Die meisten Bücher, die man liest, kann man verstehend nachvollziehen, sie regen bisweilen zu klugen Gedanken an, bereichern im besten Fall geistig, oder man ärgert sich über dummes Geschwafel und bricht die Lektüre ab. Und dann gibt es Bücher, die einen emotional zutiefst bewegen. So ist es mir mit dem kleinen Band Ein letzter Brief an Dich von Daniela Danzer gegangen, in dem sie von ihrem geliebten Vater, dem österreichischen Liedermacher Georg Danzer (1946 – 2007), Abschied nimmt.
Ich gestehe, ich habe bei der Lektüre manchmal geschluckt vor Rührung und Anteilnahme. Ich will versuchen zu erklären, warum. Georg Danzer stand mir ganz nahe, und war doch auch ganz weit weg von mir. Ich habe ihn 1967 in Matala kennengelernt, er war mein Höhlennachbar in dem kleinen kretischen Fischerdorf, das plötzlich zum internationalen Hippietreff geworden war. Wir beide waren keine Blumenkinder, aber die Neugier und die Abenteuerlust hatten uns unabhängig voneinander dorthin getrieben, um an der Utopie eines anarchisch-freien Lebens teilzunehmen. Für wenige Tage lebten wir diese Utopie, und dann kehrte jeder wieder in sein Zuhause zurück. Georg machte eine große und wunderbare Karriere als Künstler, ich machte mein Studium zu Ende, ging in den Journalismus und schriftstellerte nebenbei.
Ich habe Georg nicht wiedergesehen, der Kontakt zu ihm brach leider ab – wie es oft mit guten Kumpeln ist, die man auf Reisen trifft und dann wieder aus den Augen verliert. Als später in den Medien Bilder und Texte von und über ihn auftauchten, fragte ich mich: Ist das der Georg, den ich in Matala getroffen hatte und mit dem mich eine kurze, aber sehr intensive Freundschaft verbunden hatte? Er war es ganz ohne Zweifel. Es gab Fotos. Außerdem hat Georg ein Lied über seine Tage in Matala gemacht. Und er erzählte auch immer wieder, wie wichtig die Griechenlandreise 1967 für sein weiteres Leben war.
Auch wenn diese Freundschaft nur sehr kurz war, ich habe Georg nie vergessen. Irgendwie war er in meiner Erinnerung immer gegenwärtig. Ich habe die Tage mit ihm an anderer Stelle beschrieben und will mich hier nicht wiederholen. Aber wie der Zufall es bisweilen will, bekam ich über eine Wiener Bekannte Kontakt zu Georgs Tochter Daniela. Durch sie wurde ich auch auf das Buch über den Abschied von ihrem Vater aufmerksam.
Der Tod eines geliebten Vaters ist immer ein einschneidendes Ereignis im Leben eines Menschen, das tiefe seelische Narben hinterlassen muss. Bei Daniela kam ein weiteres Trauma hinzu. Georg hatte sich von seiner erste Frau – Danielas Mutter – getrennt, als Daniela neun Jahre alt war. „Damals ist etwas sehr Zartes in mir zerbrochen“, schreibt sie und: „Wir wurden uns fremd mit der Zeit. Doch wir standen uns sehr nah.“
Das war es, was sie im weiteren Leben aushalten musste: die große Liebe zu dem Vater, die aber zumeist eine Liebe aus der Ferne war. In einem Gedicht, das sie wohl dem Vater in den Mund legt, heißt es sehr verzweifelt: „Niemand sprach, als ich fortging von Dir,/ und der Himmel ertrank, denn ich ließ Dich im Stich./ Ich vergesse niemals Deinen Blick und die Fragen an mich./ Du warst damals so klein/ und es roch nach verbrannten Kakteen/ und die Brandung kam auf,/ und dies alles ist tief eingeprägt als Erinnerung an Dich./ (…) Geh nicht fort/ Geh nicht fort/ Geh nicht fort…“ An anderer Stelle schreibt sie: „Du erschienst mir mein Leben lang unnahbar.“ Sie versucht, diese Kluft mit der großen Liebe zum Vater zu überbrücken.
Nach Georgs Tod möchte sie sich an alles erinnern – alles, was sie an den Vater erinnert, noch einmal vor Augen führen, es in Worte fassen, es verinnerlichen und es gleichzeitig loslassen. Mit diesem Paradox muss sie von nun an leben. Sie will die Trauerarbeit mit dem Niederschreiben leisten. Das Ergebnis ist ihr bewegendes Buch. Georgs Tod wirft Fragen auf, die sie von nun an begleiten werden: „Du bist fort./ Diesmal für immer. /Ohne Hoffnung auf ein Wiedersehen./ Doch was und wo bist Du nun?/ Von wo kommen wir und kehren wir dorthin zurück?/ Gibt es so etwas wie Fügungen des Schicksals?“
Ich habe mich nach der Lektüre von Danielas Buch natürlich gefragt, warum es mich emotional so ergriffen hat. Es gibt mehrere Gründe für diese intensive Anteilnahme. Da war neben dem Mitgefühl für Daniela einmal die Trauer um Georg. Auch wenn ich ihn nur kurz gekannt habe – die Freundschaft hatte tiefe Spuren bei mir hinterlassen. Danielas Bruder Andreas schreibt im Nachwort über seinen Vater: „Du hast immer Dein Gesicht bewahrt, kein Blatt vor den Mund genommen und bist für andere aufgestanden. Du warst sicher kein ‚Ducker‘, hast Dich ungern Autoritäten untergeordnet und bist Deinen Weg sehr zielstrebig gegangen, zumindest in moralischer Hinsicht. Deine Wertvorstellungen hast Du für Geld nicht einmal in Frage gestellt.“
Das ist der Georg, den ich in Matala kennengelernt hatte. Den antiautoritären Rebellen, den Dissidenten, der gut in die 68er Bewegung passte. Daniela beschreibt diese Haltung Georgs so: „Du bist bis zum Ende jemand geblieben, der sich für die Rechte anderer eingesetzt, für die Schwachen stark gemacht hat. Jemand, der gegen die Missstände der Welt angesungen und angekämpft hat.“ Und Georg selbst beschreibt diese Protesthaltung in seinem Lied Traurig, aber wahr so:
dass die Ungerechtigkeit
täglich mehr zum Himmel schreit
dass a so ned weitergeht
aber wie, des wissma ned
dass si d’An in Mag’n verderbn
und die Andern Hungers sterben
dass die Grausamkeit regiert
und dass’s immer schlimmer wird
dass die Wöd im Dreck darstickt
und dass des nur an uns liegt
traurig aber wahr
traurig aber wahr
Dieser Georg war ein Bruder im Geiste für mich, ich selbst hatte die Studentenrebellion von 1968 mitgemacht und habe mich später immer als einen schreibenden kritischen Außenseiter angesehen und bin es bis heute geblieben.
Daniela beschreibt ihren Vater liebend aus der Nähe und zugleich kritisch aus der Distanz. Liebe, Freude und Schmerz halten sich da die Waage. Ich musste, als ich ihre Zeilen las, automatisch an das Verhältnis zu meinem Sohn denken – und das ist der andere Grund, warum mich ihr Buch so bewegt hat. Auch da gab es Koordinaten von großer Zuneigung, Liebe, Trennung und Schmerz. Ich stellte mir vor, er würde wie Daniela nach meinem Tod auch ein Abschiedsbuch über mich schreiben. War meine Liebe zu ihm auch nur eine Liebe aus der Ferne? Wurden wir uns auch fremd mit der Zeit? Würde er auch wie Daniela über mich schreiben: „Sicher bin ich mir aber, dass Du lieb mit uns warst. Sicher bin ich mir aber auch, dass du nicht wirklich greifbar warst, sondern ein wenig wie ein Geist, dessen Anwesenheit auch während der Abwesenheit spürbar war. Oder umgekehrt? Manchmal scheint mir, dass dies weniger eine Verhaltensweise, sondern fast ein Charakterzug von Dir war.“
Ich bin mir bewusst, dass mein Sohn auch mit diesem Paradoxon leben musste und muss. Man sagt den 68er nach, dass sie zu sehr mit Theorien überlastet gewesen seien. Das große Ziel einer besseren und gerechteren Welt zählte vielleicht mehr als die so nötigen liebenden Emotionen zu den Anvertrauten der nächsten Umgebung. Ich muss mir diesen Schuh anziehen.
Bei Georg war es vermutlich das totale Aufgehen in seiner Kunst, in der er so Großes vollbracht hat, das Abstand zu den Nächsten geschaffen hat. Daniela deutet das immer wieder an. Aber die Dinge sind geschehen, man kann sie nicht mehr ändern, kann sie bestenfalls als Erfahrung weitergeben. Durch Danielas Buch hat ihr Vater Georg noch einmal tief in mein Leben eingegriffen, dafür bin ich ihr sehr dankbar.
Diesen Text habe ich am 26.05.2023 in Lentas (Kreta) geschrieben.