Ist Griechenlands Zukunft neoliberal?

Im Juli 2019 habe ich auf Kreta einen alten Freund wieder getroffen, einen gestandenen Bewohner der Insel, der im Tourismus arbeitet und da sehr gut über die Runden kommt. Er hat es zu einigem Wohlstand gebracht. Dennoch stand er früher politisch eher auf der Seite der Linken – wie die meisten Kreter, für die Opposition und Widerstand gegen die Obrigkeit eine uralte Tradition sind.

Wir kommen schnell auf die Politik zu sprechen, denn die Parlamentswahlen in Hellas liegen erst wenige Wochen zurück. Kyriakos Mitsotakis von der rechten Nea Demokratia ist der neue Ministerpräsident, er hatte die Auseinandersetzung mit seinem linken Rivalen von der Syriza, Alexis Tsipras, klar für sich entschieden. Mein Freund (ich will seinen Namen nicht nennen und ihn um der Anonymität willen Nikos nennen) äußert sich begeistert über die neue politische Situation im Land. „Endlich“, sagt er, „wird in Griechenland wieder vernünftige Politik gemacht. Die neue Regierung ist auf den Boden der Realität zurückgekehrt, die Zeit der Versprechungen und der linken Illusionen ist vorbei. Unser Land kann wieder Hoffnung für die Zukunft haben.“

Ich bin sehr erstaunt über den politischen Gesinnungswandel meines alten Freundes. Nikos wiederholt genau das, was Mitsotakis und seine Leuten den Griechen mit ihrer Propaganda im Wahlkampf unentwegt eingehämmert haben: Die Linke, die das Land in den vergangenen Jahren regiert hat, hatte Null Ahnung von Wirtschaft und Finanzen, hat nur ideologische Phrasen gepredigt, den Menschen große Opfer zugemutet und dann kurz vor den Wahlen ein paar Almosen verteilt. Wir – die Konservativen – werden die griechische Politik wieder auf den Boden der Tatsachen stellen und so die Dinge zum Besseren wenden. Und das sehr bald! „Die Zukunft kann nicht warten!“ heißt die Devise.

Was Mitsotakis, der aus einer alten rechten kretischen Politiker-Dynastie stammt, anbietet, ist nichts anderes als die zur Zeit weltweit herrschende Ideologie des Neoliberalismus: Steuersenkungen, Privatisierungen und die Hoffnung auf ausländische Investoren. Diese Maßnahmen sollen vor allem Arbeitsplätze schaffen, die dann wiederum zu höheren Steuereinnahmen führen sollen, also zu Vollbeschäftigung und Wohlstand. Ein sich selbst produzierendes Perpetuum Mobile sozusagen.

Aber wo auf der Welt haben diese Rezepte funktioniert? Wo haben sie die Arbeitslosigkeit beseitigt und Wohlstand für alle geschaffen? Zwar hat die Liberalisierung der Wirtschaft in verschiedenen Ländern Fortschritte bei der Steigerung des Bruttosozialprodukts erzielt, aber Armut, Not und Elend der Vielen sind deshalb nicht zurückgegangen, der Reichtum der herrschenden kapitalistischen Oligarchen ist dagegen zu immensen Größen angewachsen.

Zurück zu Griechenland. Wer wird von Mitsotakis Steuersenkungen am meisten profitieren? Vermutlich die superreichen griechischen Oligarchen, die in der Vergangenheit zumeist von der Zahlung von Steuern befreit waren, ihre Vermögen – als sich die Krise ankündigte – schnell ins Ausland geschafft haben und so im großen Umfang mitverantwortlich für das Ausmaß des griechischen Finanzdesasters waren. Und: Werden ausländische Investoren nach Griechenland kommen, wenn es an der entsprechenden Konsumnachfrage fehlt, sie also gar keinen Profit machen können? Zudem: Ist Griechenlands ganzes gegenwärtiges Elend nicht in erster Linie durch die neoliberale Politik der EU (vor allem somit auch Deutschlands), also durch die strengen Auflagen zum Sparen und zu Privatisierungen, nicht erst richtig virulent geworden? Was ja heißt, dass Mitsotakis nun den Teufel mit Beelzebub austreiben will.

Die Anhänger des Neoliberalismus argumentieren global sehr geschickt. Sie verbreiten die obskure Legende, die Wirtschaft sei nicht dem Willen des Menschen unterworfen, sondern „Naturgesetzen“. Die Kräfte des Marktes – soll das heißen – sind vollkommen autonom und unkontrollierbar. Den Menschen bleibt nichts anderes übrig, als diesen Gesetzen fatalistisch zu gehorchen. Das ist die „Realität“, von der Mitsotakis im Wahlkampf gesprochen hat und der er nun wieder Geltung verschaffen will. Sehr viele Griechen nehmen ihm das ab (auch mein Freund Nikos), weil Mitsotakis ein „Technokrat“, also kein Parteiideologe sei und auf dem Boden der ökonomischen Wirklichkeit stehe. Gibt es also eine „neutrale“, technokratische Politik, die nicht von ganz bestimmten ideologischen Macht- und Wirtschaftsinteressen bestimmt wird?

Kritische Ökonomen und Sozialwissenschaftler haben die bisherigen Erfahrungen mit dem Neoliberalismus so zusammengefasst: Der neoliberale Staat schafft durch Privatisierung, Deregulierung und Abbau des Sozialstaates die soziale Sicherheit ab und verteilt den gesellschaftlichen Reichtum von unten nach oben um. Sozialausgaben werden gekürzt, Löhne gesenkt, die Abgaben für die (arbeitende) Bevölkerung erhöht, während gleichzeitig der Spitzensteuersatz, die Erbschafts-, Unternehmens- und Vermögenssteuer gesenkt oder ganz abgeschafft werden. Regierungen degenerieren dabei immer mehr zu reinen Sachwaltern des Kapitals, nicht nur soziale, sondern auch demokratische Strukturen werden abgebaut.

Es sind also allergrößte Zweifel erlaubt, dass die neoliberalen Rezepte von Mitsotakis funktionieren werden, die Griechen in eine goldene Zukunft zu führen. Ich konnte meinen Freund Nikos mit meinen Argumenten nicht überzeugen. Er glaubt fest an die Verheißungen des neuen „Realismus“ von Kyriakos Mitsotakis. Ich konnte Nikos nur entgegenhalten: „Lass Mitsotakis erstmal einige Zeit regieren, dann sprechen wir uns wieder.“ Ich bleibe dabei: Es wird ein böses Erwachen geben.

4.08.2019