprengen, haben es aber nicht geschafft. Der Riss erinnert an diese unsinnige Tat.“ Der Mann fällt durch einen breitrandigen Strohhut auf, der ihm ein fast großbürgerliches Aussehen verleiht. „Vielleicht haben Sie Lust, mein kleines Museum anzusehen, das nur wenige Schritte entfernt ist.“ Wir gehen zusammen dorthin und erst jetzt, als ich vor dem kleinen modernen Flachbau stehe, verstehe ich, wer mich angesprochen hat: der Sohn des berühmten kretischen Malers Alkibiades Skoulas. Der „jüngere“ Skoulas ist auch schon über achtzig Jahre alt und stellt sich als „Georgios Skoulas“ vor.
Gegenüber dem Museum, auf der anderen Seite der Straße, ist der Alte in einer Steinbüste verewigt: ein knorriger und herrischer kretischer Patriarch, das Gesicht von Wind und Wetter zerfurcht. Auf alten Fotos tritt er so hervor wie die älteren Männer früher hier alle gekleidet waren: ganz im traditionellen Schwarz, wozu auch das schwarze Kopftuch, die Pluderhose, die schwarzen Stiefel und der Stock gehörten. Im Ort nannte man ihn „Grilios“, die Grille. Lange schon muss er auf dem Friedhof von Anogia ruhen, denn er wurde 1902 geboren. Als junger Mann tat er das, was die meisten jungen Männer damals (und zum Teil auch heute noch) taten – er ging in die Berge und hütete Schafe und Ziegen, stellte Käse her, seine Angehörigen kamen mit Eseln herauf, versorgten ihn mit dem Nötigsten und holten den Käse ab.
Karg und einfach ist das Leben hier oben, denn außer Schafen und Ziegen, den Oliven und dem Wein und dem Raki gibt es hier nicht viel. Bis zu seinem 65. Lebensjahr führte Grilios dieses Hirtenleben. Sechs Söhne und drei Töchter hat er in die Welt gesetzt, die ihm 40 Enkel schenkten. Als er 65 wurde, war Grilios das Leben in den Bergen leid, er machte ein Kafenion am Dorfplatz auf und übergab es seinem Sohn. Er selbst saß herum und wusste nichts Rechtes mit sich anzufangen. Die Wende leitete ein Tourist ein, der ihn im Kafenion mit ein paar Strichen gezeichnet hatte. Grilios war fasziniert von dieser Fertigkeit, ging nach Hause und versuchte sich nun selbst wie ein Besessener in dieser Kunst. Als er Fortschritte in seiner Arbeit sah, kaufte er sich Farben – einfache Lackfarben, mit denen man auch Fenster und Türen streicht – und begann zu malen. Ein Spätberufener sozusagen, der mit plakativen Farben in fast einfältig naiver Weise ohne Perspektive (wobei wohl die Ikonen als Vorbild dienten) und zumeist in mehreren Bildetagen alles auf Holz, Stein und Pappe brachte, was er um sich herum sah und erlebte: Das Leben der Bauern und Hirten in den Bergen, Szenen aus dem Ort und aus der Geschichte der Region. Grilios griff auch zum Schnitzmesser und zu Hammer und Meißel und schuf Skulpturen von Menschen aus seiner Umgebung: ebenso naiv und eindimensional gestaltet, aber voller Leben und humorvollem Hintergrund.
Grilios nahm sich aber vor allem auch des Themas an, das hier alle Menschen zutiefst berührt: der deutsche Überfall auf den Ort im August 1944. Er selbst kannte den Krieg aus eigener Anschauung, denn er hatte als Partisan in den Bergen gekämpft, als die Deutschen die Stadt in Schutt und Asche legten und viele Menschen als „Sühneopfer“ umbrachten. Auf Grilios‘ Bildern kann man die Angriffe der deutschen Luftwaffe auf den Ort sehen, die Invasion der Soldaten und den Abwehrkampf der Partisanen. Auf einem Bild schildert er, wie die Männer, Frauen und Kinder unter Führung des Popen in die Berge fliehen – in der Ferne sieht man die deutschen Soldaten schon auf den Ort anrücken, der noch unversehrt dasteht. Diese Bilder sind anrührende Zeitdokumente, die klar machen, wie furchtbar der deutsche Angriff in das Leben der Menschen hier eingegriffen hat und für sehr lange Zeit seine traumatischen Spuren hinterlassen hat.
Grilios wurde auf seine alten Tage noch eine Berühmtheit. Die Galerien in Heraklion und Athen zahlten für seine Bilder hohe Preise und sie gingen in alle Welt. 1984 konnte er sich von den Honoraren das kleine Museum bauen, in dem ich die Hinterlassenschaften des Alten bestaunte. Es beherbergt die Werke, von denen er sich nicht trennen wollte. Der Sohn Georgios verwaltet und pflegt das Erbe mit großer Liebe. Zum Abschied griff er zur Lyra und spielte und sang für den Gast ein paar Lieder. Ich habe ihre Texte nicht verstanden, aber an dem schelmischen Lächeln auf seinem Gesicht konnte ich sehen, dass es diesmal nicht um die Grausamkeit des deutschen Überfalls ging, sondern um agapi, das uralte Thema Liebe ...
Dies ist ein Kapitel aus meinem Buch Wenn Zeus Europa nicht entführt hätte. Kreta im Spiegel von Mythos, Geschichte, Politik und Erleben, Dr. Thomas Balistier Verlag, ISBN 978-3-937108-36-0, 12,80 Euro