Für das griechische Festland und die Inseln war ein Unwetter angesagt. Zudem herrscht Corona im Land. Wir zögern deshalb, nach Knossos aufzubrechen. Wir tun es dann doch. Wir werden fürstlich für unseren Entschluss belohnt. Es ist ein Tag (um es mythologisch auszudrücken), als hätten die Olympier alle ihre Herrlichkeiten über uns ausgebreitet. Der Himmel ist azurblau, die milde Septembersonne versieht alles um uns herum, selbst die monotonen Betonbauten Heraklions auf dem Weg zum minoischen Palast mit einem warmen Glanz, der die Kontraste scharf hervorhebt. Palmen in der Mitte der Straße leiten hin zum Ziel.
Was können die Ruinen von Knossos noch aussagen, wenn Sir Arthur Evans auf die ausgegrabenen Grundmauern nicht ein buntes Disneyland aus Gebäuden mit knallroten Säulen und rekonstruierten Gemälden gesetzt hätte? Stolze Frauen, fremdartig schön mit ihren schwarzen Ringellocken, paradieren vorbei; dunkelhäutige Jünglinge – nur mit einem geometrisch gemusterten Lendenschurz bekleidet – tragen edel geformt Krüge vermutlich zu einer Zeremonie; stolz und würdevoll kommt der Lilienprinz daher; paradiesische Vögel, ein blauer Affe und sich tummelnde Delphine schaffen die wunderbare Illusion, als hätten diese so exotisch anmutenden Menschen völlig im Einklang mit der Natur gelebt. Selbst die gewaltigen Stiere auf anderen Gemälden scheinen diesen Eindruck nicht zu stören: Wagemutige Jünglinge setzen zum kühnen Sprung über diese Bullen an, als sei es ganz selbstverständlich.
Eine Welt der Schönheit und kosmischen Eintracht? Wir wissen es nicht. Die abstoßenden und grausamen Seiten ihres Lebens haben die Minoer nicht überliefert. Die Archäologen glauben aber Beweise für Menschenopfer zu besitzen. Staunend sehe ich im Thronsaal die sich an der Wand hinziehende Liliendekoration, davor lang gestreckt Fabelwesen – vielleicht eine Löwin mit Greifenkopf. An der Längswand der kleine bescheidene Thron, dessen Rücklehne blumenförmig geschwungen ist – viel zu klein eigentlich für den Herrscher dieses riesigen Palastes und eines ganzen Reiches.
Hat hier der große Minos gesessen, der Sohn des Zeus und der Europa, die der höchste der olympischen Götter in seinem Liebesrausch im fernen Phönizierland geraubt und nach Kreta entführt hatte? Und neben ihm seine Gattin Pasiphae, die in Liebe zu einem Stier entbrannt war und sich von Dädalos ein hölzernes Kuhgestell bauen ließ, um sich mit ihm vereinigen zu können. Aus diesem Sodomie-Akt entstammte der Minotaurus, das menschenfressende Ungeheuer im Labyrinth. Erst der athenische Königssohn Theseus konnte das Ungeheuer töten und dank des Fadens, den ihm die in ihn verliebte Minostochter Ariadne mitgegeben hatte, wieder aus dem Labyrinth herausfinden.
Geschichte und Mythos vermischen sich hier untrennbar – geblieben ist die Erinnerung an die schöne Königstochter Europa, die dem ganzen Kontinent den Namen gab und als Symbol dafür steht, dass sich Osten und Westen hier getroffen haben und das Abendland so seinen Anfang nahm. Wenn es so war, führte dann von Knossos aus der Weg zur Höhe der antiken griechischen Kultur, später zu den gotischen Kathedralen, zu Dantes Göttlicher Komödie, zu Goethes Faust, zur Musik von Bach, Mozart und Beethoven und später zu Einsteins Sicht eines harmonisch geordneten Kosmos – aber auch zur Inquisition, zu den Kreuzzügen aller Art, zu ständigen Völkermorden und Schlachten bis zu dem Abgrund des Holocaust?
Ich durchwandere das Ruinenfeld, sehe steinerne Grundrisse, Kammern und Gemächer, große Pithoi und versuche mir vorzustellen, was für ein Leben hier geherrscht hat. War es so bunt und schön wie die restaurierten Gemälde es darstellen? Oder war das minoische Reich eine mächtige und grausame Seemacht, die deshalb keine Mauern brauchte, weil die Schiffe draußen auf dem Meer die Paläste und das heitere Treiben hier schützten? Wann immer ich Griechenlands antike Stätten aufsuche, wünsche ich mir, dass es eine DNA der Steine gäbe, die mir Auskunft darüber geben könnte, was hier einst stattfand und geschah.
Aber die großen, teils gewaltigen Steinblöcke, die sich wohlgeordnet zu Quadraten und Rechtecken oder sogar zu Räumen formen, schweigen beharrlich, liegen porös, schrundig, teils abgewetzt und abgeschliffen von den Stürmen der Geschichte stumm da und behalten ihr Geheimnis für sich. Wir müssen uns auf die vagen Aussagen und den letzten Forschungsstand der Historiker und Archäologen verlassen, der morgen schon wieder ein ganz anderer sein kann.
Als die deutsche Abenteuerin und Schriftstellerin Marie Espérance von Schwartz (1818-1899), die sich gräzisiert Elpis Melena nannte, in der Mitte des 19. Jahrhunderts an diesen Ort kam, bedeckten ihn noch ein Olivenhain und Machiagestrüpp. Sie wusste aus den Erzählungen des Mythos, dass sich hier irgendwo das Labyrinth befunden haben musste, in dem der Minotaurus hauste. Sie fragte die Bauern und Hirten der Gegend, wo hier der Eingang zu dem schrecklichen Bau sei, die schüttelten aber nur verständnislos den Kopf, sie hatten von der dergleichen noch nie gehört.
Eine große Kultur war untergegangen und hatte keine Spuren hinterlassen. Auf der Erde, die ihre Reste bedeckten, weideten nun Schafe und Ziegen. Enttäuscht zog Elpis Melena weiter. Doch sie hatte die richtige Ahnung verspürt, denn auch Arthur John Evans folgte den Angaben des Mythos, als er an dieser Stelle den Spaten ansetzte. Was er fand, war so überraschend und neu, dass er einen Namen für dieses Volk erfinden musste, das einst hier lebte. Er nannte es nach dem, sagenhaften Zeus-Sohn und dem ersten König von Kreta: die Minoer.
Inzwischen weiß die Wissenschaft einiges über sie, aber Vieles ist noch im Dunkel der Geschichte verborgen: ihre Herkunft, ihre Sitten und Gebräuche, wie sie sich selbst nannten und warum sie plötzlich aus der Geschichte verschwanden. Es müssen Semiten gewesen sein, denn als ihre Kultur vermutlich durch den Santorin-Ausbruch etwa um 1500 v.u.Z. zerstört wurde und sie auch nach Palästina flohen, sagten die Juden dort: „Wir müssen sie aufnehmen, es sind ja unsere Leute.“ So steht es im Alten Testament.
Knossos ist ein Labyrinth von Fragen und man muss abwarten, ob die Forschung den Ariadne-Faden zu weiteren Erkenntnissen über die geheimnisvollen Minoer noch finden wird.
4.10-22020