Der deutsche Historiker Eberhard Jäckel hat einmal geschrieben, dass die Hitler-Zeit umso näher rückt desto mehr man versucht, sie wegzuschieben. Während in Deutschland eine Schlussstrich-Debatte wieder auflebt, haben die Griechen (speziell auch die Kreter) dieses Problem nicht. Für sie ist die deutsche Besatzungszeit absolut gegenwärtig. Opfer können sich offenbar viel leichter erinnern als Täter.
Im kretischen Ort Viannos und den umliegende Dörfern fanden dieser Tage viele Gedenkveranstaltungen statt, um an das schreckliche Massaker zu erinnern, das am 14. September 1943 und an den folgenden Tagen in dieser Region stattfand. Wie war es dazu gekommen? Kretische Partisanen (Andarten) starteten in dem Glauben, dass die Alliierten in Kürze auf Kreta landen würden, vermehrt Angriffe auf die Truppen der deutschen Besatzer. Diese durchkämmten das Gebiet systematisch, um den Widerstand auszuschalten. Dabei geriet eine deutsche Einheit in einen Hinterhalt der Partisanen. Sie töteten 12 deutsche Soldaten. Daraufhin ordnete der Kommandeur der 22. Infanteriedivision, Friedrich Wilhelm Müller, „schärfste“ Sühnemaßnahmen an. Jede Rücksichtnahme auf die kretische Bevölkerung sei fehl am Platze. Die deutschen Soldaten führten den Befehl „ordnungsgemäß“ aus.
In dem Bericht, den die Kazantzakis-Kommission später erstellte (der Schriftsteller war mit der Aufgabe von der griechischen Regierung beauftragt worden), hieß es: „Am 14.09. sollte eine der größten Katastrophen hereinbrechen, die Kreta während der ganzen Besatzungszeit erlebt hat. Die Deutschen überfielen die Dörfer Viannos, Amira, Vachos, Kephalovrissi, Krewatas, Agh. Vassilios, Pefkos, Kato Symi, Gdochia, Myrtos, Mournies, Malles etc. Nachdem sie schon auf dem Hinweg jeden getötet hatten, der ihnen begegnete – Männer, Frauen, Kinder – trieben sie in den Dörfern selbst alte Männer zusammen und exekutierten sie in Gruppen.“ Die Zahl der Opfer lag irgendwo zwischen 400 und 500 Ermordeten.
Die deutschen Soldaten feierten ihre Mordtat mit einem Fest. Sie ließen sich am Ort des Geschehens Essen und Wein, die ihnen die Dorfbewohner gebracht hatten, schmecken. Sie tanzten nach Grammophonmusik und äfften den Klageruf der griechischen Frauen „Panagitza mou!“ nach, mit dem sie den Tod ihrer Männer beweinten.
Um die Massaker wenigstens teilweise zu verschleiern, wurden die auf den „Sühnebefehl“ hin Erschossenen als „Banditen“ bezeichnet. So konnte man sie als „Verluste“ bei Gefechten ausgeben. Nikos Kazantzakis, der sehr deutschfreundlich war und Goethe und Nietzsche ins Griechische übersetzt hatte, bekannte später, dass er es nicht fassen könne, dass ein Kulturvolk wie die Deutschen zu solch barbarischen Taten fähig gewesen sei, wie sie sie auf dem griechischen Festland (Kalavrita, Distomo, Kommeno etc.) und auf Kreta (Anogia, Kandanos, Viannos etc.) begangen hätten.
Die menschliche Größe der Griechen zeigt sich darin, dass sie später den Deutschen, die zu ihnen kamen, nie Vorwürfe gemacht haben. Im Gegenteil, die Gastfreundschaft siegte über Hass und Rachegefühle. Was aber nicht heißt, dass sie die Verbrechen vergessen haben. Bei den Gedenkveranstaltungen zum 80. Jahrestag des Massakers von Viannos wurde die grausame Vergangenheit noch einmal sehr lebendig.
Die Reden, die dort gehalten wurden, glichen sich. Alle Redner riefen zunächst die furchtbaren Fakten und das Martyrium der Menschen, das sie erleiden mussten, wieder ins Gedächtnis – wohl auch in der Absicht, gerade der jüngeren Generation vor Augen zu führen, wozu Menschen fähig sein können, wenn alle ethischen Normen außer Kraft gesetzt sind und nur noch die Gesetze der brutalen Gewalt gelten. Die Redner priesen dann vor allem die Rolle des kretischen Widerstandes. Der Stolz auf die Partisanen (Andarten) ist groß, denn ihre entschlossene Gegenwehr gegenüber einem übermächtigen Feind gab den gedemütigten Menschen ihr Selbstbewusstsein, den Glauben an die Gerechtigkeit ihrer Sache und ihre Ehre zurück. Schließlich wurde dann doch noch Deutschland angeklagt. Aber nicht seine Menschen, sondern alle Regierungen der Bundesrepublik, denn sie verweigern bis heute Reparationszahlungen und die Rückerstattung des Kredits, den die deutsche Wehrmacht von der griechischen Nationalbank erpresst hat.
Die Wunden der deutschen Okkupationszeit sind auch nach 80 Jahren noch nicht verheilt. Der griechische Autor Andreas Androulidakis stellte bei einem Gedenkevent in Amira sein neues Buch vor, das den bezeichnenden Titel trägt: ErinnerungenandieBesatzung. OffeneWundenausdieserZeit. Eine alte Frau trat auf, sie ist die einzige Überlebende in ihrem Dorf. Schulkinder haben sich im Unterricht mit dem Mordgeschehen beschäftigt und haben eigene Arbeiten dazu angefertigt, die sie vortragen. Der Direktor des Museums am Mahnmal Aristomenis Siggelakis, der selbst sieben Angehörige bei dem Massaker verloren hat, überreichte den Kindern Urkunden für ihren vorzüglichen Forschungseifer.
Die Position des Mahnmals bei Viannos, das an das Massaker erinnern soll, hoch auf einem Hügel, ist gut gewählt. Es ist mit seinen abstrakt dargestellten Menschenfiguren, auf denen die Namen der Umgebrachten eingraviert sind, und der Stele, auf der ein Sterbender seinen Körper nach unten neigt, von weither sichtbar. Die Menschen können also aus der Ferne sehen, dass ihre Toten nicht vergessen sind. Von dort oben kann man viele Dörfer wahrnehmen, in denen die Wehrmachtssoldaten wüteten.
Das Museum selbst ist wenig spektakulär, es ist eher ein Ort der Besinnung und des Nachdenkens. Die Deutschen haben bei ihrem mörderischen Vorgehen nicht viel hinterlassen, was man zeigen könnte: einen verrosteten Helm und eine ebenso rostige Pistole, einige Urkunden und Dokumente aus der Besatzungszeit. Eine Warnung der deutschen Führung, dass auf Unterstützung der Partisanen die Todesstrafe stehe. An den Wänden kleine Bilderrahmen, die alle Toten aus den verschiedenen Dörfern aufführen – mit Bild der Person oder, wenn das fehlt, nur seine Lebensdaten. In einem Raum anrührende Fotos von Frauen, die ihre Angehörigen beweinen und viele Zeichnungen von Kindern aus der Gegenwart, die ihre Ängste schildern, wenn bewaffnete Männer plötzlich mit Fallschirmen aus Flugzeugen vom Himmel springen und ihre Liebsten bedrohen.
Die Kreterin Despina Iniotaki , die die Aufsicht im Museum hat, erweist dem Verfasser dieser Zeilen eine besondere Ehre. Über verschlungene kleine Straßen bringt sie uns zu dem Ort, zu dem die deutschen Soldaten viele Einwohner des Ortes Amira schleppten und an einer großen Mauer erschossen. Die Soldateska hat alle Häuser ringsum zerstört. Die Mauerreste ragen noch als graue Stümpfe in den blauen Himmel. Das herrliche kretische Wetter und die wunderbaren Bäume ringsum lassen diesen Ort des Schreckens fast wie eine Idylle erscheinen. Die Mauer steht noch genauso da wie damals, sie verrät nichts mehr von dem furchtbaren Mordgeschehen vor genau 80 Jahren. Ein Bild der Verwüstung ist auch heute noch das kleine Dorf Ano Symi. Überall zerstörtes Mauerwerk, aus dem heraus schon Bäume wachsen. Hier haben die deutschen Eroberer aus dem Norden ganze Arbeit geleistet. Der Ort wurde nicht wieder aufgebaut, die Mehrheit seiner Menschen wurde umgebracht.
Am Ende meiner Rundreise sitze ich in Viannos im Kafeneion direkt an der riesigen Platane, die viele Jahrhunderte alt ist. Selbst dieses Wunderwerk der Natur haben die deutschen Soldaten nicht verschont. Sie haben versucht, dem Baumriesen mit Dynamit beizukommen. Aber hier hat ihre Arbeit kläglich versagt. Der alte Riese hat widerstanden. Nur ein paar kleine noch sichtbare Brandspuren hat er abbekommen, er kann beruhigt weiteren Jahrhunderten entgegensehen…