Ludwig Roselius, die Böttcherstraße und das Haus Atlantis
Vortrag vor Religionswissenschaftlern am 10.10.2008 im Himmelssaal des Hauses Atlantis in der Bremer Böttcherstraße
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte Ihnen einige Erläuterungen zur Idee der Böttcherstraße, dieses Hauses (des Hauses Atlantis) und dieses Raumes (des so genannten Himmelssaales) geben. Dabei muss ich zuerst auf den Mann eingehen, dessen alleiniges Werk Straße und Haus sind. Es handelt sich um den Bremer Unternehmer Ludwig Roselius (1874 - 1943). Dieser Geschäftsmann und Industrielle war eine äußerst dynamische, durchsetzungsfähige und machtbewusste Persönlichkeit Sein Vater hatte ihm eine Kaffeerösterei vererbt, er hatte eine Kaufmannslehre durchlaufen und dann den väterlichen Betrieb übernommen. Er selbst oder seine Angestellten (so genau weiß man das nicht) machten dann eine für die damalige Zeit revolutionäre Erfindung: Sie entwickelten das Verfahren, wie man koffeinfreien Kaffee herstellt. Das war eine Gesundheit versprechende Erfindung, die gut in die Zeit der Lebensreformbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts passte.
Roselius’ Firma Kaffee HAG expandierte zu einem industriellen Großbetrieb. Sein Produkt – der koffeinfreie Kaffee wurde, das ist nicht übertrieben – ein Welterfolg und Roselius einer der reichsten Männer Deutschlands, der sich mit den Krupps, Flicks und Thyssens auf eine Stufe stellen konnte. Er lieferte – auch hier ein Pionier – gleich die Methode mit, wie man das Produkt seiner Firma am besten vermarkten konnte. Er entwickelte – in heutiger Sprache ausgedrückt – ein Werbe- oder Marketing-Konzept für seinen Kaffee. Er nannte es aber „Propaganda“ und verfasste zu diesem Thema auch einige Schriften, wie man Menschenmassen auch gegen ihren Willen suggestiv von einer Sache überzeugen konnte. Diese Darlegungen waren so gekonnt, dass die Nazis – vor allem Goebbels – später bekannten, sie hätten in dieser Beziehung viel von ihm gelernt.
Dieser Ludwig Roselius hatte aber neben seiner rational-kalkulierenden, gewinnorientierten und vorausschauenden Unternehmersicht auch noch eine ganz andere Seite, die man eher als rückwärtsgewandt und irrational bezeichnen kann. Er war ein gläubiger, ja fanatischer Anhänger der völkischen Weltanschauung.
Ich kann hier nicht ausführlich auf diese Ideologie eingehen, die seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts in Deutschland auftrat, und will nur einige Stichworte anführen, die sie charakterisieren und die zum Verständnis der Straße unbedingt nötig sind. Die völkische Bewegung war in ihrem Gedankengut keineswegs ein einheitlicher und monolithischer Block, sondern setzte sich aus sehr heterogenen Elementen zusammen. Wenn man sie überhaupt einem sozialen Milieu zuordnen kann, dann hatte das bürgerlich-protestantische Milieu konservativen Zuschnitts ein eindeutiges Übergewicht. Der Brockhaus von 1938 definierte das Adjektiv „völkisch“ als „die seit 1875 aufgekommene Verdeutschung des Wortes ‚national’ im Sinne eines auf dem Rassegedanken begründeten Nationalismus.“
Der Rassismus war auch in Form des Antisemitismus neben den Schwerpunkten alldeutsch bzw. pangermanisch, lebensreformerisch und eugenisch das beherrschende Element der völkischen Ideologie. Diese Weltanschauung nahm die Form einer Heilslehre an, weil ihre Dogmen im Sinne der völkischen Rassenlehre religiös aufgeladen wurden. Rasse und Religion bildeten die beiden Achsen des weltanschaulichen Koordinatensystems der völkischen Bewegung. Das religiös überhöhte Rassendogma besagte, dass das Heil für Deutschland und die Welt nur aus dem „rassereinen Blut“ kommen könnte. Ziel dieser Bewegung war – bei all ihren Differenzen – eine großdeutsche Volksgemeinschaft, die auf völkisch und sozialer, auf judenreiner, echt deutscher Grundlage“ errichtet werden sollte.
Man muss ein bisschen danach suchen, was angesichts der Vielfalt der völkischen Bewegung die geistige Quelle war, aus der Roselius am intensivsten geschöpft hat. Er selbst hat darüber in den vielen von ihm verfassten Artikeln und Büchern nichts verraten – wohl aus Eitelkeit, weil er als origineller Geist auftreten und in die Geschichte eingehen wollte. Ich denke, dass man aber sagen kann, dass sein Weltbild vor allem von drei Personen beeinflusst worden ist: von dem völkischen Ideologen Julius Langbehn (1851 – 1907), dem Komponisten Richard Wagner und dem deutsch-niederländischen Germanenschwärmer Herman Wirth. Aus den Gedankengebäuden dieser drei Männer hat sich Roselius sein Weltbild zusammengemischt, das bei ihm zu einer fanatisch vertretenen völkischen Religion wurde, deren Anteile sich dann alle in dem Konzept dieser Straße und dieses Hauses wiederfinden. Ich werde das noch im einzelnen erläutern.
Verwundern muss, dass sich ein eigentlich doch nüchterner, weil profit- und zukunftsorientierter Industrieller und Kapitalist wie Roselius, der als Unternehmer mit beiden Beinen im modernen Wirtschaftsleben stand, sich einer so abstrusen Lehre wie der von Julius Langbehn zuwandte, die dieser in seinem Bestseller „Rembrandt als Erzieher“ niedergelegt hatte und die man heute allgemein als „Kulturpessimismus“ bezeichnet. Der Historiker Fritz Stern hat darauf hingewiesen, das diese Richtung der völkischen Bewegung ganz maßgeblich zu den „Bedingungen gehörte, die 1933 und das auch viel schlimmere 1938 und 1939 in Deutschland möglich gemacht haben.“ Der Kulturpessimismus wurde denn auch von den Nationalsozialisten als wesentlicher Teil ihres Erbes anerkannt.
Stern setzt die Entwicklung in Deutschland von der im „Westen“ ab: „Der Westen – das ist Aufklärung, Rationalität, Parlamentarismus, Liberalismus, ökonomischer Fortschritt.“ All das gab es in Deutschland natürlich auch, aber es macht nur einen Teil der deutschen Wirklichkeit aus, hier gab es auch viel romantische Sehnsucht nach der Vergangenheit, die Konfrontation von „Natur“ und „Kultur“ wie auch von „Kultur“ und „Zivilisation“, und die sittliche Idee wird nur zum Teil im komplizierten Getriebe der bürgerlichen Gesellschaft gesucht. So weit Fritz Stern.
Der Kulturpessimismus resultierte aus der Enttäuschung über die Kultur des Kaiserreiches, über die Tatsache, dass sich unter der dünnen Schale einer gewinnbringenden Politik das alte Deutschland auflöste, auseinandergerissen wurde von der Modernität und ihren Ismen – eben vom Liberalismus, Säkularismus, Industriealismus, dem Gegensatz von Stadt und Land, der Parteiendemokratie und der Wissenschaft mit ihrer kalten Rationalität. Man klagte über den Niedergang des deutschen Geistes, über die Verdrängung des Idealismus durch den Realismus in der Politik und den krassen Materialismus im Wirtschaftsleben. So sah es auch Langbehn.
Für ihn konnte eine Erneuerung oder Wiedergeburt Deutschlands nur direkt aus dem Volk kommen – eine Kategorie, die natürlich rassisch besetzt war. Dieses Volk – lebend auf der Scholle seiner angestammten Heimat – verkörperte sich für ihn vor allem in den Bauern und ganz besonders in den durch die Zivilisation noch ganz unverdorbenen „niederdeutschen“ Bauern der großen nordwest-deutschen Tiefebene. Der „Niederdeutsche ist der edelste Menschentyp überhaupt“, ihr Prototyp ist der „deutsche“ Künstler Rembrandt. Natur, Landschaft und Rasse hängen nach dieser Vorstellung ganz eng zusammen und schaffen ihren eigenen Rassetyp.
Aus der Gemeinschaft oder dem Volk dieser Edlen sollten auch die Rettung und Erlösung kommen – durch die Kunst, die die verhasste moderne Kultur überwinden sollte. Denn die Ursprünglichkeit dieses Volkes würde Künstler hervorbringen, die einen künstlerischen Stil und Formen schaffen würden, die „ausschließlich deutsch“ wären. Und umgekehrt könne auch das einzigartige deutsche Wesen nur durch diese Kunst begriffen werden. Eine solche „völkische Kunst“ zeichnete sich als einzig möglicher Religionsersatz ab, sie sollte zur Verkörperung des „nationalen Wesens“ werden.
Dieser Mythos war zugleich eine Waffe gegen alles Fremde, vor allem gegen die Juden, die mit keinem Boden verwachsen waren. Sie waren für Langbehn die Verkörperung der verachteten Moderne. Bei ihm fällt zum ersten Mal das Wort vom „Ausrotten“. Dass er auch von einem „Führer“ und der „deutschen Weltherrschaft“ schwärmte, rundet das Bild von diesem völkischen Ideologen ab.
Alle diese Ideen tauchten auch bei Roselius wieder auf und spielten auch beim Bau der Böttcherstraße eine wichtige Rolle. Er war geradezu besessen von der Idee des „Niederdeutschen“, wobei „niederdeutsch“ bei ihm begrifflich identisch war mit „arisch“ und „nordisch“. Er vermisste in seiner Gegenwart den großen Zusammenhang einer Nationalkultur, die Erkenntnis eines verpflichtenden Erbes, wie es das in früheren Epochen gegeben habe, und vermeinte, beides im „Niederdeutschen“ als verpflichtendes Vermächtnis entdeckt zu haben. Dass die Weltkultur von Nord- und Niederdeutschland ihren Ausgang genommen hatte, stand für ihn fest. Und England und die USA waren für ihn durch die Auswanderung der Angeln und Sachsen aus Niederdeutschland dorthin rein „niederdeutsche Gründungen“.
Was Roselius hier vertrat und mit dem Bau seiner Straße demonstrieren wollte, war – im Zeichen der Neu- oder Spätromantik – die Wiederbelebung des Mythos. Der Politologe Martin Greiffenhagen hat das Phänomen im Zusammenhang der Zeit so beschrieben: „In dem Maße, wie durch den verloren gegangenen Weltkrieg, Inflation und Arbeitslosigkeit das ökonomische System Deutschlands bedroht war und weder von Homogenität des Volkes noch von der Kraft einer Religion etwas zu spüren war, versuchten die Konservativen, ein ganzheitliches Gefüge wieder zu gewinnen.“ Eben durch den Mythos, denn: „Wenn die Lage prekär wird, appelliert man an den Mut zum Mythos. Der Ursprungsmythos sollte aus der historischen Misere durch schöpferische Impulse befreien und zurück zur natürlichen Identität führen.“ Durch seine „erb-erinnernde“ Vergegenwärtigung hofften die Vertreter und Anhänger des Mythos, Kraft zu schöpfen für die neue Zukunft, die zugleich mit dem „uraltem Wahren“ identisch sein sollte.
Der Religionsphilosoph Paul Tillich hat diesen Vorgang sehr treffend so beschrieben: „Die Romantik – auch die späte – ist eine Geisteshaltung, die, statt sich auf das Abenteuer der Selbstbestimmung einzulassen, es vorzieht, bei den Ursprungsmächten des Bodens, der Abstammung und der tradierten Gemeinschaft und ihren Sitten und Satzungen Zuflucht zu suchen, und, da es diese Ursprungsmächte in ihrer Ursprungsform nicht mehr gibt, sich anheischig macht, sie neu entspringen zu lassen.“
Das genau beabsichtigte Ludwig Roselius mit dem Bau seiner Straße. Er wollte den gebrochenen Ursprungsmythos wieder herstellen. Sehnsucht nach der Verschmelzung mit dem Ursprung trieb ihn also an. Aus diesem spätromantisch-völkisch mythischen Glauben heraus ging er 1923 an den Bau der Böttcherstraße. Er kaufte eine verrottete alte Gasse in der Bremer Innenstadt, ließ sie abreißen, um sie nach seinen Vorstellungen neu zu errichten. Diese Straße sollte vor allem ein Beitrag „zur Erneuerung Deutschlands“ sein, Stein gewordener Geist der Väter und Urväter sozusagen. Immer wieder hat er selbst diese Absicht formuliert. Etwa: „Wir müssen wissen, dass es letzten Endes der deutsche Geist ist, den unsere Feinde bekämpfen, weil sie ihn nicht verstehen (...) Wir müssen uns deshalb in unserem eigenen Volkstum verankern und den deutschen Geist unzerstörbar machen.“ Und: „Die Neugestaltung der Böttcherstraße in Bremen ist ein Streichholz, das verbrannt wird, um eine neue größere Zeit für Deutschland zu erwecken.“ Und: „Nur, wenn wir die große Aufgabe für die Menschheit erkennen und die Bedeutung unserer Führerschaft verstehen, nur dann können wir uns erhalten und durch eigene Volksart das große Werden und Geschehen anderer Völker beeinflussen, uns selbst und die anderen veredelnd.“
Und: „Die Wiedererrichtung der Böttcherstraße ist ein Versuch, deutsch zu denken.“ Und: „Um mein Ziel zu erreichen, muss ich bestimmte falsche Ansichten über den Ursprung unserer Rasse widerlegen. Ich muss noch mehr tun als das. Ich muss der Menschheit die wahre Geschichte über den Ursprung unseres Volkes glaubhaft machen (...) Die Böttcherstraße ist mein Instrument dazu.“ Und schließlich: „Ich baue die Böttcherstraße nicht Bremens wegen. Ich will versinnbildlichen, dass aus Verfall und Schmutz ein reines und starkes Deutschland entstehen muss, wenn Tradition sich mit Wahrheit und kühner Schöpfung paart.“ Mit Verfall und Schmutz war hier natürlich die verhasste Weimarer Republik gemeint, die bei den Rechtextremen auch die „Juden-Republik“ hieß.
Natürlich verband der Unternehmer Roselius auch kommerzielle Absichten mit dem Bau dieser Straße. Es gab viele Geschäfte und Restaurants. Vor allem spekulierte er auf die reichen Amerikaner, die mit dem Schiff in Bremerhaven ankamen und von Bremen aus ihre Europa-Reise starteten. In erster Linie aber sollte die Straße ein „deutsches“ Ensemble sein. Und das bedeutete für ihn: Sie sollte aus dem Geist des Mythos heraus geschaffen sein. Dafür gab es für ihn viele Symbole und Synonyme: Ursprung der Dinge, Urform, das Primitive, der Norden, das Große und Starke, das Emotionale (im Gegensatz zu Ratio, Intellekt und Zivilisation), das Unbewusste, Gefühl, Glauben, Intuition, Ekstase, der Rhythmus der Natur, das Gesetz des Kosmos, das Göttliche – was alles für Roselius auch gleichbedeutend mit „germanisch“ und „arisch“ war. Häuser sollten in der Böttcherstraße entstehen, die keine abstrakten, sachlichen und unpersönlichen Zweckmäßigkeitsapparate „mit Maschinengeschmack“ waren, sondern sie sollten „Kraft, Gewalt und eine ganz neue Art“ haben: eben „bahnbrechend, wurzelecht, nordisch, stark“ sein.
Da waren natürlich viel „nordisch-expressionistisches“ Denken und Fühlen sowie Ablehnung der Moderne (vor allem des Bauhauses) im Spiel, aber eben auch viel romantisierende Nostalgie. Die Spannung beider Stilrichtungen sollte den Reiz der ganzen Straße ausmachen, was zweifellos auch gelang. Verbindendes Element war der rote Backstein, der das gesamte Ensemble beherrschte. So haben die Architekten Alfred Runge und Eduard Scotland auf der Westseite drei Gebäude (HAG-Haus, das Haus St. Petrus und das Robinson-Crusoe-Haus) in einem sich an Romanik und Gotik bzw. Weserrenaissance anlehnenden niederdeutschen Heimatstil erbaut. Auf der Ostseite sollte das Roselius-Haus und das Haus des Glockenspiels von deutschem Erbe und deutscher bürgerlicher Kulturleistung zeugen, wohingegen das expressionistisch gestaltete Paula-Modersohn-Becker-Haus von dem Worpsweder Bildhauer Bernhard Hoetger (1874 – 1946) und sein modern anmutendes Haus Atlantis zweifellos davon Kunde geben sollten, wie durch Rückerinnerung auf deutsche Art neue Kulturschöpfungen hervorgebracht werden könnten.
Auf der einen Seite also Tradition und heimattümelnde, historisierende Form, auf der anderen Seite expressionistischer Wagemut, der sich in der reliefartigen Fassade, der Unübersichtlichkeit, Verspieltheit und Verschachtelung des Paula-Becker-Modersohn-Hauses mit seinen Höfen, Erkern und Türmen audrückt. Sollte die ganze Straße die Entstehung, Entwicklung und Ausprägung des „Deutschtums“ von Anfang bis heute zeigen, kam letzterem Gebäude in dem Ensemble eine besondere Bedeutung zu, weil es den Urmythos schlechtin gestaltete. Hoetger war übrigens kein Architekt, sondern eben nur Bildhauer, das störte Roselius aber nicht – ganz im ganz im Gegenteil, für ihn war er sein „nordischer Baumeister“, der nicht auf dem Reißbrett plante und konstruierte, sondern direkt aus dem Gefühl und der Intuition heraus baute.
Architektonisch eher im Stil der neuen Sachlichkeit gehalten, bekam der Kuppelbau des Hauses Atlantis von seinem Bauherrn fast sakralen Charakter zugewiesen, obwohl er auch kommerzielle und öffentlich zugängliche Einrichtungen (eine Art Fitness-Studio sowie Clubräume und eine Bibliothek) beherbergte. Roselius schrieb 1929: „Das neue Haus (...) kann kein einfaches Bürohaus werden, sondern muss in seiner Fassade schon das Signum des hohen Dienstes tragen.“ Dieses Haus sollte zurück zur Urgeschichte der Menschheit führen. Es war ebenfalls von Hoetger ausgeführt worden.
Die Konzeption des Gebäudes hatte ihm der aus den Niederlanden stammende selbsternannte „Ur-Religions- und Symbolforscher“ Herman Wirth (1885-1981) geliefert, der eine abstruse Atlantis-Theorie entwickelt hatte. Nach Meinung dieses Privatgelehrten, der zeitweise für Roselius arbeitete und später der erste Präsident von SS-Chef Heinrich Himmlers „Stiftung Ahnenerbe“ wurde, kamen die Atlanter (Arier) von Thule ganz im Norden, wo sie die erste große Hochkultur der Geschichte aufgebaut hätten. Nach dem Katastrophen-Untergang ihrer Zivilisation seien die Überlebenden ins Gebiet der Nordsee geflohen, wo sie auf dem Gebiet Nord- oder Niederdeutschlands erneut eine Hochkultur errichtet hätten, die sie von hier aus in langen Wanderzügen dann in alle Welt gebracht hätten – vor allem ins östliche Mittelmeer. Dort hätten sie die großen Kulturen von Ägypten, Griechenland und Rom gegründet.
Roselius war fest von diesen Thesen, die das Monopol der Arier auf die Kulturschöpfung behaupteten, überzeugt. Wie hoch er Wirth einschätzte, geht aus Briefen an diesen hervor. 1933 schrieb er: „Ihre Lehre ist so gewaltig, dass mehr oder weniger jede Kirche sich zu ihr bekennen muss, mit Ausnahme der jüdischen natürlich (...) Ich möchte Sie im Interesse Ihres großen Werkes, das den Lichtalben aufs neue den Sieg geben wird, dringend bitten, sich selbst weder politisch noch kirchlich festzulegen. Sie sind so wichtig für Deutschland und die nordische Welt, als dass man Sie jetzt schon ans Kreuz schlagen dürfte.“ Roselius versicherte ihm auch: „Bleiben Sie als Gelehrter mit Ihren Freunden für sich stehen, so haben Sie eine fast unantastbare gewaltige Position. Sie werden in gleicher Weise wie unser Führer [Adolf Hitler] das gesamte deutsche Volk für uns gewinnen.“ Sich selbst bezeichnete Wirth als „Revolutionär der Wissenschaft“. Die Methode, mit der er seine Erkenntnisse erlangte, was das „Erb-Erinnern“. Wirths Lehre ergänzte sich ja in idealer Weise mit den Thesen von Langbehn.
Das Programm seines Hauses fasste Roselius so zusammen: „Das Atlantis Haus soll jeden Deutschen zum Nachdenken anregen und ihm die Frage vorlegen: Was weißt Du von der stolzen Vergangenheit Deiner Vorfahren, hast Du überhaupt jemals über die Zeiten Roms, Griechenlands und Ägyptens hinaus nachgedacht? Weißt Du, dass diese drei großen Kulturen entstanden sind durch Männer des Nordens, die Deine Vorväter gewesen sind?“
Um seinen Glauben an die überlegene germanisch-arische Rasse praktisch zu demonstrieren, ließ Ludwig Roselius in den Räumen des „Hauses Atlantis“ ein Museum einrichten, das er „Väterkundemuseum“ nannte. Ziel und Aufgabe dieser Sammlung war es, die Herkunft und Entwicklung des nordischen Menschen aufzuzeigen, also darzutun, „dass wir das älteste Volk der Erde sind, das seit 15 000 bis 20 000 Jahren immer noch in seinem ursprünglichen Sitz wohnt.“ Der Bremer Mäzen präsentierte hier Musterstücke – Originale, Abgüsse und Abbildungen – von der Steinzeit bis zur Bronze-, Eisen- und Völkerwanderungszeit, in die er viel Geld investiert hatte. Lebensgroße Nachbildungen von Germanen und ihren Frauen sollten eine Vorstellung von den Vorfahren vermitteln. Er schrieb am Anfang seiner Planungen dazu: „Die Sammlung Väterkunde soll (...) eines Tages den Grundstock bilden für das Haus der Väter, welches die Geschichte der germanischen Menschheit darstellen soll. (...) Dann werde ich dort ein Haus errichten, das der Böttcherstraße den richtigen Abschluss gibt, weil es aus der Vergangenheit unseres Volkes von der Urzeit an berichten soll.“
Vor allem fiel das Haus Atlantis, das Roselius Herman Wirth zu Ehren so nannte und das in der Zeit von 1927-1929 konzipiert und in den Jahren 1930-31 gebaut wurde, durch seine äußere Gestaltung auf. Denn vor der Eingangstür erhob sich der „Lebensbaum“, eine riesige, bis in Dachhöhe ragende Plastik, die voller nordischer Symbolik war. Die von Bernhard Hoetger ausgeführte Skulptur ruhte auf drei mächtigen, mit verätztem Kupferblech verkleideten Holzsäulen, die die Schicksalsmächte der Germanen symbolisierten: die drei Nornen Urd (Vergangenheit), Verdandi (Gegenwart) und Skuld (Zukunft) Sie wurden in mythologischer Zeit unter der Weltesche Yggdrasil (Lebensbaum) sitzend vorgestellt, wo sie ihre Fäden spannen, an denen die Schicksale der Menschen hingen.
Auf den Säulen ruhte auf einem breit ausladenden Architrav ein riesiges hölzernes Rad, das den kosmischen Ablauf mit Sommer- und Wintersonnenwende darstellte. In der Mitte des Rades hing eine gekreuzigte Gestalt – der nordische Christus, der hier mit Odin gleichgesetzt war. Hoetger hatte ihn in eigenartig expressionistischer Weise gestaltet – fast in der Art eines Gnoms oder Wurzelwesens. In das Rad war ein Zitat aus der Edda eingraviert: „Ich weiß, dass ich hing am windigen Baum neun Nächte lang, vom Ger [Speer] verwundet, dem Odin geweiht, ich selber mir selbst.“ Aus dem oberen Ende von Rad und Kreuz wuchs ein langgezogenes neues Kreuz hervor, das im Gipfel des Hauses – umrahmt von zwei stilisierten Schwanenköpfen – in einer Sonnenscheibe aus vergoldetem Kupferblech auslief.
Zu seinem nordischen Christus schrieb Roselius selbst: „Ich bin aber ein Christ. Allerdings habe ich niemals an einen jüdischen Christus geglaubt, sondern nur an einen antijüdischen Christus, der damals für die Welt das Gleiche getan hat wie nachher Mohammed und wie heute Hitler. Ich spreche daher dem Alten Testament jede Erziehungsberechtigung für das deutsche Volk ab. Haben wir aber das Alte Testament nicht mehr als Unterlage für die christliche Religion, so brauchen wir eine deutsche Grundlage. Christus wird dann wieder der Mann, der er in Wirklichkeit gewesen ist, der Germane, der im fremden Land durch germanische Reinheit Ordnung in eine Welt brachte, die damals ebenso zerrüttet war wie heute die Welt des Bolschewismus.“
Auch sonst gab es noch viel Germanisches an und in diesem Bau: Eichenholzreliefs an den Fensterbrüstungen trugen die altgermanischen Monatsnamen in eingravierten lateinischen Lettern. Gleich hinter dem Eingang standen Nachbildungen der bedeutendsten Runendenkmäler auf deutschem Boden. Über eine Eisenbetontreppe, die sich in einem Schacht um drei schlanke Pfeiler, die vertikal ausgerichtete Lichtkörper enthalten, gelangt man – sinnbildlich gesprochen – aus den Tiefen des im Meer versunkenen Atlantis in den strahlend hellen Himmelssaal. Der Bauidee der Treppe lag der vollständige Titel des Hauptwerkes von Herman Wirth zu Grunde: „Der Aufgang der Menschheit – Untersuchungen zur Geschichte, Religion, Symbolik und Schrift der atlantisch-nordischen Rasse“. Das Entstehen des Buches hatte Ludwig Roselius finanziert.
Der leuchtend helle Himmelssaal unter dem Gewölbe aus Glasbausteinen, zu dem die Treppe hinauf führt, erinnert an einen Kirchenraum und hatte ja auch sakralen Charakter. Er war voller „germanischer“ Symbole im Sinne Wirths: Lebensbäume, Sonnen und Jahreskreuze. In diesem als Fest- und Kulturraum gedachten Saal veranstaltete Roselius seine „Nordischen Things“ – kongressartige Zusammenkünfte von „Nord-Experten“ aus allen Wissensgebieten, die hier von ihrer Arbeit berichteten und den „Nord-Gedanken“ propagierten. Die Teilnehmerliste wies sehr prominente Namen auf.
Am 2. und 3. Juni 1933 – also wenige Tage nach Hitlers Machtergreifung – fand das erste „Nordische Thing“ statt. Es war dem Thema „Der Ursprung der Germanen“ gewidmet. Mit Pathos sagte Roselius bei der Eröffnung: „Nordische Frauen und Männer! Ich rufe zum ersten Nordischen Thing und künde Sinn und Lehre des Things: ‚Not heißt Sieg’ für Nordlands Söhne. Wer spricht jetzt noch vom Untergang des Abendlandes? Wir sind erwacht und folgen den Spuren unserer starken Ahnen. Geist befruchtend, heldenhaft siegend, erschließen wir Nordländer seit zigtausend Jahren die Länder der Sonne.“
300 Teilnehmer und 150 Nord-Forscher waren hier im Haus und in diesem Saal versammelt. Hermann Wirth referierte über die „Religion der Megalith-Kultur und die Entstehung der abendländischen Schrift“, Professor Gustav Neckel (Berlin) über die „Herkunft der Runen“, Professor Otto Reche (Leipzig) über die „Urbevölkerung Nordwestdeutschlands“ und Professor Nils Aberg (Stockholm) über „Die Beziehungen Skandinaviens zu Deutschland in der Völkerwanderungszeit“ – um nur einige Beispiele von Referaten zu nennen.
Während dieses Things eröffnete Roselius hier im Haus sein „Väterkundemuseum“ mit germanischen Altertümern. Und Hermann Wirth veranstaltete während der Kongresstage eine Ausstellung, die den Titel „Der Heilbringer“ trug. Überall in der Straße standen Zeugnisse altgermanischer Religion und deutsche Eichen. Auf Steintafeln wurden die steinzeitlichen und mythischen Ursprünge der germanischen Runen erklärt. Nachbildungen von Megalithgräbern sollten die hohe Kultur der Steinzeit demonstrieren. Der Titel „Der Heilbringer“ kam daher, dass Wirth glaubte, dass die Atlanter – also die Vorfahren der Germanen – aus ihrem kosmischen Wissen heraus schon eine Figur wie Christus erschaffen hätten, sodass der wirkliche Jesus sozusagen nur eine „jüdische Nachahmung“ gewesen sei.
Das „Zweite Nordische Thing“ am 17. und 18. Mai 1934 stand unter dem Motto „Das Heldische im nordischen Menschen“. In seiner Begrüßungsrede wieder-holte Roselius die altbekannte Gleichung nordisch = germanisch = schöpferisch = heldisch. Der „Held“ – so Roselius – sei der „rassische Vorbildtypus“, der Herren- und Tatsachenmensch, der „Mann der Tat“, der „große Führer“, der den drohenden Untergang, die „Not“ und das „Schicksal“ wenden könnte. Roselius schloss seine Rede mit den nach vorn gerichteten – aus heutiger Sicht fast prophetischen Worten – „Ja, es will mir scheinen, als würde unser Zeitalter mehr und mehr ein Zeitalter der Tat.“
Diesmal referierten u.a. Professor Friedrich von der Leyen über „Das Heldische in der nordischen Dichtung“, der berühmte Afrika-Forscher Leo Frobenius über „Schicksalskunde“, der italienische Baron Julius Evola über „Die nordische Tradition in der Mittelmeerwelt“ und Professor Walther Wüst, der Nachfolger von Hermann Wirth als Präsident von Heinrich Himmlers „Stiftung Ahnenerbe“, über „Die indogermanischen Anteile der Rigveda“.
Für den Bremer Kaufmann gab es natürlich nur einen, der „mit Wort und Tat, unerschütterlicher Kraft und menschlicher Treue die Erneuerung Deutschlands in seinem Lebenskern in Angriff genommen habe. Und da “ein Volk so lange lebt wie das Heldische in ihm lebt“, verkündete Roselius, habe er im Himmelssaal des Hauses Atlantis eine Änderung vornehmen lassen: „Immer waren es die großen Willens- und Tatmenschen, die die Geschichte der Menschheit ein Stück weiter trieben: Siegfried, Hermann der Cherusker, Dietrich von Bern, Widukind, Heinrich der Vogeler, Heinrich der Löwe, Otto der Große, Martin Luther, Friedrich der Große, Freiherr von Stein, Bismarck, Richard Wagner, Hindenburg, Adolf Hitler. Dieser vierzehn Männer Namen habe ich mit ehernen Lettern an die Wände des Himmelssaales in diesem Hause schreiben lassen. Die Weisheit ihres Vorbildes, die Tat ihres Willens, formte deutsches Schicksal und wird in deutscher Zukunft nachwirken, so lange ihr Geist lebendig bleibt.“
Der Anbruch der neuen Zeit kam nicht nur in den Namen der „großen Deutschen“ an den Wänden zum Ausdruck. Mitten im Himmelssaal erhob auf einem Sockel mit SS-Rune ein von Bernhard Hoetger geschaffener Jüngling aus Bronze die Hände mit sehnsuchtsvollem Blick zur Sonne. Interessant ist auch die Liste der zu dem Thing geladenen, aber nicht erschienenen Gäste. Sie reichte u.a. von Adolf Hitler, Alfred Rosenberg, Baldur von Schirach bis zu Martin Heidegger.
Das dritte Thing sollte unter dem Motto stehen: „Nordisches Bluterbe ist Geisteserbe“. Es fand aber nicht mehr statt, wohl wegen Differenzen mit den Nazis, auf die noch einzugehen sein wird.
Was Roselius den Menschen mit seinem Haus Atlantis immer wieder sagen wollte, war: Ihr gehört einem durch Kriegsniederlage, Reparationen und Wirtschaftskrisen gedemütigten Volk an, aber dafür seid Ihr Angehörige der edelsten und kulturschöpferischsten Rasse, die es auf der Welt gibt – der Germanen oder Arier. Und den Beleg für diese Wahrheit findet Ihr in meinem Gebäude in der Bremer Böttcherstraße. Wörtlich heißt das bei ihm so: „Mit dem Haus Atlantis wollte ich an die Deutschen appellieren: Denkt daran, dass Ihr keine Barbaren seid. Dass Ihr immer zu einem großen starken Volk gehört habt. (...) Die Figur an dem Gebäude [der nordische Christus] stellt die Mahnung dar: Deutsche, denkt an Eure große Vergangenheit und sucht nach ihr.“
Er war mit Herman Wirth fest davon überzeugt, dass die Reste und Spuren dieser großen Vergangenheit in der Ebene der norddeutschen Tiefebene verborgen waren und nur darauf warteten, von den Archäologen ausgegraben zu werden. 1935 schrieb er: „Wir sitzen hier seit Urzeiten auf einem Boden, der weit größere Kulturen gekannt hat als die Welt heute besitzt.“ Ohne den „Einfluss germanischen Blutes“ waren für ihn die anderen großen Kulturen – etwa Chinas, Persiens, Ägyptens, Griechenlands und Roms gar nicht denkbar. Den vollendeten klassischen Stil der Griechen z. B. hatten „germanische Einwanderer“ vor 3 000 Jahren dort „für die ganze Welt geschaffen“. Niederdeutschland als Ausgangspunkt der Weltkultur – das genau sollte sein Haus Atlantis in Wort und Bild, in Kunst und Architektur belegen. Dieses Gebäude mit seinem eigenwilligen und seinem „germanischen“ Dekor wurde weltberühmt und überall kontrovers diskutiert.
Die kanadische Kunsthistorikerin Elizabeth Tumazonis hat Hoetgers Plastik und den Geist des ganzen Hauses so beschrieben: „Der Lebensbaum war ein Werk, das nordische Mythologie und Pseudowissenschaft in sich vereinte und einer Ideologie von rassischer Höherwertigkeit Vorschub leistete. Diese Skulptur zeigt, dass Bernhard Hoetger keineswegs ein Künstler der Linken war, radikal im Stil, aber tief reaktionär in seiner politischen Botschaft. Sie spiegelte die verwirrte und turbulente politische Situation am Ende der Weimarer Republik wieder.“
Die Böttcherstraße ist also ein architektonisch-baulicher Versuch, den Ursprungsmythos geistig und symbolisch wieder herstellen zu wollen. Besonders in den Häusern von Bernhard Hoetger – also dem Paula-Becker-Modersohn-Haus und dem Haus Atlantis – sollte die Verbindung von der ersten Ur-Architektur zur Moderne geschaffen werden. So gesehen sollten diese beiden Häuser wie auch die ganze Straße Stein gewordenes ursprungsmythisches Bewusstsein sein. Die Häuser, die Architektur und auch die Sammlungen von historischen Relikten, Kunstwerken und Kulturgütern sollten die Frage nach dem „Woher“, aber auch nach dem „Wohin“ der Deutschen beantworten. Denn Roselius war davon überzeugt, dass dieses Straßenensemble Maß und Stil gebenden Vorbildcharakter für den Geist der Kunst und des Bauens im neuen Deutschland haben werde.
Um dieses Ziel zu erreichen, mussten aber auch die Massen der Menschen erst völkisch „sehend“ werden. Dazu vor allem sollte das Gesamtkunstwerk Böttcherstraße einen wichtigen Beitrag leisten. Aber paradoxerweise hatte dieser vom völkischen Denken so Besessene gar keine hohe Meinung vom Volk, denn selten nur sei es in der Lage, wahre Kunst zu erkennen. Das Kunsturteil der Massen sei durch südliche Schönheit, durch westliche Phrasen, durch Mode und die Propaganda der Händler verfälscht, schrieb er 1935 „Zum Geleit“ in der ersten Ausgabe seiner Zeitschrift „Deutsche Kunst“. Die großen Einzelnen, zu denen er sich zweifellos selbst zählte, müssten die Wege zum Verstehen von Kunst aufzeigen. „An wenige ist der Ruf ergangen, die Seele eines Werkes zu empfinden. Sie ist es, die ein Werk Kunst sein läßt.“ Erst wenn Kunst – vermittelt duch die genialen Einzelnen – Kultur geworden sei, „so ist sie in das Gefühl, in das Blut eines Volkes eingezogen; sie wird dann Ausdruck dieses Volkes, sie hat ihre Aufgabe erfüllt.“ Das genau aber hatte er sich zur propagandistischen Aufgabe gesetzt: durch Kunst die Menschen zum tief in der Seele verankerten Deutschtum zu erziehen. In seinem Geleitwort schrieb er weiter: „Kunst, die nicht das Antlitz der deutschen Seele trägt, ist nicht deutsch!“ Und weiter formuliert er in der bekannten Imperativform: „Du bist, deutscher Mensch, durch die Vergangenheit. Schaffe im Sein, damit du im Vergehen eine größere Vergangenheit weitergibst, als du empfangen! So lautet das Gesetz deines Blutes.“
Genau diesen Anspruch mit dem Bau seiner Straße und mit der Herausgabe seiner Zeitschrift „Deutsche Kunst“, die als Sammelwerk eine „innere Richtlinie“ für Auge und Ohr des Volkes sein sollte, in seinem Sinne erfüllt zu haben, konnte sich Roselius zu Gute halten. Kunst ist für ihn – auch darin ganz in der Tradition Langbehns und Wagners stehend – letztlich Heilsverkündung und Erlösung – im deutschen Sinn. Die Heilsverkündung, die zugleich Vision und Utopie ist, verlangt aber Unterwerfung unter den verkündeten Mythos – hier genau liegt der totalitäre Ansatz in der Kunstauffassung des Ludwig Roselius, die ihn auch zu einem Wegbereiter des Nationalsozialismus werden ließ.
Roselius formuliert es 1935 in seinem Geleitwort so: „Der Führer hat Deutschland neu geschaffen. (...) Wir wollen deutsches Wesen und deutsche Art zeigen! Deshalb ihr deutschen Meister, kommt hervor aus dem Dunkel, aus der Vergangenheit, stellt euch vor uns, ihr sollt unsere Lehrer sein! Dann werden auch die Blinden sehen!“ Dem Führer gefiel Roselius´ Kunstzeitschrift so gut, dass er gleich zwei Exemplare abonniert hatte. Außerdem nahmen die Nationalsozialisten das Konzept und die Aufmachung der „Deutschen Kunst“ zum Vorbild für ihre eigene 1937 gegründete Kunstzeitschrift „Kunst im Dritten Reich“.
Kunst als Heilsverkündung, als Mittel der Verwandlung, der Regeneration und Erlösung – das war auch das letzte Ziel, das Richard Wagner mit seiner Kunst und seinem Gesamtkunstwerk erreichen wollte. Er hatte ja geschrieben: „Wir kennen den Grund des Verfalls der historischen Menschheit sowie die Notwendigkeit einer Regeneration. Wir glauben an die Möglichkeit einer Regeneration und widmen uns ihrer Durchführung in jedem Sinne.“
Die erlösende Verwandlung sollte sich aber nicht nur auf der Bühne abspielen, sie sollte auch tief in die Einzelseele eindringen und sie verändern. Im Gralstempel von Bayreuth – dem „Asyl der reinen Kunst“, frei vom Fluch des Nibelungengoldes – sollte sich die Wiedergeburt vollziehen, völkisch-national und allgemein-menschlich. Mit Eleusis und Olympia wurde sein „arisches Mysterium“ in Verbindung gebracht, weil der Gralstempel in Bayreuth der Ort sei, wo Deutschtum in seiner wahrsten und reinsten Gestalt in Erscheinung trete. Hier offenbare sich wirklich „allgemein-menschliche Kunst aus edelster Rassengeburt“ – so urteilten Zeitgenossen nach Wagners Tod und bis in die Zeit des Nationalsozialismus hinein. Der zum „engeren Kreis“ gehörende Wagnerianer Ludwig Schemann forderte sogar: „Wer nach Bayreuth pilgert, tue es in dem Bewusstsein, dort sein Deutschtum zu stärken, und mit dem Vorsatz, als ein besserer Deutscher von dort heimzukehren.“ Vom Erlebnis der Festspiele geht – so war die allgemeine Ansicht der „Wagner-Gemeinde“ – eine „regeneratorische Wirkung aus. Denn die Annahme einer solchen Wirkung ist das A und O der Bayreuther Kulturidee.“ Die Böttcherstraße ist also in letzter Konsequenz als Gesamtkunstwerk auch ein Träger einer Verwandlungsidee im völkischen Sinne. Diese Parallele war nicht zufällig. Roselius war ein großer Wagner-Verehrer, verkehrte in der Villa Wahnfried in Bayreuth und war sehr eng mit dem Wagner-Schwiegersohn Stewart Houston Chamberlain befreundet, der den völkischen Bestseller „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“ geschrieben hatte.
Ludwig Roselius hatte sich schon früh zu Hitler und den Nationalsozialisten bekannt. Schon 1922 hatte ihn Hitler in Bremen besucht, wohl um von ihm Geld für seine Bewegung zu bekommen. Begeistert schrieb Roselius nach dieser Begegnung: „Er wird Führer sein. Wer ihn kennt, weiß, was ich empfand. Niemand kann sich dem Einfluss dieses seltenen Mannes entziehen. Der hehre Schwung seiner Seele, die Reinheit seines Gefühls für die deutsche Sache wird zur Erhabenheit.“ 1933 beim Machtantritt Hitlers schrieb er in beinahe schon religiöser Verzückung: „In unserem Führer erkennen wir einen von Gott dem deutschen Volk Gesandten!“
Aber alle Huldigungen an den neuen Herrscher halfen nichts, denn letztlich war Roselius für die Nazis mit seiner Nordbegeisterung ein völkischer Außenseiter oder Sonderling. Die Nazis waren ja schon bald nach dem Machtantritt auf Distanz zu großen Teilen der völkischen Bewegung gegangen oder hatten sie gleichgeschaltet, weil es weltanschauliche Konkurrenz nicht geben durfte. Außerdem war Mitte der dreißiger Jahre der Kunststreit in der Partei entschieden worden. Der Expressionismus, der urprünglich durchaus Anhänger in der NSDAP gehabt hatte, war verdammt worden und die Rosenberg-Richtung von „Blut-und-Boden“ hatte sich durchgesetzt. Hitler selbst bevorzugte ja in der Architektur einen an der griechischen Antike angelehnten Monumental-Baustil. Damit war das Urteil über die Böttcherstraße gesprochen.
Für die Nationalsozialisten war die Straße dann – zumindest ihre expressionistischen Anteile, vielleicht auch die neue Sachlichkeit des Hauses Atlantis – „kulturbolschewistisches Relikt einer Verfallszeit“. Die Angriffe – vorgetragen vor allem von der SS-Zeitschrift „Das schwarze Chor“ – zielten natürlich auf den Mäzen selbst, ganz besonders aber auf seinen Bildhauer und Architekten Bernhard Hoetger. Seine Beiträge zu Roselius´ Gesamtkunstwerk wurden als „entartet“ und als die „Ausgeburt eines kranken Hirns“ bezeichnet. Die Attacken fanden ihren Höhepunkt in Hitlers Rede auf dem Nürnberger Parteitag 1936, wo er konstatierte: „Wir haben nichts zu tun mit jenen Elementen, die den Nationalsozialismus nur vom Hören und Sagen her kennen und ihn daher nur zu leicht verwechseln mit undefinierbaren nordischen Phrasen und die nun in irgendeinem sagenhaften atlantischen Kulturkreis ihre Motivforschung beginnen. Der Nationalsozialismus lehnt diese Art von ´Böttcherstraßen-Kultur´ schärftstens ab.“
Das zielte natürlich auch gegen den Atlantisforscher Herman Wirth, der Roselius lange als ideologischer Ratgeber gedient hatte, und gegen den ganzen nordischen Kreis, den der Bremer Unternehmer bei seinen Things um sich versammelte. Die Nazis witterten hier offenbar wirklich unliebsame Konkurrenz.
Der Mäzen musste handeln, wollte er nicht einen noch größeren Konflikt riskieren. Er bot den Nazis den Umbau des Hauses Atlantis an und schloss die Paula-Becker-Modersohn-Sammlung für das Publikum. Die Bilder dieser Malerin galten bei den Nazis als „entartet“, für Roselius aber war sie eine „nordische „Malerin. Der „Führer“ persönlich entschied dann, dass er die „Bauwerke der Böttcherstraße der Nachwelt erhalten möchte als ein abschreckendes Beispiel dafür, was in der Zeit vor unserer Machtübernahme als Kultur und Baukunst ausgegeben worden“ sei. 1937 wurde die gesamte Böttcherstraße auf Anregung des Architekten Albert Speer nach nochmaliger Besprechung mit Hitler als Lehrbeispiel für „entartete Kunst“ unter Denkmalschutz gestellt. Der Bauherr der Straße musste sich von seinem eigenen Werk distanzieren. Jeder Besucher der Gasse bekam nun einen Handzettel überreicht, auf dem Ludwig Roselius bekannte, dass das Paula-Modersohn-Becker-Haus und der Lebensbaum „keinesfalls der heutigen Kunstanschauung entsprechen.“
Die Böttcherstraße war also so etwas wie ein deutsches Missverständnis gewesen, denn es gab offenbar nicht nur eine Auffassung davon, was deutsch sei, sondern mehrere, aber eben eine, die entscheidend war.
Der Rest der Geschichte lässt sich schnell erzählen. Ludwig Roselius schrieb 1938 noch ein Buch über den Philosophen Fichte, in dem er das NS-System und Hitler noch einmal in den höchsten Tönen lobte und im Dritten Reich Fichtes Vermächtnis erfüllt sah. Im selben Jahr trat er in die NSDAP ein. Wohl wegen einer schweren Krankheit zog Roselius sich in den folgenden Jahren immer mehr aus der Öffentlichkeit zurück. 1943 starb er. Politische Äußerungen aus der letzten Lebenszeit gibt es nicht, zumindest sind sie nicht bekannt. 1944 wurde seine Straße bei den Bombenangriffen der Alliierten sehr zerstört, aber nach dem Krieg originalgetreu wieder aufgebaut.
Das Haus Atlantis präsentiert sich heute in anderer Gestalt. Die große Lebensbaumskulptur war zwar nur leicht beschädigt worden bei den Luftangriffen, aber man zog es 1945 vor, sie schamhaft zu entsorgen. Die Außenfassade wurde in den sechziger Jahren von dem Künstler Mataré
neu gestaltet. Die Fensterbrüstungen mit den germanischen Monatsnamen gibt es nicht mehr. Die Nornen-Säulen vor dem Eingang des Hauses hatten den Feuersturm der Bomben überlebt. Sie stehen heute zur Zierde in verschiedenen Geschäften der Straße. Das Väterkunde-Museum gibt es auch noch – unter neuem Namen und mit neuer Beschriftung – auf dem Weyerberg in Worpswede. Vor dem neuen Museum dort steht auch der zur Sonne ausgreifende Jüngling Hoetgers – natürlich ohne SS-Rune auf dem Sockel.
Interessant ist auch der Wechsel der Besitzer der Straße. Ludwig Roselius’ Sohn, Ludwig Roselius jun., hatte wenig Freude an diesem Erbe und machte es zu Geld. Er verkaufte 1979 die Straße samt der Kaffe-HAG-Firma an den amerikanischen Konzern General Foods, der heute zu dem Kraft-Konzern gehört. Dieser Konzern verkaufte die Straße nach wenigen Jahren an die Bremer Sparkasse, die sie heute kommerziell als Touristenattraktion nutzt. Nur das Haus Atlantis gehört nicht der Sparkasse, sondern dem Hilton-Konzern. Es ist heute Teil des Hilton-Hotels.
Der so erfolgreiche globale Unternehmer Ludwig Roselius hatte sich politisch als sehr wenig weitsichtig erwiesen. Er war der Verführung einer sehr gefährlichen Zeitströmung erlegen. Seine Straße steht noch oder wieder, aber von der mythischen Botschaft, die sie ausstrahlen sollte, spricht keiner mehr. Sie dient heute ausschließlich dem Kommerz. Den vielen Touristen wird sie in völliger Verkennung ihrer ursprünglichen Absicht als „romantische Märchenstraße“ vorgeführt, also als etwas, das irgendwie an Rotenburg ob der Tauber, Neuschwanstein oder auch ein bisschen an Disneyland erinnert. Aber mit dieser Interpretation des schwierigen Erbes können die Bremer gut leben.