„Deutscher Held“ oder krimineller Psychopath?

An Martin Luther scheiden sich die Geister / Eine Nachbetrachtung zum Jubiläumsjahr der Reformation

Es sollte eine großartige PR-Kampagne in eigener Sache werden – eben für die evangelisch-lutherische Kirche, aber als nach dem 30. Oktober (dem Reformationstag, an dem Martin Luther vor 500 Jahren seine 95 Thesen an die Wittenberger Schlosskirche angeschlagen haben soll) die Kirchenoberen Bilanz zogen, mussten sie kleinlaut eingestehen, dass das Jubiläumsjahr trotz Einsatz großer Geldmittel doch nicht der große Renner gewesen war. Luther zieht die Menschen des 21. Jahrhunderts nicht so in ihren Bann, wie man sich das an der Kirchenspitze erhofft hatte.

Sogar einen Film über das Leben des Reformators hatte die evangelische Kirche mitfinanziert, aber auch der kam beim Publikum nicht so recht an. Die Kritiker waren sich weitgehend einig: er wird dem Leben und Wirken Luthers nicht gerecht, denn er verschweigt wesentliche Inhalte seiner Weltanschauung und seines Menschenbildes. Und das war und ist wohl auch die Krux des Jubiläumsunternehmens: den „ganzen“ Luther kann die Kirche gar nicht vorzeigen (sie konnte das nie), denn zu mittelalterlich-rückwärtsgewandt und menschenfeindlich ist die wirkliche Lehre dieses Mannes, den Friedrich Nietzsche deshalb ein „Unglück von einem Mönch“ nannte.

Der Theologe und Kirchenkritiker Hubertus Mynarek spricht davon, dass eine Kirche, die sich von einer Gestalt wie derjenigen Luthers herleitet, eine riesenschwere, fatale Hypothek mit sich trage: „Der düstere, blutrünstige, bluttriefende Schatten des ‚Reformators‘ lastet unheilschwanger über dieser ‚Kirche‘ und ihren Verkündern und Anhängern. Luther erfüllt ja auch fast jeden kriminellen Tatbestand in puncto fünftes Gebot [Du sollst nicht töten!] Er müsste nach allgemeinem heute propagiertem Rechtsbewusstsein und -empfinden, wenn dies keine parteilichen Ausnahmen einbaut, ins Gefängnis oder in die Psychiatrie. Er ist das klassische, unüberbietbare Musterbeispiel grenzenloser Intoleranz. An sich müsste jeder evangelische Christ, der sich das klarmacht, aus seiner Kirche austreten. An sich müsste auch eine Kirche wie die evangelisch-lutherische, die derart maßgebend von Luther als ihrem Stifter und Lehrer abhängt, als verfassungsfeindlich und kriminell eingestuft werden.“

Das sehen führende Kirchenobere natürlich ganz anders, sie preisen ihren Luther in sich überbietenden Superlativen: als Vorläufer der Neuzeit und Moderne, der den Weg zu Aufklärung, Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft gewiesen habe. So erklärte der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland Heinrich Bedford-Strohm, dass Luther mit der Reformation wichtige Akzente für die heutige demokratische Zivilgesellschaft gesetzt habe, weil er stets mit der Heiligen Schrift argumentiert, nur seinem Gewissen gefolgt und Gewalt abgelehnt habe. Und die frühere Bischöfin und Repräsentantin der

Evangelischen Kirche für das Lutherjahr Margot Käßmann sagt: „Luthers Freiheitsbegriff hat große Konsequenzen nach sich gezogen. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit als Parole der Französischen Revolution hat im Gedanken der Freiheit eines Christenmenschen durchaus Wurzeln. Am Ende ist der Bogen bis zur Aufklärung zu spannen.“ Darf man die frühere Bischöfin daran erinnern, dass die Aufklärung gegen den erbitterten und allergrößten Widerstand der beiden Großkirchen durchgesetzt wurde? Ja, dass das finstere christliche Weltbild überhaupt erst der Anlass war, dass die Aufklärung nötig wurde?

Auch die Bundesregierung ließ es sich nicht nehmen, in den Jubelchor über das Reformationsjubiläum einzustimmen. Sie stellte nicht nur beträchtliche Geldmittel für die Organisation des Reformationsjubiläums zur Verfügung, sondern ließ in einer offiziellen Stellungnahme auch verlauten: „Die Bundesregierung lässt sich bei ihrer Mitwirkung an der Vorbereitung und Durchführung des Reformationsjubiläums von folgenden Überlegungen leiten: „Die Aufklärung und die Menschenrechte wurden durch die Reformation entscheidend beeinflusst.“

Bei so viel Lob und Preisung auf der einen und so viel radikalem Widerspruch auf der anderen Seite muss man fragen, was hat Luther denn nun wirklich gesagt, geschrieben und gelehrt? Ohne einen Blick auf sein Weltbild zu werfen, kann man den Streit gar nicht verstehen. Er geht von einem sehr kruden Gottesbegriff aus. Sein Gott ist ein allmächtiger, grausamer und unberechenbarer Despot und Tyrann. Er ist der Allmächtige und Allein-Wirksame, der alles bestimmt und schafft – auch das Gute und Böse. Alles Geschehen in der Welt und alles, was dem Menschen als zufällig und veränderbar erscheint, geschieht aus einer notwendigen und unausweichlichen, ehernen und unveränderlichen Notwendigkeit heraus, die der Wille dieses Gottes diktiert. Angesichts eines solch übermächtigen göttlichen Tyrannen ist der Mensch ein Nichts, ein Sünder, ein total Verdorbener, ein Gefallener und ewig Scheiternder, der nichts für seine Erlösung und sein Heil tun kann, denn der Willkürgott verteilt seine Gnade ganz ungerecht an wen er gerade will.

Dieser Glaube an die Rechtfertigung allein aus Gnade – die Taten und Verdienste des Menschen spielen da keine Rolle – steht im Zentrum von Luthers Theologie. Auch Prädestination gehört zur Willkürherrschaft dieses Gottes: Er bestimmt aus seinem Willen heraus ohne jede Rücksichtnahme, wer dem Heil oder der ewigen Verdammnis anheimfällt – und das lange bevor die Menschen überhaupt auf der Erde als Lebende erscheinen. Ihr Schicksal steht also schon vor ihrer Geburt fest. Milde (nicht Gnade) erfährt der Mensch allein durch Jesus‘ Opfertod, der den Gott versöhnt hat und deshalb kreidet Gott dem Menschen seine Schuld nicht an.

Ein solche äußerst negatives und pessimistisches Gottes- und Menschenbild erscheint heute als lebens- und realitätsfremd, ja als völlig absurd, aber es hat schwerwiegende, ja fatale politische und historische Folgen gehabt. Denn diese Theologie hat weitere Aussagen zum Inhalt, die tief und prägend in das Leben der Deutschen (und auch anderer Völker) eingegriffen haben. Eine sehr wichtige Aussage ist: Angesichts der totalen Übermacht dieses Willkürgottes kann es keine freie Entscheidungsfähigkeit (also Willensfreiheit) des Menschen geben. Luthers „Freiheit eines Christenmenschen“ ist also eine nur sehr beschränkte Glaubensfreiheit ohne wirkliche Willens- und Wahlfreiheit im realen Leben. Entscheidend ist nur der Wille Gottes – sei dieser auch noch so sinnlos, unvernünftig und gesetzlos. An ihm hängen die Menschen wie die Marionetten an ihren Strippen.

Damit ist das Stichwort Vernunft gegeben. Luther hat in diesem Punkt eine klare Position: Da der Mensch ein verdorbenes, hinfälliges Wesen ist, so kann auch die Vernunft nichts anderes sein. Sie kann keinerlei Erkenntnisse schaffen – weder in den „himmlischen“ (göttlichen) Dingen noch in den irdischen. Sie ist ein Nichts, „eitel Gotteslästerung“, sie ist eine „Teufelsbraut“ und „Teufelshure“. Auch dies ist eine sehr folgenreiche Aussage, denn ohne Vernunft kann es keine Wissenschaft und keinen Staat geben, weil eine politische Ordnung (wenn sie den Namen verdient) Normen, Gesetze und Werte braucht, die ja letzten Endes die Ratio als Grundlage haben. Und Luther stellt sich an dieser Stelle selbst ein erkenntnistheoretisches Bein: Ohne Zuhilfenahme der Vernunft kann er nicht einmal seine eigene Lehre begründen.

Folgt aus der Anwendung der Vernunft automatisch die Ableitung der Gleichheit aller Menschen und des Gedankens der Demokratie und der Menschenrechte, so ergibt sich umgekehrt aus ihrer Ablehnung und Verachtung die Schlussfolgerung der totalen Ungleichheit, in diesem Fall  von Herrschenden und Untertanen. Luther steht voll hinter dem Paulus-Wort, dass der Christ der von Gott gesetzten Obrigkeit bedingungslos gehorchen muss, was bedeutet, dass die Obrigkeit machen kann, was sie will, ihr ist alles erlaubt, es gibt für sie keine gesetzlichen oder moralischen Schranken. Und der Untertan hat sklavisch Gehorsam zu leisten. Das ist die völlige Perversion des aufklärerischen Gedankens, dass jeder Mensch ein Recht auf Freiheit, Gleichheit und Würde hat.

Diese letzte Aussage gilt auch für Frauen. Sie sind für den Reformator Wesen von minderem Wert: „Gott hat das Weib geschaffen, dass es soll bei dem Manne sein, Kinder gebären und Haushaltung verwalten“, schreibt er wörtlich. Eigentlich, so wiederholt er immer wieder, sind Frauen überflüssig, aber der Mann braucht sie eben zum Gebären, für das Haus und zur Befriedigung der „Geschlechtslust“. Und wenn Frauen im Kindbett sterben, dann ist das – Gipfel des Zynismus – auch nicht schlimm. Er konstatiert: „Ob sie sich aber auch müde und zuletzt tot tragen, das schadet nichts; lass sie sich nur tot tragen, sie sind drum da. Es ist besser, kurz gesund denn lange ungesund zu leben.“ Ein solches Sterben ist „wesensmäßig im edlen Werk und Gehorsam Gottes.“ Die Ehe ist für ihn eigentlich Sünde, weil sie „Hurerei“ ist, aber sie ist sozusagen von Gott erlaubte Hurerei, weil sie „Arznei für die brünstige Natur“ und zum Zeugen von Nachwuchs nötig ist. Für Ehebruch fordert er die Todesstrafe.

Und wenn Gott eine so ungerechte soziale Ordnung gutheißt, dann kann Luther gegen alle Minderheiten, die nicht vorbehaltlos seinem Glaubenssystem anhängen, in intolerantester Weise hetzen und ihnen sogar mit der „Ausrottung“ drohen. Aus seiner Staatsauffassung (die Untertanen sind der Obrigkeit zum absoluten Gehorsam verpflichtet) folgt sein Hass auf die rebellischen Bauern, die sich zu seiner Zeit in Aufständen gegen ihre ruchlose Ausbeutung durch die Fürsten erhoben hatten. Er bezeichnet sie als „Teufel“ und ruft seine Zeitgenossen zur Lynchjustiz, ja zu ihrer Vernichtung auf: „Drum soll hier zuschmeißen, würgen und stechen, heimlich oder öffentlich, wer da kann. (…) Gleich als wenn man einen tollen Hund totschlagen muss.“

Eine andere Gruppe, über die er seinen Zorn und seinen Hass ausgießt, sind die Juden. Sein fanatischer Antijudaismus bzw. Antisemitismus (und in seinem Gefolge der der evangelisch-lutherischen Kirche) hat die furchtbarsten Folgen gezeitigt. Die Juden sind für ihn „leibhaftige Teufel“, sie sind „durstige Bluthunde“ und „Mörder der ganzen Christenheit mit vollem Willen“. Er ruft die Herrschenden geradezu zu Pogromen auf. Er schreibt: „… dass sie [die Juden] 1400 Jahre unsere Plage, Pestilenz und alles Unglück gewesen sind und noch sind.“ Er fordert dazu auf, „dass man ihre Synagogen und Schulen mit Feuer anstecke, und was nicht brennen will, mit Erde überhäufe und beschütte, dass kein Mensch einen Stein oder Schlacken davon sehe ewiglich. Und solches tut man unserem Herrn und der Christenheit zu Ehren.“ An anderer Stelle fordert er dazu auf, „ihre Häuser zu zerstören und die dann obdachlosen Juden in einen Stall zu sperren wie die Ziegen.“ Seine letzte Option ist aber die Vernichtung: „Wenn der Jude sich nicht zum Christentum bekehrt, ist er des Teufels oder ein Teufel und soll er dann entsprechend bestraft oder getötet werden.“

Mit demselben Hass und Vernichtungsaufrufen geht er gegen andere „Aufrührer“ vor: die Wiedertäufer, Thomas Münzer, die Philosophen (als Vertreter der Vernunft) und die Humanisten (darunter auch Erasmus von Rotterdam). Letztere schätzten die Fähigkeit des Menschen, zu einer besseren Existenz zu finden, optimistisch ein. Vor allem über die Bildung sollte dieses Ziel erreicht werden. Eine Position, die Luthers Ambitionen völlig widersprach. Seine Reformation änderte auch nichts am Hexenglauben der katholischen Kirche. Die Verfolgungen nahmen nach der Reformation eher noch zu. Luther selbst exkommunizierte in Wittenberg Hexen und trat für die Einäscherung der „Teufelshuren“ ein.

Diese kurze Beschreibung von Luthers Welt- und Menschenbild reicht aus, um zu belegen, dass es mit dem Denken der beginnenden Neuzeit, geschweige denn mit der Aufklärung und der Moderne nichts zu tun hat. Luther ist geistig – auch wenn er sich gegen den Ablasshandel des Papstes aufgelehnt hat – noch tief dem mittelalterlichen Denken verhaftet. Es ist kaum verständlich, dass sich der Protestantismus noch heute auf Luther beruft, der eine Lehre vertrat, über die der Sozialwissenschaftler Alexander Rüstow festgestellt hat, dass der Protestantismus ein „energischer Protest zurückgebliebener Geister“ sei, welche die Weltanschauung des Mittelalters noch keineswegs satt hatten und die Zeichen seiner Auflösung (…) statt mit Frohlocken, wie es sich gebührt, mit tiefem Unmut empfunden hätten.

 Hubertus Mynarek fasst die fatalen Folgen von Luthers Lehre und Wirken so zusammen: „Indem Luther die Glaubensfreiheit in widernatürlicher Weise von der politischen und gesellschaftlichen Freiheit abtrennte, hat er die sozialökonomische Befreiung der arbeitenden Volksschichten in Deutschland für den Zeitraum ganzer Jahrhunderte blockiert, auf jeden Fall die optimalen Stichworte dazu gegeben. Durch sein reaktionäres Verhalten in Wort und Tat blieb die Volksmehrheit an den religiösen, politischen und gesellschaftlich-ökonomischen Entscheidungen der nächsten Jahrhunderte so gut wie gänzlich unbeteiligt. Es bedarf keiner großen Phantasie, um sich die Folgen der Ethik Luthers für die Politik auszumalen. Jedenfalls bedeutete seine radikale Trennung von religiöser und politischer Freiheit, sein damit verbundenes Axiom, dass der Christ im weltlichen Bereich der von Gott gesetzten Obrigkeit unbedingt zu gehorchen habe, praktisch die Freisetzung und Legitimierung jeder politischen Handlungsweise der Herrschenden.“

Mit seinem Dogma der von Gott gegebenen Ordnung, in der die Untertanen der Obrigkeit blind zu folgen haben, trägt Luther große Verantwortung für die verhängnisvollsten politischen Entwicklungen und Traditionen in Deutschland – vom preußischen feudalen Obrigkeitsstaat bis zum Hitler-Faschismus. Politische Befreiung oder Emanzipation durch Rebellion oder Revolution – oder auch nur durch Opposition – kann und darf es nach dieser Lehre nicht geben. Sie wären „Teufelswerk“. Der Untertan hat sich unpolitisch zu verhalten, sich ins unpolitische Private zurückzuziehen und das Maul zu halten, das war für Jahrhunderte das negative politische Leitbild in Deutschland. So war Luther auch der Schöpfer der deutschen Innerlichkeit mit ihrem Biedermeier-Hintergrund – ein erzwungener Rückzug des Bürgers in das Idyll der Familie als erzwungene Flucht vor der untersagten Teilnahme an der res publica, eben der Politik. Denn Freiheit gibt es für den Wittenberger Reformer im politischen Raum nicht, sondern nur (als sehr eingeschränkte) im Glauben. Thron und Altar sollen in schöner Zusammenarbeit das Leben der Menschen bestimmen – im Grunde bis heute, denn eine klare und eindeutige Trennung von Staat und Kirche gibt es laut Grundgesetz nicht.

Dass die evangelisch-lutherische Kirche auch Luthers Antisemitismus übernommen hat, auf den sich dann auch die Nazis berufen konnten und der letzten Endes den Weg nach Auschwitz mit bereitet hat, ist das schlimmste Vermächtnis des Reformators. Es bleibt aber die entscheidende Frage: Wieso halten die Kirchenoberen an einer so unmenschlichen Lehre fest? Im Grunde, schreibt Hubertus Mynarek, hat die lutherische Kirche längst vor der Gottesproblematik im Allgemeinen und der Luthers im Besonderen kapituliert. Aber wer gibt schon gern ein so gut funktionierendes Privilegien-System auf? Und die Laien – warum wissen sie von all dem nichts und ziehen die nötigen Konsequenzen? Die Antwort auf diese Frage kann nur die „Heuchelei der doppelten Wahrheit“ sein. Das heißt: Es gibt eine Wahrheit für die Theologen, die Bescheid wissen, und eine andere für die Laien, die von all dem nichts wissen und auch nichts wissen sollen, aber mit ihrem Glauben und ihrem Geld die Fundamente der Kirche tragen. Obrigkeit und Untertanen eben – wie gehabt.