Hierzulande grassiert eine von der Politik und den Mainstream-Medien inszenierte Massenpsychose bzw. Paranoia, dass „der Russe“ spätestens im Jahr 2028 (wenn er rüstungsmäßig so weit ist) Deutschland und Resteuropa erobern will. Milliarden von Euros werden in die Aufrüstung Deutschlands und der Europäer gesteckt, um „den Russen“, hinter denen sich natürlich der Dämon Putin versteckt, abzuschrecken. „Kriegstüchtigkeit“ ist das Wort der Stunde. Aber will „der Russe“ überhaupt kommen und sich mit dem deutschen Krisenstaat (absteigende Wirtschaft, Deindustrialisierung, marode Infrastruktur, große Kluft zwischen Reich und Arm, zerrüttetes Bildungs- und Gesundheitssystem usw.) belasten? Oder nimmt hier der militärisch-industrielle Komplex, vor dem schon der frühere amerikanische Präsident Dwight D. Eisenhower warnte, den Ukraine-Krieg als Vorwand, um sein übles, weil so profitables Spiel zu treiben?
Wenn man einem Staat – in diesem Fall Russland – solche Eroberungsabsichten unterstellt, dann setzt das ja voraus, dass man selbst ganz unschuldig und unaggressiv ist. Was natürlich gar nicht der Fall ist. Denn die NATO gibt heute (ohne die USA) schon dreimal so viel Geld für Rüstung aus wie Russland: Letzteres wendet etwa 120 Milliarden Dollar für sein Militär auf, die NATO 350 Milliarden Dollar. Allein die USA geben fast eine Billion Dollar für Rüstung aus. Diese Rüstungsausgaben sollen in Zukunft aus Angst vor dem „Russen“ noch ins Astronomische gesteigert werden.
Aber zur Ukraine. Da wäscht der Westen seine Hände in völliger Unschuld. Es ist allein der „Teufel“ Putin, der einen völkerrechtswidrigen Krieg vom Zaun gebrochen hat – einfach ohne Anlass und Grund. Aus imperialistischer Absicht eben. Und morgen oder übermorgen muss dann ganz Europa daran glauben, denn Putins imperialistischer Heißhunger ist nicht zu stillen.
Der eher konservative SPD-Politiker Klaus von Dohnanyi hatte schon vor einiger Zeit gewagt, das westliche Unschuldsdogma in Bezug auf die Ukraine in Frage zu stellen. Er hat seine Kritik in dem einen zutreffenden Satz zusammengefasst: „Ja, Putin hat in der Ukraine einen völkerrechtswidrigen Krieg begonnen, aber der Westen hat dazu die Voraussetzungen geschaffen.“
Genau diese Feststellung belegt Benjamin Abelow in seinem Buch. Es wäre wohl nie zu diesem Krieg gekommen, schreibt er, wenn der Westen nicht ein festgefügtes Russland-Narrativ hätte, aus dem er seine Politik ableitet. Es lautet: Putin ist ein unersättlicher Expansionist, dem es völlig an plausiblen und rationalen Sicherheitsgründen für seine Entscheidungen mangelt. Diesem Narrativ zufolge ist Putin der neue Hitler, und der russische Einmarsch in der Ukraine wird mit den Nazi-Aggressionen des Zweiten Weltkrieges verglichen. Dieses Narrativ stellt deshalb jede Forderung nach Kompromissen und Verhandlungen über ein schnelles Ende des Konflikts als Wunschdenken und Beschwichtigung dar.
Die politische Situation hat sich – das muss hier angemerkt werden – durch die offenbare Verhandlungsbereitschaft von US-Präsident Donald Trump geändert. Sein Vorstoß hat aber bisher noch keine nachhaltigen Ergebnisse gebracht. Es ist heute noch nicht überschaubar, ob er – berücksichtigt man die irrationale Sprunghaftigkeit dieses Präsidenten – überhaupt ein Erfolg wird. Der Autor konnte diese neue Entwicklung noch nicht in sein Buch aufnehmen, was den Wert seines Werkes aber keineswegs mindert, denn das Aufzeigen des Weges und der Motive, wie es zu diesem Krieg kam, wird beim Finden einer möglichen Lösung des Konfliktes eine wichtige Rolle spielen.
Abelow legt zunächst dar, dass das westliche Narrativ grundfalsch ist, und der Westen existenzielle Entscheidungen auf der Grundlage dieser falschen Voraussetzungen getroffen hat. Denn er hat die russischen Beweggründe zu dem Krieg falsch eingeschätzt, was aber sehr gefährlich ist: „Ein nicht zutreffendes westliches Narrativ über die russischen Beweggründe bedeutet letztlich, dass Handlungen, welche der Westen heute vornimmt, die Krise verschärfen und zu einem Atomkrieg führen können.“
Was aber waren die Motive Russlands zu dem Krieg? Abelow schreibt: „Das westliche Narrativ ist das Gegenteil der Wahrheit. Die eigentliche Ursache des Krieges findet sich nicht in einem ungezügelten Expansionismus Putins oder in paranoiden Wahnvorstellungen der Strategen im Kreml, sondern in einer 30jährigen Geschichte westlicher Provokationen gegen Russland, die mit der Auflösung der Sowjetunion begannen und bis zum Beginn des Krieges andauerten. Die Provokationen brachten Russland in eine untragbare Situation, für die nach Ansicht Putins und seines Militärstabs der Krieg den einzigen praktikablen Ausweg darstellte.“ Die russische Führung war offenbar der Ansicht, nur durch einen Krieg die Ukraine aus der politischen Agenda nehmen und damit die Gefahren für die Sicherheit des Landes abwenden zu können.
Als kausale Abfolge, die zum Krieg gegen die Ukraine geführt haben, nennt der Autor als entscheidende Provokationen:
• Die NATO hat sich 1500 Kilometer nach Osten bis an die Grenzen Russlands ausgedehnt.
• Die NATO bzw. die USA haben den ABM-Vertrag (Anti-Ballistic Missile Treaty/Vertrag über die Begrenzung von antiballistischen Raketenabwehrsystemen) einseitig gekündigt und antiballistische Trägersysteme in den neuen NATO-Staaten aufgestellt. Diese können auch offensive Nuklearwaffen, wie zum Beispiel mit Nuklearsprengköpfen bestückte Tomahawk-Marschflugkörper aufnehmen und auf Russland abfeuern.
• Die USA und die NATO haben 2014 dazu beigetragen, den rechtsextremen Staatsreich in der Ukraine durchzuführen. Dabei wurde ein in freien Wahlen gewählter Russland-freundlicher Präsident abgesetzt und durch einen prowestlichen Präsidenten ersetzt, der kein Mandat durch Wahlen besaß.
• Die USA und die NATO haben zahlreiche Militär-Manöver in der Nähe der russischen Grenze durchgeführt. Dazu gehörten auch Übungen mit scharfen Raketen, welche Angriffe auf Luftabwehrsysteme in Russland simulieren sollten.
• Die USA und die NATO haben ohne zwingende strategische Notwendigkeit und unter Missachtung der Bedrohung, die ein solcher Schritt für die Sicherheit Russlands bedeuten würde, der Ukraine die Aufnahme in die NATO versprochen.
• Die USA und die NATO haben sich einseitig aus dem INF-Vertrag (Intermediate Range Nuclear Forces/ Mittelstrecken-Nuklearstreitkräfte-Vertrag) zurückgezogen, was Russland noch anfälliger für einen Erstschlag der USA machte.
• Die USA und die NATO haben im Rahmen bilateraler Abkommen das ukrainische Militär mit Waffen ausgerüstet und ukrainische Soldaten ausgebildet. Die militärische Zusammenarbeit (die sogenannte Interoperabilität) wurde ständig vertieft, obwohl es noch keinen Aufnahmeauftrag der Ukraine für die NATO gab.
• Die USA und die NATO haben durch politischen Druck die Ukraine zu einer kompromisslosen Haltung gegenüber Russland veranlasst und dadurch die Bedrohung des Landes verschärft, die Ukraine aber auch der Gefahr einer russischen Reaktion ausgesetzt.
Diese Provokationen geschahen, obwohl der Westen nach der Wiedervereinigung Deutschlands eindeutige Zusicherungen gegeben hatte, dass die NATO nicht nach Osten ausgedehnt werden sollte, auch wenn diese Zusicherungen nicht vertraglich fixiert wurden. Der Westen hat sich nicht an diese Vereinbarung gehalten, sondern hat sehr früh damit begonnen, die Ukraine militärisch aufzurüsten, um sie so in die eigene Machtsphäre zu integrieren. Es bestand also gar kein Zweifel daran, dass die USA und die NATO die Ukraine als militärischen Vorposten gegen Russland aufbauen wollten. Die Proteste Russlands gegen eine solche Politik, von der sich dieser Staat durch das Vorrücken der NATO an seine Grenze verständlicherweise bedroht fühlte, wurden alle in den Wind geschlagen. Anders gesagt: Der Westen hatte „alle roten Linien“, die die russische Politik gesetzt hatte, überschritten.
Der Autor konstatiert deshalb: „Die genauen Beweggründe für Putins Invasion der Ukraine sind nicht bekannt, aber wahrscheinlich war ein Zusammentreffen verschiedener Faktoren ausschlaggebend: 1. die laufende Bewaffnung und Ausbildung nach NATO-Standards und die Integration der militärischen Strukturen der Ukraine, der USA und anderer westlicher Mächte durch Vereinbarungen außerhalb der NATO; 2. die ständige Drohung, die Ukraine werde in die NATO aufgenommen; 3. die Besorgnis über die mögliche Stationierung neuer Mittelstreckenraketen, verstärkt durch die Sorge, die USA könnten in der Ukraine offensivfähige ABM-Abschussvorrichtungen vom Typ Aegis stationieren, auch wenn die Ukraine noch nicht Mitglied der NATO ist.
An Warnungen vor einer solchen aggressiven Politik des Westens hatte es von kompetenter Seite nicht gefehlt. So bezeichnete der amerikanische Diplomat George Kennan, der Botschafter seines Landes in Moskau gewesen war, die NATO-Osterweiterung als den „verhängnisvollsten Fehler der US-Politik in der Ära nach dem Kalten Krieg“. Er fügte hinzu, dass der Ukraine-Krieg der Beginn eines neuen Kalten Krieges sein werde. Für diesen Krieg hätte es aber überhaupt keinen Grund gegeben, denn niemand hätte jemand anderen bedroht.
Der amerikanische Politologe John Mearsheimer von der Universität Chicago erklärte schon 2015, dass die Russen sich aus Sorge um ihre Sicherheit gezwungen sehen könnten, militärische Maßnahmen zu ergreifen. Dazu zähle auch der Versuch, die Ukraine zu „zerstören“, um sie bei der „Kalkulation“ des Westens aus dem Spiel zu nehmen, wenn dieser nicht aufhöre, die Ukraine militärisch, politisch und wirtschaftlich zu integrieren – eine Warnung die so vorausschauend wie die von Kennan war.
Trotz des ganz offensichtlichen Scheiterns des westlichen Ukraine-Politik (denn sie hat keines ihrer Ziele erreicht und macht sogar einen großen Krieg mir Russland möglich), beharren die politisch Verantwortlichen des Westens bis heute unbeweglich auf ihren Positionen. Sie behaupteten sogar, dass Russlands Einmarsch in der Ukraine belege, dass man richtig gehandelt habe. Hier wird aber Ursache und Wirkung verwechselt. Denn das Gegenteil war der Fall: Die NATO-Erweiterung nach Osten wurde von Russland als offensive Bedrohung wahrgenommen und führte zu Schritten, die vom Westen wiederum als expansionistisch wahrgenommen wurden.
Eine absurde Situation: Die NATO rechtfertigte ihre aggressive Politik mit der Notwendigkeit, die Sicherheitsbedrohungen zu bewältigen, die sie durch die NATO-Erweiterung selbst geschaffen hatte. Mehrere Staaten traten der NATO bei, um ihre Sicherheit zu erhöhen. In Wirklichkeit aber hatte die NATO ein Sicherheitsdilemma für Russland geschaffen, das die Sicherheit aller Staaten untergräbt.
Der Konflikt erhielt also seine Nahrung vor allem aus der Tatsache, dass der Westen sich weigerte, Russlands Sicherheitsbedürfnisse wahrzunehmen. Er behauptete sogar, dass Putin sich die strategische Bedrohung durch die NATO nur einbilden würde. Mit anderen Worten: Man argumentierte, die NATO-Erweiterung sei ein defensiver und völlig harmloser Schritt, der für Russland keinerlei Risiko bedeute. Der Autor fragt aber, ob die USA auch so reagieren würden, wenn Russland oder China Militär- und Raketenbasen in Kanada oder Mexiko aufstellen würden.
Die Bilanz des Autors kann man fast in einem Satz zusammenfassen: „Wenn man alles berücksichtigt, liegt die Hauptverantwortung für den Ukraine-Krieg beim Westen und insbesondere bei den USA.“ Denn – so der Autor – wenn die USA und ihre NATO-Verbündeten alle die Dinge, die sie getan haben, nicht getan hätten, dann wäre dieser Krieg wahrscheinlich nicht ausgebrochen.
Er folgert weiter: „Selbst aus einer eindimensionalen amerikanischen Perspektive war der gesamte westliche Plan ein gefährlicher Bluff, der aus nachvollziehbaren Gründen durchgeführt wurde. Die Ukraine stellt beim besten Willen kein wesentliches Sicherheitsinteresse der USA dar. Tatsächlich spielt die Ukraine kaum eine Rolle. Aus amerikanischer Sicht – und ich sage das, ohne das ukrainische Volk beleidigen zu wollen – ist die Ukraine irrelevant. Die Ukraine ist für die USA nicht wichtiger als irgendeines der fünfzig anderen Länder, welche die meisten Amerikaner aus völlig verständlichen Gründen erst nach langem Suchen auf einer Landkarte finden würden. Die Ukraine ist für Amerika irrelevant, und wenn die Führer der USA und der NATO diese offensichtliche Tatsache eingestanden hätten, wäre das alles nicht passiert.“
Hier könnte man allerdings einwenden, dass die Ukraine sehr wohl für die USA von Bedeutung war und ist, denn die amerikanische Politik verfolgte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion das Ziel, Russland als Weltmacht mit allen Mitteln zu schwächen, um sich ganz auf die Auseinandersetzung mit China konzentrieren zu können. Und dazu braucht man die Ukraine als militärischen Vorposten. Zudem sind die USA seit langem bestrebt, eine Allianz zwischen Deutschland und Russland zu verhindern – ein Zusammengehen von deutscher industrieller Technik und russischen Rohstoffen. Und auch dazu leistet der Ukraine-Konflikt aus Sicht der Amerikaner gute Dienste.
Der Autor folgert weiter: „Offen gesagt, sind sie – wir – in einer misslichen Lage. Es ist eine Lage, die nicht nur äußerst gefährlich ist und die ganze Welt dem Risiko eines Atomkrieges aussetzt: Diese Situation konnte nur durch ein Ausmaß an Dummheit und Blindheit der US-Regierung und ein Maß an Ehrfurcht und Feigheit der europäischen Politiker erreicht werden, das beinahe unvorstellbar ist. (…) Die Politiker in Washington und die europäischen Regierungen – mitsamt den gefügigen, feigen Medien, die deren Unsinn kritiklos nachplappern – stehen jetzt bis zur Hüfte im Sumpf. Es ist schwer vorstellbar, dass diejenigen, die dumm genug waren, diesen Sumpf zu betreten, nun die Klugheit aufbringen, sich selbst zu befreien, bevor sie vollends darin versinken.“
Wer etwas über die Ursachen dieses verhängnisvollen Krieges wissen will, sollte unbedingt zu diesem Buch greifen, das mutig und tabulos die Fehler der westlichen Politik aufzeigt. Vor allem, dass dieser Krieg in erster Linie vom Westen – wider besseres Wissen, bewusst und völlig verantwortungslos – herbeigeführt worden ist und dass er vermeidbar gewesen wäre.
Gelernt hat der Westen aus dem Desaster aber offenbar nichts, vor allem die Europäer glauben immer noch an das Wunder, das ihre Waffen bewirken können. Was aus Trumps Initiative wird, kann man noch nicht beurteilen. Der Westen hat aber bisher nicht die aufarbeitende Auseinandersetzung über sein Versagen gesucht, das zu der Krise geführt hat, sondern setzt noch eins drauf. Nach der Devise „Haltet den Dieb!“ schiebt er den Russen die ganze Schuld zu und unterstellt gleich noch mit, dass ihre Panzer in spätestens drei Jahren Mitteleuropa und auch Deutschland überrollen und erst an der Atlantikküste haltmachen werden. Vermutlich sind solche Fantasien das Ergebnis des schlechten Gewissens bzw. der Schuld, die man durch das eigene Versagen auf sich geladen hat.
Mit solchen unverantwortlichen Prophezeiungen wird Angst geschürt, um eine beispiellose Aufrüstung zu rechtfertigen, die nicht mehr Sicherheit schaffen, sondern das Risiko eines großen – wenn nicht atomaren – Krieges verschärfen wird. Man muss damit rechnen, dass es lange dauern wird, bis die Dominanz der russophoben und kriegsbereiten Ultras, die gegenwärtig politisch die Oberhand haben, durch eine neue Entspannungspolitik abgelöst wird, die übrigens auch Michail Gorbatschow und Putin in seinen ersten Regierungsjahren vorschwebte. Aber der Westen hat sie, im Triumph den Kalten Krieg gewonnen zu haben, rundweg abgelehnt.
Aber zu einer neuen Entspannungspolitik gibt es keine Alternative, nur sie kann wirkliche Sicherheit schaffen. Soll heißen, jede Seite muss die Sicherheitsbedürfnisse der Gegenseite anerkennen und zu entsprechenden Abrüstungsschritten bereit sein. Abelows Buch weist den Weg in diese Richtung, eine Alternative dazu gibt es nicht.
Benjamin Abelow: Wie der Westen den Krieg in die Ukraine brachte. Die Rolle der USA und der NATO im Ukraine-Konfikt, Siland Press/ Amazon Fullfillment 2024, ISBN 978-0-9910767-3-4, 10,70 Euro