Sorbas war ganz anders

Kretas berühmtester Mann war zweifellos Alexis Sorbas: ein „Esser, Trinker, Arbeiter, Frauenheld und Landstreicher, ein Tänzer und Kämpfer“, so hat ihn sein literarischer Schöpfer Nikos Kazantzakis beschrieben. Der Schriftsteller, der 1883 in Heraklion geboren wurde und 1957 in Freiburg (Breisgau) starb, errang mit seinem 1946 erschienen Roman über seinen gleichnamigen Helden Weltruhm. Der 1964 entstandene Film mit dem unvergessenen Anthony Quinn in der Titelrolle löste den Kreta-Boom im Tourismus aus. Millionen wollten sich auf die Spuren dieses einfachen, aber kraftvoll urwüchsigen Tausendsassas und Draufgängers begeben und mit ihm die Insel und die von ihm vorgelebte Leichtigkeit des Seins erleben. Sorbas ist längst Kult geworden, wie man heute sagt, oder Mythos, so hätte man es etwas altmodischer früher genannt. Paradox ist nun, dass dieser vitale und unverwüstliche Lebenskünstler, der wirklich gelebt hat und der den Autor stark beeinflusst hat, gar kein Kreter war. Auch in seiner rauen, aber herzlichen Seele hatte er wenig, was zum Charakter und der Mentalität der Männer dieser Insel gepasst hätte. Auch Antony Quinn, der im Sorbas die Rolle seines Lebens fand und sie so glaubwürdig verkörpert hat, war kein Kreter, nicht einmal ein Grieche, er war Mexikaner. Sorbas war ganz anders. Aber wie war er wirklich?

In seinem Bekenntnisbuch „Rechenschaft vor el Greco“ nennt Kanzantzakis fünf Menschen, die ihn auf seinem langen Weg der Suche nach seiner inneren Wahrheit und nach Gott am meisten unterstützt haben: Der antike Dichter Homer, der Religionsstifter Buddha, die beiden neuzeitlichen Philosophen Henry Bergson und Friedrich Nietzsche sowie Alexis Sorbas. „Würde ich in meinem Leben einen seelischen Führer erwählen, einen 'Guru', wie die Inder sagen, einen 'Alten', wie die Mönche auf dem Heiligen Berg Athos ihn nennen, so würde ich sicherlich Sorbas wählen“, schreibt Kazantzakis.

Wie Sorbas sein „Guru“ werden konnte, ist der Inhalt seines Romans. Der ein wenig weltfremde und mit buddhistischen Studien beschäftigte Schriftsteller, mit dem sich Kazantzakis natürlich selbst porträtiert hat, und der mit allen Wassern gewaschene Landstreicher begegnen sich in einer Hafenkneipe in Piräus. Der „Tintenkleckser“ findet Gefallen an dem rauen Burschen mit der großen Seele und den „spöttischen,  traurigen, unruhigen, feurigen Augen“. Er hat von einem Onkel eine kleine Erbschaft gemacht, mit der er eigentlich eine Anwaltspraxis eröffnen sollte. Aber er will ein Tatmensch werden und verwendet das Geld zum Kauf eines alten verfallenen Braunkohlebergwerkes, das er wieder in Stand setzen will. Da kommt ihm ein Mann wie Sorbas gerade recht, der anpacken kann. Sie setzen auf die Insel über. Die Zeit, die sie nun zusammen verbringen, wird für den Intellektuellen - die „papierverschlingende Maus“, wie Sorbas sagt - die hohe Schule der Freundschaft und des Lebens.

Diesen ungebildeten Arbeiter beherrschten, heißt es im Roman, gleich den ersten vom Affen abstammenden Menschen oder gleich den großen Philosophen, die fundamentalen Probleme des Lebens, die er in seinem Innern als unmittelbar dringende Notwendigkeit erlebt. „Er sieht die Dinge zum ersten Mal, wie ein Kind, ist immer erstaunt und fragt. Alles erscheint ihm als Wunder, und jeden Morgen, wenn er die Augen aufschlägt und die Bäume, das Meer, die Steine oder einen Vogel sieht, steht er mit offenem Mund da.“ Dabei ist dieser „Mensch des Anfangs“ völlig ohne Moral, Religion und Vaterland. Alles nur Zäune, die der armselige, ängstliche Mensch der Gegenwart um sich errichtet hat, damit er in Sicherheit und wohlbehütet leben kann. Eine Existenzform, die Sorbas verachtet. Zu seinem „Boss“, dem Schriftsteller, sagt er: „Wenn Du wüsstest, Chef, was ich für das Vaterland alles getan habe, stünden Dir die Haare zu Berge. Ich habe gemordet, gestohlen, Dörfer in Brand gesteckt, Frauen vergewaltigt, ganze Familien ausgerottet.“ Und: „Ich habe alle Gebote übertreten. Wieviel gibt es? Nur zehn? Warum nicht gleich zwanzig, fünfzig, hundert? Ich würde sie alle übertreten! Und doch, wenn es einen Gott gibt, so habe ich nicht die geringste Angst, am Jüngsten Tag vor ihn hinzutreten.“

Wenn die Dämonen ihn packen, wenn Leib und Seele nicht mehr im Lot sind, der Schmerz ihn überwältigt oder er den unabweisbaren Zwang spürt, sein Innerstes ausdrücken zu müssen, beginnt der vitale Kraftprotz wehmütige Weisen auf seiner Santuri zu spielen. Oder er stürzt wie ein Satyr ins Freie und tanzt in wilden, ekstatischen Bewegungen bis zur völligen Erschöpfung, um dann glücklich hervorzustoßen: „Nun bin ich wieder in Ordnung, aber wenn ich jetzt nicht getanzt hätte, wäre ich verrückt geworden.“ Furchtbar ist ihm der Gedanke, dass die Menschen, um sich untereinander zu verständigen, Kopf, Hirn, Mund, tote Worte und Begriffe gebrauchen müssen, wo sie doch alles mit dem Herzen, den Armen, Händen, Füßen, ja dem ganzen Körper sagen und sich so von Einsamkeit und Angst befreien können.“

Dieser Schamane und „Mensch des Anfangs“, das wird dem Schriftsteller bald klar, ist die „weiteste Seele, der sicherste Körper, der freieste Schrei, den ich in meinem Leben kennengelernt habe.“ Jemand, der alle Schranken niederreißt und die Grenzen des Menschen sprengen kann. Ein Mensch, der ganz und nur im Augenblick lebt und ihm dadurch Ewigkeit verleihen kann. Er wird für Kazantzakis der Mensch der Zukunft schlechthin: „Ich schaute in Sorbas' mondhelles Gesicht und freute mich, wie mutig und einfach er sich mit der Welt auseinandersetzte, wie Körper und Seele bei ihm eine Einheit bildeten, wie sich alle Dinge - Frauen, Brot, Wasser, Kost und Schlaf - harmonisch und glücklich seinem Fleisch verbanden und zu Sorbas wurden. Nie hatte ich solch ein freundschaftliches Verhältnis zwischen einem Menschen und dem Weltall erlebt.“

Als das ganze Unternehmen, ein Bergwerk in Gang zu setzen, durch Sorbas' Fehlkonstruktion einer Seilbahn scheitert und durch die zu Tal rasenden Balken alles zu Bruch geht, alles verloren ist, da geht das äußere Desaster in einem wilden ekstatischem Rausch von Gelächter Freude und Tanz über das sinnlose Geschehen auf dieser Welt unter. Weil sein Guru Sorbas ihm, dem „Tintenkleckser“, am Rande des Abgrunds zum Schrecklichen und zum Absurden die Heiterkeit, das Lachen und das Tanzen gelehrt hatte, bedurfte es der Angst und der Hoffnung auf Erlösung nicht mehr. Und deshalb konnte er sich auf seine Grabplatte auf der Bastion der Stadtmauer von Heraklion den Satz eingravieren lassen: „Ich hoffe nichts, ich fürchte nichts, ich bin frei.“

Das ist aber die vollständige Abkehr vom Christentum und seinen Tröstungen im Jenseits, es ist der Verlust jeder metaphysischen Hoffnung. Man darf nicht vergessen: Kanzantzakis schrieb den „Alexis Sorbas“ etwa im Jahr 1945, einer Zeit also, als Europa in Trümmern lag und über 50 Millionen Menschen ihr Leben verloren hatten. Dieser Roman war seine Antwort auf den Nihilismus der Zeit.

Sorbas ein Kreter? Man muss die Frage wohl in jeder Hinsicht verneinen - die Kreter mögen es mir verzeihen. Zunächst: Mit dem realen Sorbas, der mit Vornamen Georgios hieß, hat Kazantzakis in den Jahren 1916/1917 in Prastova auf der Halbinsel Mani, an der Südspitze des Peloponnes ein Bergwerk betrieben. Er hatte es gekauft, um dem Kriegsdienst zu entgehen. Kazantzakis beschäftige sich damals wirklich mit dem Buddhismus, wollte aber zugleich etwas Handfestes und Reales schaffen. Den Ort des Geschehens hat er im Roman vermutlich aus Liebe zu seiner kretischen Heimat auf die Insel seiner Väter verlegt. Wenn es über dieses Gegend Kretas heißt: „Dahinter dehnt sich die noch immer bewegte See endlos und einsam bis nach Libyen hin und brüllte, als wolle sie Kreta verschlingen“, dann könnte man an die Küste bei Lentas denken, einem Dorf, in dem Kazantzakis in den zwanziger Jahren mit seiner damaligen Gefährtin und späteren Frau Eleni immer wieder weilte, um auszuspannen.

Auch geographisch gesehen kam der wirkliche Sorbas nicht aus Kreta. Im Roman heißt es, dass er aus dem griechischen Mazedonien stamme, in „Rechenschaft vor el Greco“ ist von „seinem Dorf am Olymp“ die Rede. Ob er vor der Bekanntschaft mit Kazantzakis jemals in Kreta war, darüber schreibt er nichts. Aber ein Kreter war der Romanheld Sorbas der Mentalität nach nicht. Freiheit geht diesen stolzen Männern zwar über alles, Bindungen sind ihnen Ketten, zu Kompromissen sind sie so gut wie nicht fähig. Aber sie unterwerfen sich dennoch blind und leidenschaftlich der althergebrachten Sitte und sehr konservativen Tradition ihrer Insel, gesellschaftlichen Konventionen also, die viele Elemente aus der langen türkischen Besatzungszeit bewahren. Ehre ist der zentrale Begriff, die mehr gilt als das eigene Leben. Mut, Tapferkeit und Kampfgeist der kühnen Kleften, Palikaren und Andarten sind nur aus ihm heraus zu verstehen. Ein Kodex, der dem alle Schranken von Moral, Religion und Vaterland niederreißenden Wesen des Anarchisten Sorbas ganz fremd sein muss. Solche Gesetze würde er für sich niemals anerkennen. Ein Sorbas folgt nur dem ungebrochenen, in ihm vorhandenen Gesetz der Natur; die moralischen Gesetze, die seine Umwelt ihm vorschreibt, interessieren ihn nicht. Nein, ein Kreter war er nicht, dieser wunderbare Romanheld!

Wo lassen sich dann aber die geistigen Wurzeln für diese Figur ausmachen? Kazantzakis hat es selbst in „Rechenschaft für el Greco“ bei der Aufzählung seiner „Lehrer“ gesagt: Friedrich Nietzsche war das große Vorbild. Bevor er sich aber diesem deutschen Philosophen ganz zuwenden konnte, musste er sich von einem anderen „Guru“ lösen - von Buddha. Genau diesen Prozess hat er in seinem Roman beschrieben. Der sensible Wüstling Sorbas nimmt ihn dabei an die Hand und zeigt ihm den Weg. Kazantzakis hatte wirklich jahrelang nach den Forderungen und Geboten des Buddhismus gelebt: Nichts zu wollen, alle Begierden und Wünsche  auszuschalten und den eigenen Körper zu verneinen. So glaubte er, die absolute Freiheit schon zu Lebzeiten erlangen zu können. Aber dieser asketische Weg, sich vor dem Leben zu verschließen, erwies sich für ihn als Irrtum. Er zahlte mit einer schweren Krankheit einen hohen Preis dafür. Als der vitale und unverwüstliche Sorbas wie ein Sturmwind in sein Leben einbrach, bekam die Philosophie Nietzsches für Kazantzakis ganz neue Bedeutung.

Der befreite Mensch, also derjenige, der das Leben in seiner Ganzheit versteht, lebt und liebt, wird nun das Ideal. Sorbas hat - so gesehen - durchaus Züge des „Übermenschen“, wie Nietzsche ihn im „Zarathustra“ beschreibt. Aber natürlich ist der „Übermensch“ kein erreichter Endzustand, sondern ein anzustrebendes Ziel. In diesem Sinne Nietzsches hat Sorbas keine Moral und schon gar keine „lebensfeindliche“ wie die Normalmenschen, weil er seine natürlichen Instinkte nicht unterdrückt. Seine Wertordnung, über die er gar nicht reflektiert, entspricht der Natur und fördert das Leben, statt ihm zu widersprechen und es zu verdrängen. Und weil Gott tot ist, niemand mehr befiehlt und sich deshalb die anderen nicht mehr fürchten müssen, weiß Sorbas, dass er selbst die volle Verantwortung für sein Handeln trägt, die die Bejahung des Todes einschließt. Genau das aber ist das Kennzeichen des „wahren“, des „Übermenschen“. Der Blick in diesen Abgrund mag furchtbar sein, aber der Gewinn dabei ist das Leben, das befreite Leben in jedem Augenblick im Hier und Jetzt, das beseligende Genießen der unmittelbaren Gegenwart. Sorbas ist der lebensbejahende, urwüchsige und ursprüngliche Mensch, zugleich der Anti-Intellektuelle schlechthin. Stillstand gibt es für einen solchen Menschen nicht. Er kostet das Leben bis zur Neige aus - höchste Freude genauso wie tiefsten Schmerz.

Sorbas repräsentiert im Sinne Nietzsches das „dionysische“ Lebensgefühl. Der Philosoph hat es so beschrieben: „Von jener Höhe der Freude, wo der Mensch sich selber und sich ganz und gar als eine vergöttlichte Form und Selbstrechtfertigung der Natur fühlt, bis hinab zu der Freude gesunder Bauern und gesunder Halbmenschen-Tiere: diese ganze lange ungeheure Licht-Farbenleiter des Glücks nannte der Grieche mit dem Götternamen: Dionysos.“ Wenn am Schluss des Romans das ganze Bergwerksunternehmen mit dem Zusammenkrachen der Seilbahn in einem Desaster endet, dann ist das in der Sicht Nietzsches und Kazantzakis' keine Katastrophe, sondern „dionysischer Nihilismus“. Und das heißt: Jasagen zum Leben, so wie es ist. Und das schließt Zerstörung und Tod mit ein. Die Asche ist immer der Samen, der neues Leben hervorbringt. Nur deshalb können die beiden im Angesicht des Unglücks rauschhaft und glücklich lachen und „sich am Strand balgen wie die Buben“ und ausgelassen und dionysisch tanzen, tanzen, tanzen ... Der „Tintenkleckser“ empfindet, mag er finanziell nun auch bankrott sein, „erhabene, absurde, durch nichts zu rechtfertigende Heiterkeit“ - und lässt sich von Sorbas in die Geheimnisse des Tanzes einweihen, was in Wirklichkeit als Einweisung ins wirkliche Leben zu verstehen ist.

Sorbas ist also kein Kreter gewesen, weder von Geburt noch von der Seele her. Dass er den einen oder anderen Wesenszug mit den Kretern gemeinsam hat, widerspricht dem nicht. Geblieben ist von der großen literarischen Gestalt ein Mythos – vor allem in Kokkino Chorio, dem kleinen Dorf zwischen Chania und Rethymnon, das einst als Kulisse für den Film diente. Es herrschte sonnendurchglühte melancholische Stille, als ich an einem Sonntag Mittag im Juli dorthin komme. Die Zeit scheint hier still zu stehen. Es gibt sie noch - die alten verwinkelten Gässchen mit den gekalkten Mauern und den schön eingefassten Türen zu den Höfen mit vielen Blumenkübeln. Die Häuser sind zumeist noch aus Naturstein. Alte Frauen sitzen in den Torbögen, sind eingenickt oder machen Handarbeit. Einige grüßen freundlich und hängen das unentbehrliche „poly sesti simera“ („es ist heiß heute“) an.

Der ganze Kosmos des Kazantzakis-Buches tritt hier sofort wieder vor Augen: die schöne Witwe, die stolz durch diese Gassen schritt; die alte französische Kokotte Bouboulina, die hier in einem dieser alten Bauten die Erinnerung an bessere Tage pflegte und der die alten Frauen nach ihrem Tod schreiend und kreischend das Haus ausplünderten, dass nur noch die nackten Mauern übrig blieben; der Dorftrottel, der hinkend und mit seinen Glupschaugen immer gehetzt um sich blickend durch dieses Dorf lief und offenbar das drohende Unheil hellsichtig ahnte, das sich oben vor der weißen Kirche vollziehen wird, als die Witwe wie ein Schaf von den Messern der Männer abgestochen wird. Und über diesem ganzen Geschehen der lachende, tanzende und vor lauter Energie berstende Sorbas...

Am kleinen Platz im Dorf gibt es drei Kafenions bzw. Tavernen. Nur eine von ihnen, die zugleich der Supermarkt ist, hat an diesem Sonntag Mittag geöffnet. Ich bestelle etwas zu trinken. Ein alter weißhaariger Mann, der am Nebentisch sitzt, fragt in gebrochenem Deutsch: „Germanos?“ – „Ja“, antworte ich. „1964 hier Sorbas-Film. Ich Komparse, wir alle hier Komparsen.“ 1964 ist die magische Zahl in diesem kleinen Nest mit dem wunderbaren Blick auf die azurblaue Bucht von Souda und die Halbinsel Akrotiri dahinter. Nur wenige Schritte von meinem Platz auf der anderen Straßenseite liegt die kleine Taverne „Alexis Sorbas“. Überall an den Wänden, auf Säulen, großen kretischen Krügen und Holzschildern hat der Inhaber nicht nur immer wieder den Namen des Titelhelden, sondern auch die Zahl, die hier alles bedeutet – 1964 – mit krakeligen Buchstaben aufgemalt. Fotos, die Anthony Quinn und Irene Papas mit den Dorfbewohnern zeigen, hängen an den Wänden. Es war die ganz große Stunde dieses kleinen Ortes, nach der hier heute noch die Zeitrechnung bestimmt wird: vor und nach 1964. Zum Zeichen, dass die Sorbas-Folklore längst über das echte Kreta gesiegt hat, bekommt jeder auswärtige Besucher der Taverne am Abend vom Wirt persönlich ein kretisches Kopftuch umgehangen. Das mag dem Gast gefallen oder nicht. Sorbas-Kult ist hier Pflicht.

Mein Tischnachbar in der kleinen Taverne sagt: “Viele Deutsche haben hier gekauft.“ Ich nicke verstehend, obwohl ich den Satz nicht ganz einordnen kann. Das Sorbas-Dorf hat im Gegensatz zu so vielen anderen wenigstens ein bisschen von seinem alten Charme bewahrt. Nur hier und da ist die alte Bausubstanz durch den leblosen Beton ersetzt. Ich verstehe aber, was der alte Mann meint, als ich den Ort auf der Straße nach Süden verlasse. Dort entsteht gerade eine riesige Feriensiedlung aus lauter kleinen weißen Häuschen, die jedem ihrer Bewohner das Gefühl vermitteln soll, dem großen Sorbas ganz nah zu sein. Nun passiert Kokkino Chorio das, was dem Dorf Stavros direkt gegenüber auf der Halbinsel Akrotiri schon vor Jahrzehnten widerfuhr: ein Rummelplatz des kommerziellen Sorbas-Kults zu werden. Unterhalb des Berges, wo die Szenen mit dem Bergwerk, dessen Zusammenbruch und Sorbas´ ausgelassenem Tanz gedreht wurden, gibt es kein Kafenion, keine Taverne, keine Eisbude und kein Hotel oder Pension, die nicht mit Kazantzakis Helden Geld zu machen versuchen. Als ich den Ort Ende der achtziger Jahre besuchte, habe ich nach einem Blick auf den berühmten Berg schnell wieder die Flucht ergriffen.

Denkwürdig bleibt aber, dass diese große Gestalt der Weltliteratur, die bis heute so völlig mit der Insel gleichgesetzt wird, ja geradezu als ihre direkte Verkörperung gilt, mit Kreta kaum etwas zu tun hat. Sie ist ein Produkt vor allem der deutschen Philosophie, der ein genialer kretischer Schriftsteller nach einem wirklich lebenden Vorbild einzigartige menschliche Züge gegeben hat. Aber eben keine kretischen, nicht einmal griechische, sondern universale. Nicht zuletzt deshalb, weil er die engen geistigen Schranken seiner Heimat sprengte, war Kazantzakis zu seinen Lebzeiten in Griechenland so verfemt.

Ich habe mich oft gefragt, wie dieser Autor seine Heimat Kreta beurteilen würde, wenn er sie heute wiedersehen könnte - mit ihren zugebauten Küsten, den wild wuchernden Städten und Dörfern, dem fantasielosen Einheits-Beton-Baustil, den Müllbergen, den Menschen, die sich durch die Millionen Fremden so verändert haben. Ich denke, er würde es mit seinem letzten literarischen Helden halten, der Titelfigur seines genau 33 333 Verse umfassenden Epos „Odyssee“, das die übersteigerte Fortsetzung von „Alexis Sorbas“ ist. Dieser Odysseus „schaut unerschrocken den Schrecken“. Das genau ist aber für Kazantzakis der „kretische Blick“: „hoffnungslos, furchtlos, doch auch ohne Verwegenheit, aufrecht am Rande des Abgrunds.“

 

Dies ist ein Kapital aus meinem Buch Sobas war ganz anders, das neu unter dem Titel Faszination Kreta im Verlag von Dr. Thomas Balistier erschienen ist.