Von Goethes Hellas-Glauben zu Hitlers Griechenlandwahn

Anmerkungen zu Claudia Schmölders Buch "Faust & Helena. Eine deutsch-griechische Faszinationsgeschichte"

Der deutsch-französische Kultursender ARTE brachte kürzlich eine sehenswerte Filmdokumentation über die Beziehung der Deutschen zu den Griechen. Der Titel: Liebe mit Hindernissen. Deutsche und Griechen. Der Film leuchtete diese Beziehung bis tief in die gemeinsame Geschichte aus – bis zur Krise vor einigen Jahren. Aber ist es wirklich nur eine Liebe mit Hindernissen oder hat diese Beziehung nicht noch tiefere Ursachen, Motive und Antriebe? Gibt es nicht auch Tragik in diesem Verhältnis? Die Berliner Kulturwissenschaftlerin und Germanistin Claudia Mölders hat jetzt mit ihrem Buch Faust & Helena. Eine deutsche Faszinationsgeschichte eine Antwort auf diese Frage gesucht.

Im Jahr 1936 hatte der deutsche Germanist Walter Rehm (1901 – 1963) das Buch Griechentum und Goethezeit. Geschichte eines Glaubens herausgebracht. Darin feierte er die deutsche Verehrung für das antike Hellas als „Gottesdienst“. Goethe hatte seine Iphigenie, als sieam Strand der Krim stand und schmerzvoll an die ferne Heimat dachte, den entscheidenden Satz sagen lassen, der der deutschen Griechenlandsehnsucht erst den Inhalt gab: „Und an dem Ufer steh‘ ich lange Tage, das Land der Griechen mit der Seele suchend.“

Rehm deutet diesen Satz – sicher richtig – als das Sinnbild des deutschen Verlangens nach einem fernen Griechentum, das zuletzt in das eigene ewige Menschentum führen sollte, ein Menschentum, das das apollinische Ideal des harmonischen Maßes in den Seelen realisieren sollte. So gesehen war für Goethe jeder auf seine Art ein Grieche. Rehm schreibt: „Fühlen, denken, handeln wie ein Grieche bedeutet aber für Goethe nichts anderes als fühlen, denken, handeln wie ein voller, echter Mensch; das heißt: sich mit Da-Sein erfüllen, die wesentlichen Formen dieses Da-Seins, des eigentlich Menschlichen wieder gewahr werden und sie in der bunten Vielfalt des Lebens und der Kunst durchscheinen lassen. In diesem Sinne war Goethe in all seinen Werken ein Grieche.“

Die Hochzeit Fausts mit Helena im Faust II auf der Burg von Mistra bei Sparta deutet Rehm als Zeichen der Wahlverwandtschaft zwischen Griechen und Deutschen, als die erstrebte höhere Einheit des Griechischen und des Deutschen, des Südens mit dem Norden. Helena ist der Inbegriff griechischer Schönheit, die vollkommene Gestalt und in der Vermählung mit ihr erfüllt sich Fausts unendliche Sehnsucht nach dieser einmal erkannten Schönheit. Gleiches kann aber nur durch Gleiches erkannt und angenommen werden – das ist der Grund, dass griechische und deutsche Humanität so eng verwandt sind.

Die Geschichte des nordischen Zauberers Faust, der den Schatten der  Helena aus der Unterwelt heraufbeschwört, sie auf der Burg von Mistra heiratet und mit ihr den Homunkulus-Sohn Euphorion zeugt, der aber nur wie ein Blitz im Fluge lebte und sich dann in Nichts auflöste, wird zur düsteren Allegorie für das Verhältnis von Deutschen und Griechen. Sie ist auch der Ausgangspunkt für Claudia Schmölders Buch.

Ausgelöst hatte den deutschen Griechenland-Glauben der Kunsthistoriker Johann Joachim Winckelmann (1717 – 1768). Seine „Wiederentdeckung“ der Kunst der antiken Griechen leitete eine Kulturrevolution ein – nicht nur in Deutschland. Diese Kunst erklärte er zum höchsten Ideal. In seinem Manifest über die Nachahmung der Alten schrieb er: „Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der griechischen Meisterstücke ist endlich eine edle Einfalt und eine stille Größe, sowohl in der Stellung als im Ausdrucke. So wie die Tiefe des Meeres allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten, ebenso zeigt der Ausdruck in den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften eine große und gesetzte Seele.“

Winckelmanns kulturrevolutionäre Gedanken bezogen aber nicht nur die Kunst – also das Ästhetische – ein. Griechenland – das stand auch für ein wunderbares Klima, eine vorbildliche demokratische Verfassung und große Denker und Dichter. Es war also der gegebene Kontrast zum kalten und unwirtlichen Deutschland im Norden, in dem strenger Protestantismus und Militarismus herrschten. Friedrich Hölderlin (1770 – 1843) hatte sich ganz ähnlich in seinem Hyperion über Deutschland geäußert, er nannte das Leben dort „schal und sorgenschwer und übervoll von kalter stummer Zwietracht.“

Heimat als zentraler Begriff des deutschen Griechenlandglaubens

Fast die gesamte deutsche Intelligenz von Goethe und Hölderlin bis zu Friedrich Nietzsche hing dem Griechenlandglauben an. Claudia Schmölders schreibt: „Der Pfad, auf dem die Idealisten zu jener fieberhaft begehrten Helena vordringen wollten, war der Traum vom klassischen Hellas als eigner Heimat, den Goethe dann mit so viel Leben wie möglich erfüllen wollte, nämlich mit einer Verkörperung des schönen Idols, einer Hochzeit und sogar einer Geburt.“

„Heimat“ war also das Stichwort, das alle deutschen Griechenland-Gläubigen anführten – mit dem Blick auf das Sehnsuchtsland, das sie aber nie sehen sollten. Hölderlin war von der Sehnsucht nach dieser „Heimat“ geradezu besessen. Er schrieb: „Ach! einmal dort an Suniums Küste möcht‘/ ich landen, deine Säulen, Olympion!/ erfragen, dort, noch eh der Nordsturm/ hin in den Schutt der Athenertempel/ und ihrer Götterbilder auch dich begräbt; / denn lang schon einsam stehst du, o Stolz der Welt,/ die nicht mehr ist!“ Griechenland war für ihn die Einheit von Natur, Gott und Mensch und die Wiederkehr des Griechischen würde diesen Bund wiederherstellen – die Rückkehr der Götter ist auch die Rückkehr des Griechischen im Deutschen. Hölderlin schrieb: „Mich ergriff das schöne Phantom des alten Athens wie einer Mutter Gestalt, die aus dem Totenreich zurückkehrt.“ Das Altgriechische war für ihn die „Sprache der Mutter“. In einem Park in Frankreich soll er 1802 die dort stehenden griechischen Statuen angesprochen haben – die Hände erhoben zum Gebet.

Hölderlins Klassenkamerad im Tübinger Stift Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 – 1831) schrieb in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie: „Bei dem Namen Griechenland ist es dem gebildeten Menschen in Europa, insbesondere uns Deutschen, heimatlich zumute. (…) Was aber uns heimatlich bei den Griechen macht, ist, dass wir sie finden, dass sie ihre Welt sich zur Heimat gemacht; der gemeinschaftliche Geist der Heimatlichkeit verbindet uns. Wie es im gemeinen Leben geht, dass uns bei den Menschen und Familien wohl ist, die heimatlich bei sich, zufrieden in sich sind, nicht hinaus, hinüber, so ist es der Fall bei den Griechen.“

Auch der preußische Politiker und Reformer Wilhelm von Humboldt (1767 – 1831) muss in diesem Zusammenhang genannt werden. Auch er war ein glühender Verehrer der griechischen Antike. Für ihn war das Studium des griechischen Altertums – vor allem auch der griechischen Sprache – die Voraussetzung jeder „echten“ Reform, die Deutschland in die Lage versetzen sollte, einer Revolution wie der französischen zu entgehen. Das Studium des Altertums sollte ein „dritter Weg“ zwischen Reaktion und Revolution sein, in Wirklichkeit sollte es aber dazu dienen, in Deutschland den gesellschaftlichen Status quo abzusichern. Das von ihm geschaffene Erziehungswesen mit dem Ziel der klassischen Bildung wurde ein tragender Pfeiler der preußischen Gesellschaftsordnung. In diesem Sinne hat Humbold auch das Humanistische Gymnasium geschaffen.

Auch Friedrich Nietzsche (1844 – 1900) sah das „Zuhause des eigenen Geistes und des eigenen Gemüts“ im alten unwiederbringlichen Griechenland: „Wir nähern uns heute allen jenen grundsätzlichen Formen der Weltauslegung wieder, welche der griechische Geist in Anaximander, Heraklit, Parmenides, Empedokles, Demokrit und Anaxagoras erfunden hat, wir werden von Tag zu Tag griechischer, zuerst, wie billig, in Begriffen und Werthschätzungen, gleichsam als gräcisirende Gespenster: aber dereinst, hoffentlich auch mit unserem Leibe! Hierin liegt (und lag von jeher) meine Hoffnung für das deutsche Wesen!“

Es waren aber nicht nur die Dichter und Denker, die so imaginär und neurotisch ein versunkenes Hellas als „Heimat“ phantasierten. Auch die Archäologen der Zeit dachten ähnlich. Ernst Curtius (1814 – 1896), der Ausgräber von Olympia, bekannte euphorisch über diesen Ort: „Was dort in der dunklen Tiefe liegt, ist Leben von unserem Leben. Wenn auch andere Gottesboten in die Welt ausgezogen sind und einen höheren Frieden verkündet haben als die olympische Waffenruhe, so bleibt Olympia doch auch für uns heiliger Boden und wir sollen in unsere Welt herübernehmen den Schwung der Begeisterung, die aufopfernde Vaterlandsliebe, die Weihe der Kunst und die Kraft der alle Mühsal des Lebens überdauernden Freude.“ Was die Nazis dann auch 1936 mit ihren Olympischen Spielen in die Tat umsetzten. Alle die genannten Dichter, Denker und Forscher fühlten sich als Erben des antiken Hellas und es war ihr Bestreben, „immer tiefer  in das wahre alte Hellas zurück zu tauchen, wo man sich selbst zu finden glaubte“, schreibt Claudia Schmölders.

Nur der Realist Heinrich Schliemann (1822 – 1890), der sich in die griechische Antike nicht nur zurücksehnte, sondern „sich eingraben wollte in ein Pharaonengrab“, fiel aus der Rolle, denn er hatte „eine untechnische, geistige, nämlich sprachliche Entdeckung gemacht, er hatte eine vergangene Wirklichkeit hinter den Buchstaben entdeckt; er hatte in der Tiefe der Geschichte gegraben und sich nicht mit der Oberfläche einer Fiktion begnügt“, schreibt die Autorin. Aber musste er sich nicht der mythischen und der goetheschen Helena ganz nah fühlen, als er das bei seinen Ausgrabungen in Troja gefundene Geschmeide seiner griechischen Frau Sophia umhängte?

Die Vertreter der Lehre von der Überlegenheit der nordischen Rasse gewinnen an Boden

Unter deutschen Gelehrten (vor allem Vertretern der Romantik) war die Ansicht weit verbreitet, dass irgendwann eine bedeutende Gruppe indogermanisch sprechender Einwanderer („Arier“), die aus dem Norden kam, in Griechenland eingedrungen war und dort die antike Hochkultur begründet hatte. In dieser These steckte natürlich die rassistische Idee, dass diese Nordeuropäer (man dachte da vor allem an die Dorer) allen anderen Völkern in der östlichen Mittelmeerregion in jeder Hinsicht überlegen und nur sie in der Lage waren, die Grundlagen der westlichen Zivilisation in Griechenland zu schaffen. Denn für diese Denkrichtung war es unerträglich und unvorstellbar, dass afrikanische (also vor allem ägyptische) und vorderasiatisch-semitische Stämme oder Völker (etwa die Phönizier) an der Entstehung der antiken griechischen Hochkultur beteiligt sein könnten. Diese Anschauung ist also auch mit starken antisemitischen Elementen durchsetzt.

Der britische Sinologe und Fachmann für Nahost-Studien Martin Bernal geht deshalb davon aus, dass auch und gerade der deutschen Griechenlandsehnsucht ein nordisches Bild Altgriechenlands zu Grunde liegt. Er sieht diesen Griechenlandenthusiasmus als „eine Folge der Projektion des Wunschdenkens von Nordeuropäern des 19. Jahrhunderts, die in die Griechen der Antike hineinlegten, wonach sie sich sehnten und wie sie selbst zu sein (oder wenigstens gesehen zu werden) wünschten.“ Bernal macht aber die Einschränkung, dass nördliche Elemente doch an der Schaffung des antiken Hellas beteiligt gewesen sein müssten, da das Altgriechische eine indogermanische Sprache sei. Aber die These, dass Griechenlands antike Hochkultur das Ergebnis nordischer Einwanderung war, wird seine immense Wirkung weiter entfalten – bis zum Nationalsozialismus.

Von diesem idealistischem Gedankengut waren auch die deutschen und europäischen Philhellenen stark beeinflusst, die am Anfang des 19. Jahrhunderts in Scharen nach Griechenland eilten, um den Hellenen in ihrem Freiheitskampf gegen die türkische Herrschaft zu helfen. Aber sie mussten feststellen, dass sie einem Irrtum erlegen waren. Denn sie waren davon ausgegangen, dass die modernen Griechen noch mit den antiken Vorbildern identisch waren, aber diese wussten wenig oder nichts mehr von ihrer eigenen großen Geschichte. Die Philhellenen erlebten sie als abergläubische, christliche und „schmutzige“ Abkömmlinge, die als „byzantinisierte Slawen“ betrachtet wurden, also in ihren Augen keinerlei „rassische Reinheit“ besaßen und ihren hoch geschraubten, an der Antike orientierten Maßstäben in keiner Hinsicht entsprachen.

Die griechischen Freiheitskämpfer siegten mit ihren philhellenischen Helfern im Kampf gegen die Türken. Ein neugriechischer Staat entstand. Die Großmächte England, Frankreich und Russland setzten 1830 den ersten griechischen König ein: Otto I., ein Philhellene aus dem Hause Wittelsbach, der Griechenland nach dem Vorbild Bayerns zu einem modernen Staat machen wollte. Aber diese neu aufgelegte Ehe von Faust und Helena scheiterte. 1863 wurde Otto zur Abdankung gezwungen, weil die Hofhaltung und die bayrische Beamtenschaft zu viel Geld verschlungen hatten. Der Staatsbankrott stand bevor – nicht zum letzten Mal in der griechischen Geschichte.

Die verhängnisvollen Thesen des Jakob Philipp Fallmerayer

Dann trat ein Mann auf, der das Weltbild der deutschen Philhellenen einerseits bestätigte, zugleich aber auch zutiefst erschütterte: der Historiker, Orientalist und Publizist Jakob Philipp Fallmerayer (1790 – 1861), der aus Südtirol stammte. Er stellte die These auf, dass die antiken Griechen ausgestorben seien, weil Albaner und Slawen sie verdrängt hätten. Seine Hauptthese, die er 1830 veröffentlichte, lautete: „Das Geschlecht der Hellenen ist in Europa ausgerottet. Schönheit der Körper, Sonnenflug des Geistes, Ebenmaß und Einfalt der Sitte, Kunst, Einfalt, Stadt, Dorf, Säulenpracht und Tempel, ja sogar der Name ist von der Oberfläche des griechischen Kontinents verschwunden. […] Denn auch nicht ein Tropfen echten und ungemischten Hellenenblutes fließt in den Adern der christlichen Bevölkerung des heutigen Griechenlands.“ Slawen und Albaner haben also nach Fallmerayer dafür gesorgt, dass es das „hellenische Blut“ nicht mehr gibt.

Diese Sätze, die darauf abzielten, Helena aus den Phantasien der deutschen Griechenland-Enthusiasten und Philhellenen zu vertreiben, konnte man natürlich nur rassisch verstehen. Sie waren von ungeheurer Wirkung. Die Anhänger der Rassenlehre nahmen Fallmerayers These dankbar auf und bauten sie weiter aus, denn man hoffte belegen zu können, dass die hohe Zeit der antiken griechischen Kultur eben „arischen“ Ursprungs gewesen sei.

So untersuchte etwa der deutsche Mediziner und Anthropologe Rudolf Virchow (1821 – 1902) die Schädel deutscher Schulkinder und die Schädel von Hellenen, die Schliemann bei Ausgrabungen gefunden hatte. Erstere wiesen aber keine „arische Dominanz“ auf, nur ein Drittel der Kinder war blond und blauäugig. Bei den hellenischen Schädeln stellte er vorsichtig fest, dass man bei ihren Abmessungen vielleicht an „Leute der arischen Rasse denken“ könne, weiter wollte er aber nicht gehen. Als Naturforscher legte er sich Zurückhaltung auf. Die Archäologen sollten das letzte Wort haben. Wie sehr die Köpfe und Schädel von antiken Griechen/innen dem nordischen Ideal entsprachen, versuchte dann der NS-Rassenideologe Hans. F.K. Günther (1891 – 1968) anhand von antiken Skulpturen in seinem Buch Rassengeschichte des hellenischen und römischen Volkes (München 1929) nachzuweisen.

Auch die Dichter übernahmen die rassistischen Thesen Fallmerayers. Als Beispiel sei hier Gerhard Hauptmann (1862 – 1946) genannt. In seinem 1907 erschienen Buch Griechischer Frühling über seine Reise durch Hellas schwelgt der Autor der Weber und des Biberpelz geradezu in rassistischen Ausschweifungen. Die Griechen, die er sieht, sind zumeist arm, „starren vor Schmutz“, während die Männer arbeiten, „faulenzen die Weiber, liegen im Dreck und sonnen sich“. Ein „vertierter“ Bettler wird für ihn der Prototyp dieser Erbärmlichkeit: „Es ist schwer, sich etwas so Abstoßendes vorzustellen wie dieses verlauste, unflätige, barfüßige und halbnackte Gespenst.“ In Athen registriert er nur „Lärm, Schmutz und Staub“. Überall sieht er nur Verwahrlosung und „jämmerliches verstaubtes Elend“.

Die modernen Griechen sind für Hauptmann ganz offensichtlich nicht in der Lage, ihr Leben in zivilisierter Weise zu ordnen. Für ihn gelten nur die Maßstäbe, die die Antike gesetzt hat: Er will sich ganz einschließen „in die homerische Welt“: „Ich bin hier, um die Götter zu verehren, zu lieben und herrschen zu machen über mich. Deshalb pflücke ich Blumen, werfe sie in das Becken der Quelle, zu den Najaden und Nymphen flehend, den lieblichen Töchtern des Zeus.“ Er wünschte sich am Isthmus von Korinth ein Griechenland, „das würdig wäre, von starken, heiteren, freien und göttlichen Menschen bewohnt zu sein, die noch nicht sind.“

Solche Menschen müssen etwas mit dem Norden zu tun haben, aus dem er kommt. Denn jedesmal schlägt sein Herz höher, wenn er Griechen sieht, die seiner Wunschvorstellung entsprechen – etwa ein Schmied: „blauäugig, blond und von durchaus kernigem, deutschen Schlag, seiner Haltung und dem Ausdruck seines Geistes nach.“ An einem anderen Ort begeistert ihn ein „blondes Mädchen, blauäugig und von zart weißer Haut: ein großer, vollkommen deutscher Kopf.“ Klassisch rein haben sich für ihn nur die Hirten in ihrer Bergeinsamkeit erhalten. Sie sind blond und ihr Gesichtsschnitt ist „unverkennbar antik“. Er vergleicht sie mit Helden oder Halbgöttern.

Angesichts des für ihn unwürdigen Menschentums, das er überall in Griechenland sieht, fällt ihm in Sparta die „Menschenzüchtung“ dieses Militärstaates ein: Er schreibt: „Die alten Spartaner verfolgten Jahrhunderte lang eine Züchtungsmoral. Es hat den Anschein, als wenn die Moral des Lykurg [des mythischen spartanischen Gesetzgebers] in einem größeren Umfang noch einmal aufleben wollte. Dann würde sein kühnes und vereinzeltes Experiment, mit allen seinen bisherigen Folgen, vielleicht nur der Anfang einer gewaltigen Umgestaltung des ganzen Menschengeschlechtes sein.“ Man versteht nach diesen Sätzen, warum Josef Goebbels Hauptmann später zum „deutschen Nationaldichter“ erhob.

Der Nationalsozialismus und die Griechen

Die Nazis konnten also in ihrem Verhältnis zu den Griechen – den antiken und den modernen – an viele Vorgänger anknüpfen. Hitler selbst hat sich als Philhellene gesehen, er hing in seinen ästhetischen Vorstellungen – in der Kunst und Architektur – dem klassischen Schönheitsideal an. Sein Bildhauer Arno Breker musste nach diesem Ideal monumentale Skulpturen schaffen und Albert Speer die entsprechenden Bauten. Für die Erziehung der Jugend verlangte er eine „Heranzüchtung kerngesunder Körper“, die Ausbildung der geistigen Fähigkeiten wurde diesem Ideal untergeordnet.

Der deutsche Griechenlandwahn erreichte bei den Olympischen Spielen 1936 seinen Höhepunkt. Die Nazis wollten mit diesen Spielen das antike Ideal des schönen Körpers, der griechischen Seele und des griechischen Daseins in die Tat umsetzen. Hitler persönlich hat den Ritus der Entzündung der olympischen Fackel im Hain von Olympia eingeführt sowie ihr Tragen durch verschiedene Länder und die Entzündung der olympischen Flamme bei der Eröffnungsfeier im Stadion.

In ihrem Olympia-Film Glaube und Schönheit gab Leni Riefenstahl dem Griechenkult bildlichen Ausdruck. Claudia Schmölders beschreibt ihr Vorgehen sehr anschaulich: „Der Film beginnt mit dem Bild der Akropolis, die Kamera wandert über göttliche und heldische Köpfe und landet schließlich beim Diskobolos, dem Diskuswerfer, eine der strahlendsten Figuren der hellenischen Kunst, geschaffen im 5. Jahrhundert vor Christus vom Bildhauer Myron. Riefenstahl verwandelt trickfilmartig – mephistophelisch – die Statue vor den Augen des Zuschauers in einen lebendigen Körper des Jahres 1936, in einen posierenden und agierenden Diskuswerfer, aufgetaucht am Meeresstrand – an dem eben auch die schöne Helena im Faust II anlandet. Dass die Aufnahmen in der Kurischen Nehrung in Ostdeutschland stattfanden, dass der Sportler im Film nicht der wirkliche olympische Sieger Ken Carpenter war, ein Mann mir bronzener Hautfarbe, sondern der weißhäutige Meister des Zehnkampfes Erwin Huber, störte niemanden.“

Der Krieg der Wehrmacht in Griechenland und auf Kreta

Im April 1941 eroberte die Wehrmacht in einem Blitzkrieg Griechenland und noch im selben Monat auch Kreta. Hitler, der sich ja als Philhellene verstand, soll den Einmarsch seiner Truppen in Hellas mit Unbehagen gesehen haben, er sei durch die Niederlage der italienischen Truppen in Albanien und Nordgriechenland aber mehr oder weniger dazu „gezwungen“ worden. Dazu kamen strategische Gründe: der Aufbau einer starken Position im östlichen Mittelmeer gegen das dort vorherrschende Großbritannien als Absicherung für seinen Feldzug gegen die Sowjetunion. Zudem brauchte er für diesen Feldzug das rumänische Erdöl, und schließlich sollte von Griechenland aus Rommels Feldzug im nahen Nordafrika unterstützt werden.

Es gab aber auch simple ideologische Rechtfertigungen für die Eroberung Griechenlands. Zum einen nahmen die Nazis die These auf, dass die antiken Achaier (die eingewanderten Dorer) germanischer Abstammung gewesen seien, man käme also lediglich in das germanische Kernland zurück, das jetzt allerdings von rassisch minderwertigen Albanern und Slawen bewohnt werde. Man befriedigte die deutsche Griechenlandsehnsucht nun also mit Gewalt, mit militärischen Mitteln und direkter Landnahme.

Hitlers Chef-Ideologe Alfred Rosenberg gab in seinem Buch Mythos des 20. Jahrhunderts der Ideologie, mit der man die Besitznahme Griechenlands begründete, beredten Ausdruck: „Am schönsten geträumt wurde der Traum des nordischen Menschentums in Hellas. Welle auf Welle kommt aus dem Donautal und überlagert neuschöpferisch Urbevölkerung, frühere arische und un-arische Einwanderer. Bereits die altmykenische Kultur der Achäer ist überwiegend nordisch bestimmt. Spätere dorische Stämme stürmten erneut die Festen der fremdrassigen Ureinwohner, versklavten die unterjochten Rassen und brachen das Herrschertum des sagenhaften phönizisch-semitischen Königs Minos, der durch seine Piratenflotte bis dahin die später sich Griechenland nennende Erde befehligte. Als rauhe Herren und Krieger räumten die hellenischen Stämme mit der heruntergekommenen Lebensform des vorderasiatischen Händlertums auf und mit den Armen der Unterjochten [der Sklaven] erschuf ein Schöpfergeist ohnegleichen sich Sagen aus Stein.“

Außerdem beriefen sich die NS-Ideologen sogar auf Goethe. Denn dieser hatte im Faust II zur Landeroberung aufgefordert: „Dem freien Volk auf freiem Grund/ eröffn‘ ich Räume vielen Millionen/ nicht sicher zwar doch tätig frei zu wohnen.“ Der deutsche Germanist Kurt Engelbrecht feierte in seinem 1933 erschienenen Werk Faust im Braunhemd eine solche Landnahme: „Höchste Beglückung findet der deutsche Faust im Ringen um den deutschen Heimatboden.“ Was wohl der Weimarer Olympier zu dieser Form der Vereinnahmung sagen würde?

Das Ergebnis des deutschen Krieges in Griechenland ist bekannt: Nach dem Blitzkrieg wurde ein brutales Besatzungssystem errichtet, es folgte die weitgehende ökonomische Ausplünderung des Landes, die Zerstörung der Infrastruktur, die Bekämpfung des Widerstandes mit grausamen Mitteln, 100 000 Griechen verhungerten, Zehntausende wurden ermordet. Der von den Deutschen angerichtete Schaden ging in die Milliarden. Der kretische Schriftsteller Nikos Kazantzakis (1883 – 1957), der einer offiziellen Regierungskommission angehörte, die die Schäden und Verluste auf Kreta untersuchte, stellte erschüttert fest, dass er nicht verstehen könne, wie sich ein Kulturvolk von der geistigen Höhe des deutschen so barbarisch hätte aufführen können. Was war aus der hehren allegorischen Hochzeit Fausts mit Helena geworden?

Erhart Kästner – der „Dichter im Waffenrock“

Die Nazis fanden für ihren Krieg in Griechenland und die Besatzung auch einen Herold, der ihr Vorgehen dort verteidigte und dichterisch verklärte: den Schriftsteller Erhart Kästner (1904 – 1974). Das heißt, als er als junger Soldat nach Griechenland kam, war er noch gar kein Schriftsteller, er sollte es in Hellas erst werden. Kästner, der ursprünglich Bibliothekar war und zwei Jahre Gerhard Hauptman als Privatsekretär gedient hatte, trat 1939 in die NSDAP ein und meldete sich im selben Jahr bei Kriegsbeginn sofort freiwillig für den Eintritt in die Wehrmacht. Da er behauptete, über (wenn auch geringe) Kenntnisse des Neugriechischen zu verfügen, wurde er 1941 ins von den deutschen Truppen besetzte Griechenland versetzt, erst nach Thessaloniki, dann nach Athen. Dort tat Kästner Dienst in der Psychologischen Eignungsprüfungsstelle für Luftwaffensoldaten und Piloten. Da ihn diese Tätigkeit nicht allzu sehr in Anspruch nahm, hatte er Zeit, sich die eindrucksvollen Schönheiten dieses Landes anzusehen, und daraus entstand die Idee, Bücher über Hellas zu schreiben, die den dort stationierten deutschen Soldaten das Land erklären sollten.

Kästner stellte beim zuständigen General den Antrag auf Freistellung, der auch genehmigt wurde. So konnte er auf Kosten und mit Hilfe der Wehrmacht das besetzte Land und die Inseln bereisen und drei Bücher schreiben: Griechenland. Ein Buch aus dem Kriege (1942), Kreta (1946) sowie das spätere Werk Griechische Inseln (1975). Besonders die beiden ersten Bücher waren reine Propagandatexte. Das Griechenland-Buch wurde an die deutschen Soldaten in Hellas verteilt, das Kreta-Buch kam allerdings erst heraus, als der Krieg schon beendet war. Griechenland fand die allerhöchste Anerkennung beim Oberkommando der Wehrmacht, es wurde als „herrlich“ beurteilt. Kästner selbst schrieb stolz: „Bis ins Führerhauptquartier ging es [das Buch]. Es ist gut beurteilt worden.“

Kästner bejahte in seinen Texten – getreu der NS-Ideologie – die deutsche Eroberung Griechenlands vorbehaltlos, da es sich im Grunde um eine „Heimkehr“ der germanischen Deutschen „in die alte Heimat“ handelte. Denn nordische Einwanderer hätten einst das Land besiedelt und die antike griechische Hochkultur begründet. Reinrassige Griechen wie zur Zeit des Perikles, Platon und Aristoteles gab es aber nach Ansicht des Autors in Hellas nicht mehr, weil deren nordisches Blut längst von slawischem und albanischem Blut überlagert bzw. verdrängt worden war. Kästner suchte deshalb die Hirten in den Bergen auf, weil die in ihrer Abgeschiedenheit noch das „reine“ Blut bewahrt hätten. Er vertrat in seinen Büchern also exakt das rassenbiologische Geschichtsmodell der Nazis (und hatte auch bei Gerhard Hauptmann einiges gelernt), bettete es aber immer wieder in ein mythisch-hellenisches Umfeld ein.

Ein Beispiel. Als Kästner 1941 mit der Bahn von Thessaloniki nach Athen unterwegs war, musste am Fuße des Olymp auf der eingleisigen Strecke ein Gegenzug halten. Er beschreibt diese Begegnung so: „An dieser Stelle unserer Fahrt begegneten wir einem Zug, der nordwärts fuhr und auf einer Ausweichstelle der eingleisigen Strecke unser wartete. Es waren Männer von Kreta, die von dort kamen und nun einem neuen Ziel und einem neuen Kampf entgegengingen. Unser Zug schob sich langsam an der nachbarlichen Wagenreihe entlang. Auf den offenen flachen Eisenbahnwagen standen fest vertäut die Geschütze, die Kraftwagen und die Räder, von Staub überpudert und deutlicher von den überstandenen Strapazen redend als die Männer. Darauf und dazwischen saßen, standen und lagen gleichmütig die Helden des Kampfes, prachtvolle Gestalten. Sie trugen alle nur die kurze Hose, manche den Tropenhelm, und blinzelten durch ihre Sonnenbrillen in den hellen Morgen. Ihre Körper waren von der griechischen Sonne kupferbraun gebrannt, ihre Haare weißblond.“

Und weiter: „Da waren sie, die ‚blonden Achaier’ Homers, die Helden der Ilias. Wie jene stammten sie aus dem Norden, wie jene waren sie groß, hell, jung, ein Geschlecht prahlend in der Pracht seiner Glieder. Alle waren sie da, der junge Antenor, der massige Ajax, der geschmeidige Diomedes, selbst der strahlende, blondlockige Achill. Wie anders denn sollten jene ausgesehen haben als diese hier, die gelassen ihr Heldentum trugen und ruhig und kameradschaftlich, als wäre es weiter nichts gewesen, von den Kämpfen auf Kreta erzählten, die wohl viel heldenhafter, viel kühner und viel bitterer waren als alle Kämpfe um Troja. Wer auf Erden hätte jemals mehr Recht gehabt, sich mit jenen zu vergleichen als die hier – die nicht daran dachten. Sie kamen vom schwersten Siege, und neuen, unbekannten Taten fuhren sie entgegen. Keiner von ihnen, der nicht den Kameraden, den Freund da drunten gelassen hätte. Um jeden von ihnen schwebte der Flügelschlag des Schicksals. Es wehte homerische Luft.“

Getreu der NS-Rassenideologie, der Kästner anhing, waren die antiken Griechen, die ja Abkömmlinge germanischer Nordvölker gewesen sein sollen, Menschen von „höherem Geleucht, rein, sauber und klar: die weißen Götter“. Für die modernen Griechen hatte er nur Verachtung übrig, er diffamiert sie als „Affengesichter“, „Levantiner“, „schwarzen Pöbel“ und „Lemuren“ [eine Halbaffenart auf Madagaskar]. Dem griechischen Volk bescheinigte er „Verfall, Tod und Verwesung im Geblüt.“ Die Kreter sind für ihn Menschen, die nichts dabei finden zu stehlen, zu rauben und zu töten. Den griechischen und kretischen Widerstand, der gegen die deutschen Besatzer für die Befreiung des Landes kämpfte, bezeichnete er abfällig als „rote Banden“. Der deutsche Historiker Hagen Fleischer hat Kästner einen „Arno Breker der Feder“ genannt.

Am Ende des Krieges geriet Kästner auf Rhodos in britische Gefangenschaft und musste zwei Jahre in einem Lager im ägyptischen Tumilat in der Nähe von Port Said verbringen. Über diese Zeit hat er später das Zeltbuch von Tumilat geschrieben. Er hatte in dem Lager viel Muße, da er nicht arbeiten musste. Kästner reflektiert in diesem Buch über Gott und die Welt. Über seine Zeit in Griechenland als NS-Propagandist und die Schrecken der deutschen Besatzung dort verliert er kein Wort. Als er wieder in Deutschland war, musste er nach Dachau fahren, um dort seine Entlassungspapiere von den Amerikanern zu bekommen. Dem Namen dieser Stadt haftet bis heute das Grauen seiner Geschichte an. Dachau war die erste Todesfabrik der Nazis, von hier aus baute Heinrich Himmler das Netzwerk der Vernichtungslager auf, über 40 000 Häftlinge starben in dieser Hölle. Kästner beschreibt ganz nüchtern seine Registrierung bei den Amerikanern dort. Die Schrecken dieses Ortes, die noch so kurz zurücklagen, erwähnt er mit keinem Satz, obwohl er sonst in seinen Texten in historischen Assoziationen nur so schwelgt. Empathie war Kästners Sache nicht.

Nach dem Krieg hat er kein Wort der Entschuldigung für seine furchtbaren Texte gesagt oder geschrieben. Ganz im Gegenteil, er hat die „braunen“ Stellen in seinen Büchern gestrichen, sie verharmlosend umgeschrieben. Die Passage mit den deutschen Soldaten auf dem Zug am Olymp lautete in seinem korrigierten, neuen Griechenlandtext Ölberge. Weinberge. Ein Griechenlandbuch nun: „An einer Ausweichstelle der eingleisigen Strecke wartete ein entgegenkommender Zug. Unsere Wagenreihe schob sich langsam an der anderen entlang. Es waren Fallschirmjäger von Kreta und eine Flakbatterie; auf den flachen Eisenbahnwagen standen vertäut die Geschütze, überpudert von Staub, darauf und dazwischen standen und saßen die Kämpfer, kurze Hose, Sonnenbrille und Tropenhelm. Ihre Körper waren in den wenigen Tagen kupfern gebrannt, ihre Haare weißblond. Da die griechischen Bahnen eine Leidenschaft für Aufenthalte besitzen, entstand eine Rast. Man kam von Zug zu Zug ins Gespräch. Bald aber kletterten einzelne, dann mehrere von den Wagen herunter, rannten über die Kieselfläche zum Ufer hinab und in die aufsprühende Salzflut hinein. Und was sich in der nördlichen Heimat keiner hätte einfallen lassen, alle verschmähten das Abzeichen neuzeitlicher Körperscham, die Badehose zu tragen. In junger Nacktheit tummelte sich am Fuß des Olympos die landfremde Schar, und unversehens wehte homerische Luft. Mit Ahnungslosen malte die Landschaft sich ein Erinnerungsbild.“

Nun waren aus den kühnen Helden von Kreta, den „prachtvollen blonden Achaiern Homers“, auf einmal „Ahnungslose“ geworden. Kästner gab seine um die „braunen“ Passagen gereinigten Bücher nach 1945 neu heraus – im renommierten Insel Verlag. Er hat trotz seiner verbalen Untaten über Griechenland und seine Menschen immer wieder behauptet: „Meine Liebe zu Griechenland stammt aus dem Kriege.“

Wie die deutsche Graecomanie im Ausland gesehen wurde

Die deutsche Graecomanie hat früh entschiedene Kritiker gefunden, die sich vor allem auf der britischen Insel fanden. Die aus Irland stammende Germanistin Elza Marian Butler (1885 – 1959) hatte schon 1935 ihr Buch The Tyranny of Greece over Germany (Die Tyrannei Griechenlands über Deutschland) vorgelegt. Sie übt Kritik an einer Ideengeschichte, die „nachgerade sklavisch, wenn nicht vampirisch von hellenischer Kunst, Literatur, Philosophie und Technik leben wollte.“

„Elsie“ Butler nennt vor allem einen Grund, warum das Evangelium der universellen Humanität, dem die deutschen Hellas-Verehrer und Philhellenen anhingen, von den Nazis und ihrer Ideologie vernichtet werden konnte: die grundsätzliche Abkehr von der Realität. Die Deutschen seien in ihrer Liebe und Begeisterung für Hellas bodenlos geworden und geblieben, hätten, wie Heinrich Heine es in Deutschland – ein Wintermärchen formuliert hatte, von der Wirklichkeit abgehoben. Bei Heine heißt es: „Franzosen und Russen gehört das Land,/das Meer gehört den Briten,/ wir aber besitzen im Luftreich des Traums/ die Herrschaft unbestritten.“

Warum fragt Butler, mussten sich die Deutschen diesem Bildungsregime derart unterwerfen, hatten sie keine eigenen Ideen? Butler sah Deutschland von Hellas gleichsam überfallen wie Laookon von der Schlange, diesem befremdlichen Idol der philhellenischen Ästhetik seit Winckelmann. Sie sieht bei den Deutschen einen Hang zur blutleeren Abstraktionen und gewaltigen Spekulationen, ohne Rücksicht auf Raum und Zeit, Leben und Sozialität, nur um völlig egoistisch ein als „Innerlichkeit“ ausgegebenes intellektuelles Projekt zu verfolgen und so einen Mangel an kreativer Vitalität und vor allem Realitätssinn zu überdecken.

Was könnte von den deutschen Dichtern und Denkern bleiben, fragt sie, nähme man die Griechen und das ganze Hellas-Thema aus ihrer Geistesgeschichte? Der Charme und die Tiefe, die sie aus dieser Quelle bezogen hätten, seien doch nur geliehen und nicht originär gewesen. Butler findet die deutschen Hellas-Visionen blutleer, sie seien aus Marmor, aus künstlicher Begeisterung entstanden. Ihr Fazit lautet: Die deutschen Dichter und Denker hätten sich einer imaginären „Heimat“ verschrieben – moralisch, geistig und ästhetisch. Sie hätten Hemmungen gehabt, sich wirklich in das Meer der Leidenschaften zu stürzen und darauf zu navigieren wie seit Jahrhunderten die pragmatischen Engländer und die alten Griechen vor Jahrtausenden.

Die deutsch-griechische Tragödie ist noch nicht zu Ende

Die Kritik von „Elsie“ Butler ist sicher berechtigt. Die politischen Folgen der deutschen Realitätsverkennung gegenüber den Griechen, die sich immer mit Arroganz und Hochmut verbanden, waren tragisch (Claudia Schmölders nennt sie eine „Kulturtragödie“) und wirken weiter. Deutschland weigert sich bis heute, (trotz aller Sonntagsreden der Politiker/innen von „historischer Verantwortung“) für die barbarischen Gräuel und Zerstörungen von Hitlers Armee aufzukommen und eine Entschädigung zu zahlen.

Als Griechenland 2010 – sicher nicht ganz schuldlos – in eine tiefe Finanzkrise gerutscht war, zeigte das reiche Deutschland keinerlei „historische Verantwortung“ und bot den Griechen keine Hilfe an. Merkel, Schäuble und die EU stürzten das Land mit ihrer neoliberalen Gläubigerpolitik ins soziale Elend und in den Ausverkauf seines Besitzes. Begleitet wurde diese Tragödie von einer an Niedertracht nicht zu übertreffenden Medienkampagne gegen die Griechen (die BILD-Zeitung immer vorneweg): ein „halb-orientalisches Balkan-Volk“, „faule Nichtstuer“, „Chaoten“, „Pleitevolk“ „Trickser“ und „Lügner“, mit einem Wort: „Niedergang seit 2000 Jahren“ (Focus) – rassistische Diffamierungen, Beleidigungen und Stereotypen, wie man sie von Gerhard Hauptmann und den Nazis her kennt, als hätten die Deutschen nichts dazu gelernt.

Geradezu symbolisch für die deutsche Arroganz war in dem ARTE-Film Deutsche und Griechen die Aussage des damaligen griechischen Finanzministers Jannis Varoufakis, dass sein deutscher Amtskollege Schäuble ihm bei den Verhandlungen über die Beilegung der Finanzkrise bei der Begrüßung sogar den Handschlag verweigert habe. Alles Belege dafür, dass Goethes hehre Hochzeit zwischen Faust und Helena auf der Burg von Mistra keinerlei Folgen für die Politik hatte.

Claudia Schmölders hat ein wichtiges Buch zum Verständnis des deutsch-griechischen Verhältnisses geschrieben. Kritisch sei angemerkt, dass sie der von ihr sehr verehrte „Elsie“ Butler“ sehr viel Raum eingeräumt hat. Bisweilen scheint es, als sei es ein Buch über diese britische Germanistin. Zudem muss man fragen: Warum sie die Kritik an der deutschen Graecomanie nur oder überwiegend aus dieser britischen Quelle schöpft, eine deutsche Selbstkritik wäre noch überzeugender gewesen.

Sehr schonend geht die Autorin mit einigen kulturellen und literarischen Größen um – etwa Wilhelm von Humboldt, Gerhard Hauptmann und Erhard Kästner, deren tiefe rassistische Verachtung für die modernen Griechen sie in Zitaten gar nicht anführt (sie sind von mir nachgereicht). Hätte sie diese Zitate gebracht, wären die deutsch-griechischen Gegensätze noch schärfer zutage getreten, was dem Buch gut getan hätte. Wie man überhaupt merkt, dass eine Germanistin und Kulturwissenschaftlerin die Verfasserin ist, denn die politische Analyse der tragischen Folgen der düsteren Allegorie der Hochzeit von Faust und Helena gelingt ihr nicht immer. Aber die Erkenntnis, dass je mehr aus Hellas Griechenland hervorging, desto grausamer sei die Nähe zwischen Griechen und Deutschen geworden, nimmt man aus diesem Buch mit, und das macht es sehr wertvoll.

Persönliches Nachwort

Die deutsche Bildungselite des 19. Jahrhunderts hat mit dem antiken Hellas vor allem den Begriff „Heimat“ assoziiert. Natürlich war das eine Phantasmagorie, ohne dass man die ungeheure geistige Leistung der antiken Griechen im Geringsten schmälern will. Die deutschen Dichter und Denker von Hölderlin bis Nietzsche haben aber Paläste auf griechischem Boden errichtet, die keine realen Fundamente hatten.

Ich möchte dennoch das Wort „Heimat“ ins konkrete Heute übertragen, und dann behält es für mich einen wirklichen Sinn. Ich bin 1967 zum ersten Mal nach Griechenland aufgebrochen und bin dann – mit Ausnahme der Junta-Jahre – immer wieder dort gewesen. Ich kenne das Festland und sehr viele Inseln. Vor etwa 30 Jahren habe ich mich dann auf Kreta „niedergelassen“ – begeistert von seinen wunderbaren Landschaften, tief beeindruckt von seiner alten, aber auch modernen Kultur, beglückt auch von seinen Menschen, die mich so herzlich und gastfrei aufgenommen haben und nie auch nur die Andeutung eines Vorwurfs bezüglich der barbarischen Anwesenheit der Hitler-Armee dort gemacht haben. Und deshalb nehme ich in Bezug auf Griechenland das Wort „Heimat“ (mit dem Zusatz „zweite“) für mich in Anspruch, nicht als intellektuelle Phantasmagorie, sondern als eine der wunderbarsten Erfahrungen meines Lebens.

Bremen, 6.10.2020

Literatur

Bernal, Martin: Schwarze Athene. Die afroasiatischen Wurzeln der griechischen Antike, München 1992

Hauptmann, Gerhard: Griechischer Frühling, Leipzig 1908

Kästner, Erhard: Griechenland. Ein Buch aus dem Krieg, Berlin 1942

ders.: Kreta, Frankfurt am Main 1975

ders.: Ölberge, Weinberge. Ein Griechenlandbuch, Wiesbaden 1952

Mazover, Mark: Griechenland unter Hitler. Das Leben während der deutschen Besatzung, Frankfurt/ Main 2016

Rehm, Walter: Griechentum und Goethezeit. Geschichte eines Glaubens, Leipzig 1936

Schmölders, Claudia: Faust & Helena. Eine deutsch-griechische Faszinationsgeschichte, Berlin 2018

Strohmeyer, Arn: Dichter im Waffenrock. Erhart Kästner in Griechenland und auf Kreta 1941 – 1945, Mähringen 2006

Xylander, Marlen von: Die deutsche Besatzungsherrschaft auf Kreta 1941 – 1945, Freiburg 1989