Parsifal in Bremen. Richard Wagner, Ludwig Roselius und die Böttcherstraße.

(Vortrag Benefiz-Essen, Villa Ichon, Bremen am 29.11.2002)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sie alle kennen die Böttcherstraße hier in Bremen, die das eigenwillige Gesamtkunstwerk des hansestädtischen Unternehmers Ludwig Roselius ist. Er hat diese Straße von der Mitte der zwanziger bis zum Beginn der dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts konzipiert und bauen lassen. Er konnte sich eine solche Extravaganz wie den mäzenatischen Ausbau einer ganzen Straße leisten, weil er durch die Vergrößerung der von seinem Vater geerbten Kaffeehandelsfirma und dann durch die Erfindung des koffeinfreien Kaffees zu einem riesigen Vermögen gekommen war. Roselius, der einer der reichsten Männer in Deutschland war, hat sich mit dieser Straße schon zu Lebzeiten ein steinernes Monument gesetzt. Im Krieg wurde die Straße zu großen Teilen zerstört, dann wieder aufgebaut. Heute wird sie den Touristen als romantische Märchenstraße gezeigt. Die Bremer nennen sie sogar ihre „heimliche Hauptstraße“.

Was hat diese Straße nun mit der Figur des legendären mittelalterlichen Gralsritters oder des Helden aus Richard Wagners „Bühnenweihfestspiel“ zu tun? Parsifal ist sowohl im mittelalterlichen Epos wie später bei Richard Wagner eine Erlösergestalt, die den siechen und schwer kranken Gralskönig Amfortas von seinen Leiden und damit die ganze Gralsritterschaft von ihrer „Not“ erlöst. „Erlösung“ war aber auch das Zauberwort, das weite Teile des deutschen Bürgertums in den zwanziger Jahren umtrieb. Denn man wollte sich mit den gegenwärtigen Zuständen so nicht abfinden: dem verlorenen Krieg, dem „Schandvertrag“ von Versailles, der ungeliebten Demokratie von Weimar und der wirtschaftlichen Entwicklung, die auch für bürgerliche Schichten den drohenden sozialen Abstieg befürchten ließ. Diese Situation war der Nährboden vor allem für rechtsradikale Rattenfänger und Demagogen, die – da ist das Wort wieder – im Erlösergewand auftraten. Ludwig Roselius hatte in diesen völkischen Kreisen einen sehr guten Namen, er war schon vor dem Krieg stramm deutsch-national gewesen und stand den Alldeutschen nahe. 1917 gründete er zusammen mit Admiral Tirpitz und dem späteren Putschisten Wolfgang Kapp die „Deutsche Vaterlandspartei“, eine rechtsradikale Sammlungsbewegung, die um jeden Preis an die Macht kommen wollte – auch auf dem Weg eines Militärputsches. Der Historiker Hans Ulrich Wehler hat diese Partei eine direkte „Vorläuferorganisation der NSDAP“ genannt.

1922 kam einer, den damals schon viele für den deutschen „Erlöser“ hielten, nach Bremen zu Ludwig Roselius und bat um Geld für seine Bewegung. Es war kein geringerer als Adolf Hitler. Roselius selbst hat diese Begegnung in seinem Buch „Briefe und Schriften zu Deutschlands Erneuerung“, das zuerst 1919 erschien und dann 1933 nach der Machtergreifung der Nazis neu herauskam, beschrieben. Gewidmet ist diese Buch dem „Andenken Houston Stewart Chamberlains“, des Schwiegersohns und geistigen Nachlassverwalters Richard Wagners, der ein völkischer Ideologe, Germanenschwärmer und Bestseller-Autor war. Roselius war seit 1916 mit diesem aus England stammenden Adeligen befreundet. Die Nationalsozialisten beriefen sich später auf ihn als „Begründer des wissenschaftlichen Rassenantisemitismus“ und „geistigen Ahnherrn des Dritten Reiches“, so formulierte es Alfred Rosenberg. Hitler selbst nahm 1927 an seiner Beerdigung teil, die SA stand Spalier. Chamberlain war seit dem Ende des Ersten Weltkrieges viele Jahre schwer krank gewesen.

Roselius schreibt in seinem Buch über das Zusammentreffen mit Adolf Hitler in Bremen: „Wer ihn kennt, weiß, wie ich ihn empfand. Niemand kann sich dem Einfluss dieses seltenen Mannes entziehen. Der hehre Schwung seiner Seele, die Reinheit seines Gefühls für die deutsche Sache wird zur Erhabenheit.“ Und weiter heißt es: „In Bayreuth berichtete ich Houston Stewart Chamberlain über den seltsamen Besuch und den starken Eindruck, den dieser einfache Mann auf mich gemacht hat. Eine Verklärung zog über das Gesicht des heldenhaften Kranken, seine Augen brannten die meinen. Das Wort als Antwort in Schmerzen geboren, hieß  P a r s i f a l .“ Die Aussage ist klar. Hitler ist Parsifal, der neue deutsche Erlöser – und es besteht kein Zweifel, dass Roselius Chamberlain in dieser Feststellung zustimmt so wie große Teile des deutschen Bürgertums.

Ja, Ludwig Roselius wird in der Folgezeit einer der Hauptvertreter der „Parsifal-Religion“ in Deutschland, die aus dem Haus Wagner in Bayreuth kam und mit den Ideen der Nationalsozialisten so eng verknüpft war. Diese „Parsifal-Religion“ Richard Wagners hat der Historiker Leon Poliakow so zusammengefasst: „Einst im goldenen Zeitalter, lebten die Menschen in primitiver Unschuld und als Vegetarier auf den Hochebenen Asiens. Dann aber kam der Sündenfall, als das erste Tier getötet wurde. Seither hat der Blutdurst das Menschengeschlecht gepackt, es mehrten sich die Morde und Kriege und in ihrem Gefolge die Eroberungen, Verbannungen und Irrfahrten. Christus, ein indischer oder arischer Christus, versuchte, die Menschen zu retten, indem er ihnen den Weg zurück zur früheren vegetarischen Unschuld wies – das äußere Zeichen dafür war die Verwandlung von Blut in Wein und von Fleisch in Brot beim letzten Abendmahl; schließlich gab er sein Leben hin, um sein Blut zu sühnen, das von den fleischessenden Menschen seit dem Anbeginn der Welt vergossen worden war. Aber eine verjudete Kirche hat den Sinn dieser Botschaft verdreht, so dass die Menschheit weiter entartete, besudelt von Tierfleisch einerseits, vom Gift des jüdischen Blutes andererseits. Der Jude ist die dämonische Verkörperung der Entartung der Menschheit und die abendländische Zivilisation – ein jüdisch-barbarischer Mischmasch, daher ist nun das apokalyptische Ende nahe. Es gibt nur noch eine Hoffnung auf Rettung: Eine neue Läuterung, ein neuerlicher Empfang des heiligen Blutes nach den mystischen Riten Parsifals, des germanischen Erlösers.“

Für Wagner kennzeichnen also – aus den genannten Gründen – „Verfall“, „Degeneration“, „Krankheit“, „Entstellung“ und „Dekadenz“ den Zustand der modernen Welt. Macht und Herrschaft, Verherrlichung des Staates und Krieg führen, das Schlachten und Verzehren von Tieren, die ungleiche Besitzverteilung im bürgerlichen Staat – alles dies sind für Wagner Manifestationen des jüdischen Wesens, dem auch die Reinheit des ursprünglichen Christentums zum Opfer gefallen sei. Der „wahre Christus“, da war sich Wagner sicher, konnte deshalb nicht vom jüdischen Stamme gewesen sein. Er stand ja für Liebe, Entsagung, Mitleid und Erlösung – die Juden verkörperten für Wagner aber Eigenschaften wie Egoismus, Eigentum, Besitz und Nützlichkeitsdenken. Aus dieser „Not“ konnte nur die entscheidende „Tat“ herausführen – beides sind wagnerische Begriffe. Nur ein „Tatmensch“ oder ein „Erlöser“ sollte oder konnte dies leisten. Aber dieser Erlöser musste arisch und deutsch sein. So kann man denn auch die Schlussformel der Oper „Parsifal“, die „Erlösung dem Erlöser“ heißt, nur so erklären: Hier wird die Erlösergestalt von allen „Verunstaltungen und Mischungen durch Judentum und (jüdisch geprägtes) Kirchenchristentum erlöst. Die zukünftige Heilswirkung des göttlichen [arischen] Blutes ist gesichert.“ (Hartmut Zelinsky)

Ludwig Roselius war eine der führenden Gestalten des völkischen Denkens nach dem Ersten Weltkrieg, er war ein begeisterter Wagnerianer und er war später ein begeisterter Nationalsozialist. „Not“ und „Tat“ waren Begriffe, die er von Wagner übernommen hatte, und die er ständig im Munde führte – auch wenn er sie auf das aktuelle politische Umfeld seiner Zeit anwendete. Vieles von der Wagnerschen Weltanschauung hat er dann in seiner Böttcherstraße in Stein und Holz umgesetzt. Er hat sich zu diesen Wagner-Bezügen auch selbst immer wieder bekannt. Ich will ein Beispiel herausgreifen. Es gab in der Straße vor ihrer Zerstörung am Haus Atlantis die riesige Holzplastik des Lebensbaumes mit dem Sonnenrad, in dessen Mitte der nordische Christus (Odin) am Kreuz hing. Dass er diesen Christus wagnerisch verstanden hat, teilte er 1936 in einem Brief dem damaligen Bürgermeister Heider mit: „Ich hab niemals an einen jüdischen Christus geglaubt, sondern nur an den anti-jüdischen Christus, der damals für die Welt das Gleiche getan hat wie nachher Mohammed und wie heute Hitler ... Christus wird wieder der Mann, der er in Wirklichkeit gewesen ist, der Germane, der in fremdem Land durch germanische Reinheit Ordnung in die Welt brachte, die damals ebenso zerrüttet war wie heute die Welt des Bolschewismus.“

Hitler wird also die Erlöserfunktion zugeschrieben. Er soll durch die „Tat“ aus der „Not“ herausführen. Und diese „Tat“ sollte – das hatte Wagner schon vorgegeben – die  R e g e n e- r a t i o n  einleiten, d.h. die „Wiedergeburt“, „Erneuerung“ und „Läuterung“ im deutschen Sinne. Bei Wagner geschieht diese Regeneration in erster Linie durch die Kunst. Die regenerative Kraft, die die Erneuerung bewirken sollte, sollte direkt aus dem Deutschtum kommen, d.h. aber aus der Rasse, denn die Vermischung der Rassen hatte in der Sicht Bayreuths den in der Welt herrschenden „Verfall“ bewirkt. Eine wichtige Rolle bei der „Wiedergeburt“ sollte auch die Religion spielen – natürlich „richtig“ verstanden als eine aus ihren arisch-germanischen Wurzeln kommende Heilslehre und nicht als „jüdisch verderbtes Christentum“. Um die Regeneration zum vollständigen Abschluss zu bringen, müssten natürlich auch Staat und Gesellschaft entsprechend umgeformt werden.

Alle diese wagnerischen Regenerations-Gedanken, die auch im Bayreuther Kreis – der „Gralsgemeinde“ - nach dem Tod des Meisters intensiv diskutiert wurden, fließen in Roselius’ ideologisches Konzept der Böttcherstraße mit ein. Der Bremer Kaffee-Unternehmer sagt es selbst immer wieder, welche Absicht er mit dem Bau der Straße verfolgt: Sie soll der „Wiedergeburt“ und „Erneuerung“ Deutschlands dienen; sie ist ein „Versuch, deutsch zu denken“; die Straße soll die „Erweckung einer neuen größeren Zeit für Deutschland“ einleiten. Immer wieder spricht er auch in diesem Zusammenhang von „nordischem Erwachen“, von „Auferweckung neuen Lebens“ und der „ewigen Wiederkehr des Lichts“. Roselius war ein Verfechter des Wagnerischen Regenerations-Gedankens, er bezog ihn natürlich direkt auf die nach dem Ersten Weltkrieg herrschende politische Situation.

Richard Wagner schrieb seiner Kunst eine Erweckungs-, ja eine Verwandlungsfunktion zum Deutschtum hin zu. „Mein Kunstideal steht und fällt mit dem Heil Deutschlands“, hat er einmal geschrieben. Man kann sagen, dass Kunst für ihn „Heilsverkündung“ und „Erlösung“ im deutschen Sinn war. Der Wagnerianer Ludwig Schemann hatte geschrieben: „Wer nach Bayreuth pilgert, tut es in dem Bewusstsein, dort sein Deutschtum zu stärken und mit dem Vorsatz, als ein besserer Deutscher von dort heimzukehren.“ Das genau will auch Ludwig Roselius: Wer durch die Böttcherstraße geht, sollte auch mit einem neuen und gestärkten deutschen Bewusstsein wieder herauskommen. Diese Straße war bei aller kommerziellen Absicht, die er natürlich auch mit ihr verband, eine in Stein geformte Aufforderung, „deutsch zu denken“, sie sollte „über den Ursprung unserer Rasse und unseres Volkes aufklären“. Aus ihr sollte ein „starkes Deutschland wiedererstehen“.

Das Gesamtkunstwerk Böttcherstraße war für ihn so gesehen ein Propagandainstrument, das durch die Kunst den Deutschen ihr tief in ihrer Seele schlummerndes – natürlich rassisch verstandenes - Deutschtum wieder bewusst machen sollte. Roselius schrieb 1935: „Erst wenn Kunst, vermittelt durch die genialen Einzelnen [womit er zweifellos auch sich selbst meinte] Kultur geworden ist, so ist sie in das Gefühl, in das Blut eines Volkes eingezogen, sie wird zum Ausdruck dieses Volkes, sie hat ihre Aufgabe erfüllt.“

Einer, der den völkisch-propagandistischen Verwandlungsgedanken der Böttcherstraße sehr gut verstanden und anschaulich formuliert hat, war der Schriftsteller Manfred Hausmann, der von solchen Gedanken nach 1945 aber natürlich auch nichts mehr wissen wollte. Er schrieb: „Deutscher, besinne Dich auf Dich selbst! Da hat man das eigentliche Zentrum der Böttcherstraße. Wer als Deutscher hindurchgeht, soll dazu gebracht werden, sich auf sich selbst, auf sein Volkstum, auf seines Volkes Seele und Sehnsucht, auf seine Kraft und sein Schöpfertum, auf gestern, heute und morgen zu besinnen.“ Es besteht wohl kein Zweifel, um welche Art Deutschtum es sich hier gehandelt hat.

Vielleicht denken Sie einmal daran, wenn Sie das nächste Mal durch die Böttcherstraße gehen, dass der Wagner-Held und „nordische Erlöser“ Parsifal bei der Konzeption der Straße Pate gestanden hat. Ich persönlich finde es kein Ruhmesblatt, wie diese sonst so weltoffene und liberale Stadt Bremen nach 1945 mit diesem Erbe umgegangen ist. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

 

Dieser Vortrag wurde nach Erscheinen meines Buches Parsifal in Bremen: Richard Wagner, Ludwig Roselius und die Böttcherstraße gehalten, VDG-Verlag Weimar, ISBN 978-3-3926 – 3 – 2, 21 Euro