Im Jahr 2019 habe ich ein Buch über die aus Deutschland stammende Baronin Marie Espérance Schwartz (1818 – 1899) herausgebracht, das den Titel trägt: Das kretische Abenteuer der Elpis Melena. Reisen und Leben unter osmanischer Herrschaft. (Elpis Melena ist ihr gräzisierter Name). Sie war eine ebenso schillernde wie faszinierende Persönlichkeit. Von Hause aus sehr vermögend – ihre Eltern besaßen ein Bankhaus in Hamburg und London – konnte sie sich ein privilegiertes und unabhängiges Leben leisten. Sie schrieb Bücher über ihre ausgedehnten Reisen durch den Orient und Griechenland, lebte mit dem italienischen Freiheitshelden Guiseppe Garibaldi zusammen und unterhielt in Rom einen exklusiven Salon, in dem die damalige Hautevolee verkehrte.
Ihre Abenteuerlust ließ sie aber einen kühnen Plan fassen: allein nach Kreta zu gehen. Eine äußerst mutige Entscheidung, denn Kreta war zu jener Zeit noch osmanisch und tiefster Orient. Sie ließ sich 1865 in Chalepa nieder (ein Vorort von Chania) und gehörte bald in der damaligen kretisch-osmanischen Hauptstadt zur High Society.
Rund zwanzig Jahre blieb sie dort, unternahm mehrere Reisen auf der Insel, ließ sich eine klassizistische Villa errichten, in der sie einen Salon unterhielt, in dem viele europäische Prominente verkehrten; unterstützte heimlich den kretischen Widerstand gegen die türkische Herrschaft, gab die Schriftstellerei auf und widmete sich der Armenbetreuung und dem Tierschutz. Über ihre Zeit auf der Insel hat sie das Buch Erlebnisse und Beobachtungen eines mehr als 20jährigen Aufenthaltes auf Kreta geschrieben.
Dieses Buch ist ein wichtiges zeithistorisches Dokument, aber es ist ganz im Stil des Bildungsbürgertums des 19. Jahrhunderts geschrieben und deshalb für heutige Leser keine ganz leichte Lektüre. Ich habe in meinem Buch ihren Lebensweg nachgezeichnet und auch ihre Zeit auf Kreta beschrieben. 2018 habe ich in Chalepa ihr Haus aufgesucht (genau gesagt das, was davon übriggeblieben ist), denn es befindet sich einem sehr verwahrlosten Zustand inmitten eines völlig verwilderten Gartens. Ich schloss daher das letzte Kapitel in meinem Buch mit dem Appell, diese kulturgeschichtlich so bedeutende Haus zu retten und damit an diese große Philhellenin zu erinnern.
Ich schrieb: „Die Villa von Elpis Melena bietet einen noch schlimmeren Anblick als das Palais des Prinzen Georg [das Schlösschen des ersten kretischen Gouverneurs auch in Chalepa, das er nach Abzug der Türken bezog]. Mauern und ein Drahtzaun schließen das große Grundstück ein, auf dem diese Frau sich ihren Lebenstraum erfüllte: ein Haus auf ihrer geliebten Insel Kreta. Fast meterhoch wuchert fast dschungelhaft der pflanzliche Wildwuchs. Zwei Säulenstümpfe ragen aus dem nicht mehr erkennbaren, zugewachsenen Weg zum Eingang des Hauses verloren in die Höhe.
Das Hauptportal des zweigiebligen Hauses wird von zwei jonischen Säulen getragen. Sie sind noch gut zu erkennen und verraten die Liebe der Hausherrin zur Antike. Alles andere an diesem einst repräsentativem Bau, in dem sie viele Großen und Berühmtheiten ihrer Zeit empfing, ist Verwahrlosung, Zerstörung und hinfällige Vergänglichkeit. Das Mauerwerk verrottet, die Läden sind längst vermodert, die Fenster nur noch hohle, schwarze Löcher, durch die man von außen sehen kann, dass längst die Bäume von Zimmern und Räumen Besitz ergriffen haben und durch das nicht mehr vorhandene Dach in den Himmel ragen. Das erbärmliche Bild, das dieses Haus bietet, und in dem vermutlich die Ratten hausen, wird noch durch den Kontrast verstärkt, den die unmittelbare Umgebung bietet: modernste Wohnblocks aus Beton und Glas: also 21. Jahrhundert in Konkurrenz zum 19. Jahrhundert, wobei letzteres keine Chance hat – es sei denn der Mensch hätte bewahrend und rettend eingegriffen, aber in diesem Fall hat er es wie beim Palais des Prinzen unterlassen.
Prinz Georg mag ein Versager gewesen sein, sein Schlösschen verdient es dennoch als historisches Monument aus dem Dunkel der Vergangenheit gehoben und restauriert der Öffentlichkeit gezeigt zu werden. Dasselbe gilt für das kleine Palais von Elpis Melena. Diese außergewöhnliche Frau, die eine exzellente Reiseschriftstellerin war und dann ihre zweite Lebensaufgabe in der Zuwendung zu den Armen, in der Pflege von Kranken und im Tierschutz fand (auf diesem Gebiet war sie auf Kreta eine absolute Pionierin) verdient es, in der Erinnerung gegenwärtig zu bleiben.
Deutschland steht moralisch – man denke an das Wüten der deutschen Wehrmacht in Griechenland im Zweiten Weltkrieg und den beschämenden Umgang der Regierung von Angela Merkel mit der griechischen Krise – tief in Griechenlands Schuld. Wie wäre es, wenn die deutsche Regierung einen Betrag zur Sanierung des Hauses von Elpis Melena zur Verfügung stellen würde und daraus eine kulturelle Begegnungsstätte machen würde? Das wäre der Erinnerung an diese große Frau angemessen. Die Zeit nagt unablässig am Mauerwerk dieses Hauses, und die Immobilienspekulanten sehnen sicher den Tag herbei, an denen dieses Filetgrundstück in ihre Hände fällt. Das hat die große Philhellenin und Kreta-Liebhaberin Marie Esperance von Schwartz, die sich Elpis Melena nannte, nicht verdient.“
Ich weiß nicht, ob mein Appell gehört worden ist. Auf jeden Fall hat es mich mit großer Freude erfüllt, als ich in der Griechenlandzeitung vom 4. August 2021 einen Artikel mit der Überschrift las: Chania: Renovierung der Villa der Baronin von Schwartz geplant. Da hieß es: „Die Ruine soll wieder hergerichtet und kulturell genutzt werden. Ein entsprechender Vertrag für diese Villa wurde vergangene Woche zwischen der Stadt Chania und einem öffentlichen Kulturträger unterzeichnet. Die Villa von Schwartz soll für die Ausstellung von ständigen Sammlungen der Stadt, etwas aus der städtischen Pinakothek und der Stadtbibliothek genutzt werden.“
Manchmal geschehen doch noch Wunder!