Wien, März 1967. Im Café Hawelka in der Wiener Dorotheengasse 6 traf der junge Georg Danzer (er ist Jahrgang 1946, war also 21 Jahre alt) einen Typen namens Shlomo. Georg hat später über ihn geschrieben: „Ich weiß nicht, ob Shlomo sein richtiger Name war, oder ob er ihn sich nur zugelegt hatte, um als Jude zu gelten. Vielleicht war er Jude, ich habe ihn nie danach gefragt. Jedenfalls sah er sehr biblisch aus, hatte langes wallendes Haupthaar und einen undurchdringlichen Bart. Er hielt sich für einen Lebenskünstler und wollte mit der bourgeoisen Gesellschaft nichts zu tun haben. Dieser Shlomo hatte eines Tages die Idee, man müsste zu Ostern nach Kreta fahren, [Autos] ‚stoppen‘ natürlich, oder wie ein Hobo mit dem Güterzug bis Athen und dann rauf auf die Fähre.“
Und weiter schrieb Georg: „Wir sprachen jeden Nachmittag darüber, bis die Sache auch bei mir zur fixen Idee wurde. Vor allem die Vorstellung, dass ich mir auf dem Flohmarkt in Athen, wo angeblich Restbestände des amerikanischen Militärs verramscht wurden, einen solchen Armeeparka, wie ich ihn mir schon die längste Zeit wünschte, würde kaufen können, beflügelte meine Gedanken. Meine Eltern brauchte ich gar nicht zu fragen, das war klar.“
Georg gibt auch eine treffende Beschreibung der Atmosphäre damals im Hawelka, die er direkt in Zusammenhang mit Kreta bringt: „Es roch nach nassen Schuhen und feuchten Mänteln und nach Wuchteln und Cognac und Kaffee und nach allen möglichen Tabaksorten, Zigaretten, Zigarren, Pfeifen, die Zeitungen raschelten, Rufe ertönten, die Leute flüsterten oder schrien vor Lachen, es war ein Getümmel und Getöse, ein Brummen und Husten, und wir saßen da und überlegten, ob wir nach Kreta fahren sollten.“
Bonn, März 1967. Ich traf mich zu dieser Zeit oft abends mit meinem Freund Horche in der Kneipe „Zum Fass“ in der Breiten Straße. Horche stammte aus Bolivien und wollte eigentlich in Bonn studieren, aber er bekam jeden Monat einen so ordentlichen Scheck von zu Hause, dass er es vorzog, das Leben eines Edel-Bohemian zu führen. Wir hatten von Matala und der gelebten Utopie eines „freien“ Lebens in dem kleinen kretischen Fischerdorf in den Zeitungen und Magazinen gelesen. Hippies, Abenteurer, Traveller und andere bunte Paradiesvögel lebten dort in Höhlen, die Menschen in grauer Vorzeit in den weichen Felsen geschlagen hatten. Ursprünglich waren es wohl Grabhöhlen gewesen.
Horche und ich waren fasziniert von der Idee dieser „freien“ Gesellschaft und beschlossen, unsere Rucksäcke zu packen und uns per Autostopp nach Griechenland und dann per Schiff nach Kreta aufzumachen. Ich will hier nicht von dieser abenteuerlichen Trampfahrt erzählen, ich habe das an anderer Stelle getan. Deshalb nur so viel: Wir kamen wohlbehalten in Athen an. Horche lernte in der Plaka eine amerikanische Hippie-Frau kennen, die in einer Flower-Power-Kommune lebte. Er verliebte sich in sie und schloss sich der bunten Blumenkinder-Truppe an. Ich habe ihn erst Monate später in Bonn wiedergetroffen. Er hatte viel zu erzählen.
Dafür tauchte meine Studienfreund Peter unvermutet in Athen auf, ein origineller und witziger Typ, der ständig irgendwelche Kalauer auf der Zunge hatte und wunderbar Gitarre spielen und dazu singen konnte. Aber sein Humor täuschte darüber hinweg, dass er furchtbar unter der überaus strengen katholischen Erziehung in seinem Elternhaus litt und einen Weg suchte, sich von diesem Ballast zu befreien. Da war Matala genau das Richtige.
Wir nahmen in Piräus abends das Schiff nach Kreta, kamen frühmorgens in Chania an und trampten weiter in Richtung Matala. Wir erreichten den Ort am späten Abend. Er lag in tiefer Dunkelheit, denn Strom und damit auch öffentliche Laternen gab es damals dort noch nicht. In einer Taverne am Dorfrand fragten wir, wo wir ein Quartier finden könnten. „Geht zum Strand. Da ist eine Party – die helfen euch weiter“, sagte der Wirt.
Und wirklich: Am Strand fand um ein großes Feuer herum eine wilde Party statt. Es wurde getanzt, gesungen, getrunken, gekifft, und immer wieder stürzten sich Paare oder Einzelne mit dionysischem Geschrei in die Meereswellen. Wir wurden freudig begrüßt, wurden umgehend mit Wein versorgt und man bot uns auch das Hasch-Pfeifchen an, das im Kreis um das Feuer die Runde machte. Es war eine wunderbare Stimmung, wir fühlten uns umgehend in die Gemeinschaft aufgenommen.
Als das Feuer niedergebrannt war und auch die bacchantisch feiernden Hippies Müdigkeit verspürten und sich in ihre Höhlen zurückzogen, boten uns zwei kanadische Freaks an, uns eine leere Höhle zu zeigen. Wir stolperten die steile Felswand hinter ihnen hinauf – ein halsbrecherisches Unternehmen, da wir keine Taschenlampe dabeihatten. Aber wohlbehalten erreichten wir „unsere“ Höhle. Sie war sehr niedrig, ich konnte kaum darin stehen. Sie hatte auf der rechten Seite vom Eingang einen in den Fels gehauenen großen Sarkophag, in dem es sich Peter bequem machte. Ich breitete mein Lager auf dem Höhlenboden aus.
Georg und Shlomo
Die Nacht (und auch die folgenden) war furchtbar kalt und hart auf dem felsigen Boden, denn ich hatte keinen Schlafsack dabei, deckte mich nur mit meiner Parka zu. Am nächsten Morgen schickte eine strahlende Sonne ihr Licht direkt in unsere Klause. Und plötzlich erschienen die Köpfe von zwei Gestalten im Höhleneingang und wünschten uns lachend einen „guten Morgen“. Es waren unsere Höhlennachbarn, die neugierig nachschauen wollten, wer da in der Nacht angekommen war. Sie verrieten uns nicht gleich ihre Namen. Aber als wir gemeinsam zum Frühstück ins Dorf gingen, nannten sie sie: Es waren Georg und Shlomo. Georg hat sicher damals auch seinen Nachnamen hinzugefügt, aber das sagte mir natürlich nichts, denn er war damals noch völlig unbekannt, seine Karriere machte er erst einige Jahre später.
Die Beiden waren wunderbare Kumpels, so wie man sie auf Reisen trifft und später oft leider wieder aus den Augen verliert. Wir genossen zusammen das „freie“ Leben in Matala, verbrachten die Tage am Strand, saßen abends oft im Mermaid-Café, das der zentrale Treff der Hippie-Gemeinde war. (Joni Mitchell hat es später mit ihrem Lied Carey weltberühmt gemacht.) Oder wir saßen abends am Feuer, aßen Fischsuppe, tranken Kretas erdigen Wein und nahmen Züge aus dem herumgereichten Haschpfeifchen. Und es wurde gesungen, wobei Peter oft zur Gitarre spielte und den Vorsänger machte. Die beliebtesten Songs waren The times they are a-changing und Where have all the flowers gone – es war ja die Zeit des Vietnam-Krieges und zugleich einer erhofften politischen Wende. Georg ließ sich von Peter manchmal die Gitarre geben und stimmte auch einige Songs an.
Phaistos, Alexandros und Henry Miller
Ich weiß heute nicht mehr genau, wie viele Tage Peter und ich zusammen mit Georg und Shlomo in Matala verbrachten. Georg erzählte immer wieder vom Café Hawelka und dass er schreiben und singen wollte. Irgendwann beschlossen wir gemeinsam, die Hippie-Idylle zu verlassen. Bevor wir in Heraklion das Schiff nach Piräus nahmen, wollten wir aber noch Phaistos sehen, den minoischen Palast wenige Kilometer von hier, den ich aus Henry Millers überaus pathetischer Beschreibung in seinem Griechenland-Buch Der Koloss von Maroussi kannte. Phaistos war für ihn, als er 1939 kurz vor Kriegsausbruch dorthin kam, der absolute Höhepunkt seiner Griechenlandreise gewesen. Sein ganzes Leben, alle Demütigungen, alle Niederlagen und Erfolge, alles Banale und Große gipfelten für ihn „in diesem gesegneten Moment“, als er Phaistos betrat, das für ihn ein durch und durch weiblicher Ort war, die „Residenz der mythischen Königinnen“.
In Phaistos hatte dieser geistige Vater der Blumenkinder eine der bedeutsamsten Begegnungen seines Lebens – mit dem Fremdenführer Alexandros, für Miller die Verkörperung des Griechen schlechthin. Alexandros empfing ihn – wohl, weil damals so kurz vor Kriegsbeginn kaum noch Touristen kamen und die Trinkgelder ausblieben – mit überschwänglicher Herzlichkeit. Er küsste seine Hand, pflückte Blumen für ihn und kniete nieder, um seine Schuhe zu putzen, was Miller nicht im Geringsten verlegen machte, weil diese Demut für ihn Größe war. Dann führte Alexandros ihn durch die Ruinen des Palastes.
Und als Miller auf dem großen Platz stand, auf dem die Minoer vermutlich ihre heiligen und geheimnisvollen Feste mit dem akrobatischen Stierspringen gefeiert hatten und von dem aus man das grandiose Panorama vom schneebedeckten Ida im Nordwesten bis zu der unendlich sich ausbreitenden Messara-Ebene im Südosten überschauen kann, da schrieb er fromm und voller Bescheidenheit den Satz: „Mein Gott, es ist unglaublich! Ich wandte die Augen ab, es war zu viel, um alles in mich aufzunehmen!“
Alexandros brachte einen Tisch aus dem Wärterhaus und deckte ihn für Miller, der aber darauf bestand, dass er das Mahl mit ihm teilen müsse. So saßen dann die beiden so verschiedenen Männer – der amerikanische Schriftsteller aus New York, dessen Ruhm gerade begann, und der einfache Fremdenführer, dessen Ahnen vermutlich seit Jahrhunderten kretische Bauern gewesen waren – an diesem mythischen Ort, während aus der Ferne das Grollen der großen Kriegskatastrophe näher kam, und aßen das, was man in Griechenland immer isst: Brot, Käse und Oliven und tranken einen dunklen, schweren Rotwein. Der Mystiker Miller notierte in diesem Augenblick: „Gott hat alles im Voraus bedacht. Wir brauchen keine Probleme zu lösen, es ist alles für uns gelöst worden. Wir müssen nur zerschmelzen, uns auflösen, um in der Lösung zu baden. Wir sind vergehende Fische, und die Welt ist ein Aquarium.“ Noch einmal pflückte Alexandros Blumen für Miller, der später gestand, wenn er in diesem Augenblick Phaistos nicht verlassen hätte, dann wäre er für immer geblieben. Aber er musste gehen, denn es gebe Erlebnisse, die zu verlängern die niederste Form der Undankbarkeit sei.
Aufbruch aus Matala
An einem strahlendschönen April-Morgen brachen wir – Georg, Shlomo, Peter und ich – in Matala auf. Uns allen ging langsam das Geld aus. In dem Dorf Pitsidia bogen wir auf einen Feldweg ab und marschierten durch Olivenhaine mit wundervoll geformten alten knorrigen Stämmen. Die Zikaden hämmerten millionenfach ihr immerwährendes Konzert. Überall auf den Feldern arbeiteten Menschen, die uns freundlich zuwinkten und „Jassas“ oder „Kalimera“ riefen – was soviel wie „guten Tag“ bedeutet. (Ich habe diese und die folgenden Passagen größtenteils meinem Buch Reise nach Matala entnommen. So etwas kann man nicht zwei Mal schreiben!)
Als wir das Palastgelände betraten, sahen wir als erstes einen kleinen, in einen dunklen Anzug gekleideten älteren Herrn mit schneeweißen Haaren. Er wirkte überaus korrekt und trug trotz des warmen Frühlingswetters über den rechtwinklig angehobenen Arm einen schwarzen Regenschirm gehängt. Er führte eine einzelne Amerikanerin durch die Ruinen und erklärte ihr in vorzüglichem Englisch jede Einzelheit. Wir gesellten uns zu den beiden, er begrüßte uns mit einer höflichen, altmodischen Verbeugung und stellte sich vor: „Alexandros.“ Wir hatten längst geahnt, dass er es war.
Wir schlossen uns dem Rundgang der Beiden an. Abwechselnd gab er seine Erläuterungen zur Geschichte des Palastes in Englisch und Deutsch: Seine Entstehung um das Jahr 1900 v. Chr., seine Zerstörungen durch Naturkatastrophen und der immer wieder darauf erfolgte Neuaufbau. Alexandros zeigte uns die Wohn-, Repräsentations-, Kult- und Wirtschaftsräume, die Werkstätten, das Theater und die große Treppe. Immer sprach er von sich in der dritten Person und vermittelte stets das Gefühl, dass er gerade uns in diesem Moment etwas ganz Besonderes und Einzigartiges zeigen wollte.
Als wir den Rundgang beendet hatten, setzten wir uns auf einer alten umgestürzten Säule nieder. Schlomo zog sein Exemplar des Koloss von Maroussi hervor und reichte es Alexandros. „Ah, Henry Miller“, sagte er und schlug sofort zielsicher die Seiten auf, die ihn berühmt gemacht hatten. Vermutlich war er schon von sehr vielen Reisenden vor uns darum gebeten worden. Und dann erzählte er uns die ganze Geschichte dieser kurzen Begegnung von wenigen Stunden noch einmal. Und er berichtete, wie dankbar er Miller noch heute sei, denn in den schweren Jahren des Krieges, in denen keine Touristen nach Phaistos kamen, habe er ihm und seiner Familie aus Amerika ständig Pakete mit dem Lebensnotwendigen geschickt. Und die Briefe, die Miller ihm geschrieben habe, hüte er wie einen großen Schatz. Nach Phaistos kam der Amerikaner aber nie zurück. Alexandros schrieb Shlomo mit seiner exakten Schrift eine Widmung in das Buch.
Als wir mit ihm auf den Säulen saßen, hatte sich in der Ebene von Messara ein dunkler Himmel zusammengebraut. Einzelne Sonnenstrahlen, die noch den Weg zur Erde fanden, färbten die Wolken mit einem giftigen Lilaviolett, das im scharfen Kontrast zum glänzend-saftigen Grünsilber der Olivenbäume stand. Bald fielen die ersten Tropfen auf uns hinab, Donner begann zu grollen. Die Stimmung wurde unheilschwanger und bedrohlich. Es war Zeit, Phaistos zu verlassen. Alexandros bedankte sich für unser bescheidenes Trinkgeld, verabschiedete sich von uns und der Amerikanerin, die ihm sicher mehr gegeben hatte, und verschwand würdevoll mit dem Regenschirm über dem Arm in dem Wärterhaus.
Wir stiegen auf einem kleinen Pfad den steilen Hügel hinunter zur Straße, die von Timbaki nach Mires führt. Als wir sie erreichten, waren wir bis auf die Haut durchnässt. Der warme Regen lief wie eine Dusche über uns, der Donner grollte noch immer, jetzt sogar noch heftiger. Peter breitete die Arme aus und deklamierte das alte tibetische Mantra „Om mani pahdme hum“ und lieferte auch gleich die angebliche Übersetzung mit: „Gepriesen sei der Donnerschlag in der finsteren Leere!“
Homerisches Gelächter auf einem LKW, der Sand geladen hatte
Ein Lastwagen, der Sand geladen hatte, hielt an. Der Fahrer winkte nur mit der Hand – und schon kletterten wir erst auf das Auto und dann auf den Sandberg auf der Ladefläche. Wie Indianer um das Feuer saßen wir dort oben im Kreis, hielten uns an dem Gestänge fest und berauschten uns an dem Blick über das weite Land, den unsere herausgehobene Position bot. Peter stopfte seine Pfeife – halb mit Tabak, halb mit Haschisch. Er zündete sie an, zog daran und ließ sie herumgehen. Nie in meinem Leben hatte ich zuvor Rauschmittel genommen, auch später habe ich nie wieder welche angerührt. Aber in Matala und an diesem außergewöhnlichen Tag sog auch ich den Rauch des brennenden grünen Stoffes tief in meine Lungen. Ich weiß nicht, ob die Droge solche Wirkung hatte, oder ob es die Einmaligkeit der Situation war: Nach wenigen Zügen hatte ich einen solch euphorischen Glückszustand erreicht, wie ich ihn noch nie erlebt hatte. Alles war wunderbar, so phantastisch, dass ich es fast nicht ertragen konnte. Die anderen erlebten es offenbar genauso, der Einklang zwischen uns war total.
Der Lastwagen quälte sich mit schwer stöhnendem Motor die Serpentinen der Berge hinter Gortyn empor, der Fahrer drehte sich ab und zu um und lachte uns durch das kleine Rückfenster zu. Links lag immer noch das gewaltige Ida-Gebirge, davor das hügelige unendliche Meer von Olivenbäumen, rechts entrückte nur langsam die Ebene von Messara. Der Regen hatte nachgelassen, die rote feuchte Erde dampfte. Die rauschartige Stimmung, die erhabene Schönheit der kretischen Bergwelt, all das Gesehene und Erlebte – eigentlich hätten wir schweigen und betroffen in uns gehen müssen. Aber wir konnten es nicht. Und vermutlich deshalb fingen wir an zu lachen wie alberne Kinder – langsam sich steigernd und dann so gewaltig und unwiderstehlich, dass wir nicht wieder aufhören konnten. Wir schauten uns an, fielen zurück in den Sand und brüllten vor Lachen.
Das Gelächter wurde immer homerischer. Wenn wir die Jahrtausende hätten überspringen können, hätten wir in diesem mythischen Augenblick oben auf der Sandladung vermutlich dionysisch verzückt getanzt bis zur völligen Erschöpfung. Ich hätte mich in diesem Zustand nicht darüber gewundert, wenn plötzlich der lüsterne ziegenfüßige und gehörnte Pan zusammen mit struppigen und ziegenschwänzigen Satyrn gefolgt von Dionysos und seinen ekstatisch rasenden Bacchantinnen aus dem Schatten der Olivenbäume auf uns zugesprungen wären, uns in ihren bukolischen Reigen einbezogen und wenn bösartige Kentauren uns verfolgt hätten und der gewaltige Zeus oben vom Ida herab donnernd und orgiastisch in unser Gelächter eingestimmt hätte, dass es bis Santorin zu hören gewesen wäre. Alles war belebt und verzaubert in diesem kurzen Moment eines nie dagewesenen Glücks, einer nie empfundenen Identität.
Peters burn-out
In Heraklion stiegen wir in einem Hotel ab, das auch schon bessere Tage gesehen hatte. Unser Zimmer war groß wie ein Saal. In jeder Ecke stand ein riesiges Bett, das als Pfosten klassische Säulen hatte. Wir saßen auf diesen altertümlichen Schlafgestellen, die Haschischpfeife kreiste wieder. Georg kam auf die Idee, ganz oben am Ende von Peters Gitarre, dort, wo die Saiten gespannt werden, merkwürdig hohe, schrille und sehr harte Töne zu zupfen. Jedes Mal, wenn ein solcher Laut das Zimmer ausfüllte, erhob sich brüllendes Gelächter, wir fielen vor Lachen in die Betten zurück, wie wir vorher in den Sand zurückgesunken waren.
Plötzlich erhob sich Peter und stürzte hinaus. Er war grün und blau angelaufen. Als er nicht wiederkam, gingen wir ihn suchen. Wir fanden ihn auf der Toilette, er hatte nicht abgeschlossen. Der Raum war fast so groß wie unser saalartiges Zimmer. In der einen Ecke auf dem Klosett saß Peter mit heruntergelassener Hose wie ein Haufen Elend. Vor sich in den Händen hielt er eine Schüssel. Er schiss und kotzte auf einmal, was sein Körper hergab. Sein Anblick war von solch tragischer Komik, dass wir uns alle in der Tür stehend die Bäuche vor Lachen hielten. Wenn Peter, der ein so witziger Sprücheklopfer war, in diesem Moment noch den oft wiederholten Spruch „Das Leben ist schwankend wie Bambus im Wind, Halt geben uns einzig die Weisungen des erhabenen Buddha“ deklamiert hätte, wäre die Situation vollkommen gewesen. Aber natürlich sagte er ihn nicht in seinem jämmerlichen Zustand.
Als Peter zu uns ins Zimmer zurückkam, war er wie verwandelt. Bleich, todernst und oberlehrerhaft. Er machte uns schwere Vorwürfe wegen unseres Leichtsinns mit dem Haschisch. Das ganze Haus röche danach. Er nahm den restlichen Klumpen, ging zum offenen Fenster und warf ihn in hohem Bogen in die feuchte Nacht hinaus. Für uns war dieser Auftritt der absolute Höhepunkt dieser absurden Komödie, und wir prusteten erneut los ...
Am nächsten Morgen waren wir alle wieder völlig nüchtern. Das schwüle Regenwetter war klarem, warmem Sonnenschein gewichen. Dionysos, Pan und die Satyrn mit ihrem berauschten Gefolge hatten uns wieder verlassen. Der phantastische Spuk war vorbei. (Hier endet auch das Zitat aus meinem Buch.)
Rückfahrt
Peter und Shlomo wollten noch in Athen bleiben. Ich machte mich mit Georg zur Autobahn auf. Ein Lastwagenfahrer – ein lustiger Schotte – nahm uns bis Larissa mit. Dort kratzten wir unser letztes Geld zusammen und kauften uns Fahrkarten nach Salzburg bzw. München. Aber unser Geld reichte nicht mehr für ein bisschen Proviant und Wasser. Aber wir würden auch so in der Heimat ankommen.
In dem D-Zug-Abteil saß zunächst nur eine Argentinierin, die auf Europa-Reise war. In Skopje nahmen Jugoslawen (ich weiß nicht, ob es Serben, Mazedonier oder Albaner waren) die restlichen Plätze ein. Georg vertrieb sich die Zeit, schrieb auf einem Block Songs oder lyrische Verse und reichte sie mir zur Begutachtung rüber. Ich war völlig überrascht und erstaunt, weil sie sprachlich unglaublich perfekt und schön waren, es gab nichts an ihnen auszusetzen oder zu kritisieren. Ich fragte ihn, wie er aus der Improvisation heraus spontan so etwas Großartiges zustande brächte. Ich weiß nicht mehr, was er mir darauf geantwortet hat.
Dann packten die Jugoslawen ihren Reiseproviant aus: wunderbare Bratenstücke, kräftiges braunes Brot und anschließend Obst. Sie ließen diese herrlichen Genüsse im Abteil rumgehen und bestanden darauf, dass auch wir ordentlich zulangten – was wir beschämt auch taten, denn wir konnten ihnen ja nichts anbieten. Und dann verteilten sie Wassergläser und füllten sie fast randvoll mit Sliwowitz. Ich weiß nicht mehr, wie oft wir uns zuprosteten und auf Ex tranken. Auf jeden Fall waren wir, als wir Belgrad erreichten, recht beschwipst und in sehr heiterer Stimmung. Als wir in Salzburg ankamen, verabschiedete sich Georg und wankte auf dem Bahnsteig ziemlich benebelt, aber sehr lustig und schwankend davon. Mir ging es nicht anders auf dem Münchener Hauptbahnhof. Wir hatten ein großartiges Beispiel balkanischer Gastfreundschaft erlebt.
Ich habe Georg nicht wiedergesehen. Wir haben noch ein paar Briefe gewechselt, dann ist der Kontakt eingeschlafen. Jahre später – ich kann den genauen Zeitpunkt nicht mehr angeben, fand ich Bilder und Berichte in den Medien von einem Wiener Liedermacher namens Georg Danzer. Das Gesicht kam mit sehr bekannt vor! Ist das jener…? Ja, es gab keinen Zweifel, er war es. Georg hatte inzwischen eine steile Kariere gemacht und war einer der Großen in der Austro-Pop-Szene.
Er hat auch zwei Lieder über seine Griechenlandreise 1967 geschrieben, auf der ich ihn kennengelernt hatte. Da heißt es:
Und wann'sd di dann entschliaßt zum weiterleb'n
Dann steht der himmel voller stern
Und es hat wunderschöne zeit'n geb'n
An die erinner ich mich gern (…)
Mit 15 hab' i dèrste freundin g'habt
Mit 19 war die schul' vorbei
Und ich bin autog'stoppt nach griechenland
Und war zum erstenmal ganz frei
Ich bin frei (…)
Auf kreta bleib ich ewig
Viel geld hab' ich ned mit
Ich leb' so lang ich's aushalt
Von spiegeleier mit pommes frites
Ich lern' a madl kennan
Mit kurze blonde haar'
Des war die große freiheit
Vom 67 er jahr
Und in seinem Matala-Song heißt es:
Die straß'n ziagt sie so schnurgrad
Wia zeichn't mit an lineal
Die sun is haß
Und I hab saund in die schuach
Ka bam in aussicht weit und breit
Der mir an schatt'n spend'n kennt
Mei schädl brennt
Und I hab saund in die schuach
I hetz' mi ned, es is schee da herob'n
Bis zum meer is no weit, aber I hab vü zeit
I bin unterwegs nach matala
Dort soll's so oide höhl'n geb'n
In denan a poa hippies leb'n
Dort mecht I hin
Und I hab saund in die schuach
Es riacht nach ginster und jasmin
I g'spür die stille in mia drin
I fühl mi wohl
Und I hab saund in die schuach
I drah mi um und von dort wo I kum
Glänzt die stadt weiß und schdüh, aber I hab mei züh
I bin unterwegs nach matala
Im Hawelka, Wien, Oktober 2022. Die Premiere eines neuen Buches führte mich in diesem Jahr nach Wien. Es war klar, dass ich bei dieser Gelegenheit jenen legendären Ort aufsuchen musste, in dem Georg und so viele andere ihr künstlerisches „Zuhause“ gehabt hatten. Ich war nie vorher dort gewesen. Was hatte ich nicht alles über dieses Lokal und seine berühmten Gäste gelesen! Ich habe dann aber alles so vorgefunden wie vielmals beschrieben. Die Einrichtung ist schlicht und einfach, ist wohl nie erneuert worden und könnte was die kleinen Sofas betrifft mit ihren gestreiften und abgewetzten Plüschbezügen auch vom Sperrmüll stammen.
Die Telefonzelle gleich am Eingang gibt es noch, ist im Handy-Zeitalter aber völlig überflüsseg geworden. Auch die Bilder bekannter und renommierter Maler hängen – wenn auch etwas vergilbt – noch an den Wänden: Werke von Hundertwasser, Brauer, Fuchs und Hütter. So manches Mal soll einer von ihnen seine Zeche mit einem solchen Bild bezahlt haben. Auch die berühmte Plakatwand existiert noch und informiert aktuell über kulturelle Events in der Stadt.
Der Schriftsteller Heimito von Doderer hat über die Wiener Café-Häuser angemerkt, sie seien Orte meditativer Stille und hätten das zweckfreie Vergehenlassen der Zeit in sich aufgenommen. Für das Hawelka stimmt das sicher nicht. Georg Danzer hat die Stimmung dort als stets ausgelassen, laut, bunt und hektisch beschrieben. Über die Zeit und ihre Vergänglichkeit in diesem speziellen Café-Haus könnte man lange philosophieren. Georg hat darüber einmal angemerkt, dass das Hawelka bleibe, was es war, es befinde sich bereits im Zustand der Unsterblichkeit.
Ich war so überladen mit den Mythen und Legenden, die sich wegen seiner prominenten Gäste um dieses so berühmte Lokal ranken – ich denke neben den Malern an Autoren wie H.C. Artmann, Elias Canetti, André Heller, Helmut Qualtinger, Oskar Werner, die hier ein- und ausgingen – , dass ich den Raum ehrfürchtig wie eine wegen ihrer Schönheit gerühmte Kirche oder einen antiken griechischen Tempel betrat. Aber meine Ehrfurcht war völlig fehl am Platz, im Hawelka herrschte banale Normalität. Junge Leute und auch Familien mit Kindern saßen um die eng gestellten Tische, aßen Kuchen oder nippten an ihrem Kaffee oder ihrer Schokolade. Der Ober wies mir den Tisch und das Plüschsofa vor der großen mittleren Säule zu. Als ich mich bedankte, winkte er cool ab. Eine pure Selbstverständlichkeit, so verstand ich seine Geste, da gibt es nichts zu danken.
Ich ließ den Blick schweifen und konnte es bei aller Normalität, die mich hier umgab, gar nicht fassen, dass sich an diesem Ort all das abgespielt hat, was ich darüber gelesen habe. Zum Beispiel, dass die Tische, an denen die Leute jetzt so brav sitzen, einst eine aufsteigende Hierarchie darstellten, so schreibt Georg. Soll heißen: Als Bohemian musste man sich von Tisch zu Tisch nach vorn dienen, bis man den absoluten Gipfel des Hawelka-Olymps erreichte, den kleinen Tisch direkt an der Theke, an dem auch der alte Herr Hawelka seinen Kaffee und seinen Kipferl genoss. André Heller schreibt, dass er für den ganzen, unvorstellbar mühseligen Weg vom Anfängertisch, vor der Telefonzellentür links neben dem Eingang, zum fünf Meter Luftlinie entfernten Milan-Tisch, links von der Anrichte, etwa sechs Jahre gebraucht habe – mit langen erlebnisreichen Zwischenaufenthalten an anderen Tischen.
Ich blicke zur Tür uns versuche mir vorzustellen, wie der „Nackerte“ (ein Flitzer) hereinkommt, den Georg in seinem Lied besungen hat (Auszug):
Neilich sitz i umma hoiba zwa im Hawelka
Bei a poa Wuchteln und bei an Bier
Auf amoi gibts beim Eingang vuan an Mordstrara
Weu a Nackerter kummt eine bei der Tür
Da oide Hawelka sagt: "Suach ma an Plotz"
Owa sie macht an Batzn Bahö
Weu sie mant das sowas do net geht
Und er soll si schleich'n, aber schnö (…)
Jö schau, so a Sau, Jassas na
Wos macht a Nackerter im Hawelka? (…)
Moch ma hoit a Ausnahm
Sei ma heit net grausam
Weu ein Pro-Mileu-Lokal
Scheißt auf Spiesbürgermoral
Jö schau, so a Sau, Jassas na
Wos macht a Nackerter im Hawelka?
Das Lied wurde in ganz Österreich ein Hit. Für das Hawelka bedeutete der daraufhin einsetzende Run auf das Lokal aber eine mittlere Katastrophe, denn neugierige Massen – auch in Bussen angekarrt – strömten zum Café und wollten wissen, ob es den „Nackerten“ wirklich gibt und ob er hier war. Das Telefon klingelte den ganzen Tag. Der alte Herr Hawelka hatte alle Hände voll zu tun, um mit dem Ansturm fertig zu werden.
Aber den „Nackerten“ hat es nie gegeben. Georg hatte ihn in seiner Fantasie schlicht und einfach erfunden. Er hat das später auch augenzwinkernd zugegeben. Und die Wirtsleute Hawelka haben ihm den Scherz nicht übelgenommen. Frau Hawelka sagte über den Georg immer: „Den hab i mit kleine Braune aufgezogen.“ Ich weiß nicht, ob Georg vielleicht das Vorbild für den „Nackerten“ in Matala gefunden hat, die Medien hatten ausführlich darüber berichtet. Der griechischen Staatsmacht und der Kirche war das „sündige“ Treiben der bunten Paradiesvögel auf dem Höhlenfelsen immer ein Ärgernis gewesen, dass sie möglichst schnell beseitigen wollten. Jedes Mal, wenn nun ein Polizeitrupp anrückte und „Ordnung“ auf dem Felsen schaffen wollte, stellten sich die Hippies „nackert“ vor die Höhlen – und wehrlose, „nackerte“ Menschen kann man ja schlecht vertreiben…
Den Scherz mit dem „Nackerten“ hat Georg 1975 in die Welt gesetzt, er hat in jenen Jahren eine große Karriere gemacht – 2007 ist er gestorben. 55 Jahre ist es jetzt her, dass er und Shlomo neugierig in unsere Höhle in Matala schauten, um zu erfahren, wer die neuen Nachbarn waren. So viele Jahre später muss ich nostalgisch im Hawelka, dem Platz, der ihm so viel bedeutete („seine innere Heimat“), an ihn und unsere kurze Freundschaft denken…
PS.: Ich muss noch eine kurze Ergänzung anfügen und mitteilen, was aus Peter und Shlomo geworden ist. Es war ja eine verrückte Zeit Ende der 60er Jahre: Kalter Krieg, Wirtschaftsboom, Vietnam-Krieg, Flower-Power und Studentenrevolte. Und diese Verrücktheit spiegelt sich auch in den Lebensläufen der Beiden wider. Peter gab sein Studium der Religionswissenschaft in Bonn auf und trat in die Hara Krishna Sekte ein. Ich habe ihn im Internet wiedergefunden – einen glatzköpfigen älteren Herrn in langem weißen Gewand und mit weißer Stirnbemalung. Er heißt jetzt Prthu Dasa Brahmari und ist Hare Krishna-Bischof von Belfast geworden. Auf einem Foto verteilt er – offenbar in Indien – milde Gaben an Arme, die gierig ihre Hände danach ausstrecken. Auf einem anderen Bild sieht man ihn im Gespräch mit dem Beatle George Harrison, wohl auch in Indien.
Shlomo kaufte sich, als er wieder mal nach Matala kam, dort mein Buch Reise nach Matala und fand sich und Georg darin wieder. Er schrieb mir eine email. Ich war zufällig auch gerade auf Kreta und habe mich mit ihm in Matala getroffen. Er war einer Sekte (ich meine, es wäre die von Otto Muehl gewesen) beigetreten. Diese hatte seine Arbeitskraft kräftig ausgebeutet und ihn auch um seine Ersparnisse gebracht. Er war nun arm wie eine Kirchmaus und hielt sich in Wien mit allerlei Jobs über Wasser. Die Freundschaft mit Georg hatte sich irgendwann aufgelöst, er hatte keinen Kontakt mehr zu ihm gehabt.
Ich bin selbst ein großer Anhänger der 1968er Bewegung gewesen und habe aktiv an der Studentenrevolte teilgenommen. Aber diese Zeit hatte auch ihre Irrläufer. Georg hat sich seinen Traum vom Künstlersein, den er schon früh im Hawelka und auch in Matala geträumt hat, voll erfüllt. Er hat eine faszinierende Entwicklung genommen und hat ein fantastisches Lebenswerk hinterlassen. An Peter und Shlomo denke ich dagegen eher mit kritischem Bedauern. Mussten sie wirklich diese Wege gehen?