Psarantonis und Nikos Xilouris - die Stimmen Kretas

Die kretische Musik ist nicht denkbar ohne die Familie Xilouris im kleinen Städtchen Anogia im Psiloritis. In dieser Familie scheint die Musik in den Genen zu liegen. Die beiden Brüder Antonis und Nikos sind Heroen in der Musikszene der Insel, aber es gibt auch noch zahlreiche andere Musiker und Sänger in diesem Clan. Antonis nennt sich Psarantonis, was folgende Bewandtnis hat: Sein Großvater war in den Bergen an vielen Kämpfen und Auseinandersetzungen mit den Türken beteiligt. „Mein Großvater wurde so gerufen“, erzählt er. „Er war sehr schnell auf den Beinen und hat die Türken gejagt. Es war eine Gruppe von sechs Leuten, tapfere Burschen, mit denen er immer unterwegs war. Es heißt, dass mein Großvater nicht nur schnell, sondern auch wahnsinnig kaltblütig sein konnte. Wenn sie einen Türken erledigen wollten, hat er ihn augenblicklich erwischt und fertiggemacht. Ein anderer sagte dann: 'Seht Ihr? Wie die Fische fängt er sie, die Türkenlümmel!' So entstand der Name Psarantonis. Denn Psari heißt Fisch und 'Psaratourko' heißt dann so viel wie 'Türkenlümmel'.“ Sein Bruder Nikos trat als Künstler unter dem Familiennamen Xilouris auf. Er erlangte Weltruhm mit seinen Liedern, starb aber viel zu früh, 1980 mit 44 Jahren.

Psarantonis ist einer der großen Meister des Lyraspiels und verkörpert die kretische Musik wie kaum ein anderer. Es sei dahingestellt, wie weit es sich bei dabei um ein geschickt aufgebautes Image handelt oder um Authentizität. Ich halte ihn für authentisch, der Mann ist von großer Faszination und ein Kreter aus dem Psiloritis aus tiefster Überzeugung. Jedes Konzert mit ihm ist ein einmaliges Erlebnis.

Ich hatte vor Jahren einmal mit ihm persönlich zu tun. Ich war nach einem Auftritt zu ihm gegangen und hatte ihn um ein Interview gebeten. Etwas schroff lehnte er meinen Wunsch mit den Worten ab, er habe schon so viele Interviews gegeben, dass er nichts Neues mehr sagen können. Sagte es, lief zu seinem Auto und kam mit einem ganzen Stapel Zeitungsartikeln und gedruckten Interviews zurück, drückte ihn mir in die Hand mit den Worten: „Da steht alles über mich drin!“ Ich nahm ihm die Ablehnung meines Interviewwunsches nicht übel und gestand ihm sogar eine gehörige Portion Weisheit zu, den Medienleuten nicht hinterherzulaufen.

Kreter weisen immer wieder darauf hin, wie sehr eine Landschaft und ihre Mythen Einfluss auf die Ausformung der Lyra-Musik nehmen. Psarantonis kommt von den Höhen des Psiloritis. Auf die Frage, für wen er Lyra spiele und singe, hat Psarantonis ganz ernsthaft geantwortet: „Für Zeus.“ Und er fügte noch hinzu: „Denn es ist die Wahrheit. Sie haben alle tatsächlich existiert, und sie existieren noch: sowohl Zeus als auch Orpheus und Apoll.“ Das kann nur einer sagen, der selbst vom Dach der Götter stammt – vom Psiloritis. Psarantonis sagt über die Zeus-Höhle oberhalb der Nida-Ebene, in der der Gott seine Kindheit verbracht hat: „Es handelt sich um den weltweit bedeutsamsten archäologischen Ort. Der Gott der Götter ist dort geboren worden. Das meinen übrigens auch die Archäologen.“ Diese Höhle hat direkt mit seiner Musik zu tun. Vangelis Vekios, ein Freund des Lyraspielers und Sängers, ist überzeugt davon, dass diese Musik in den „Genen der Klänge festgeschrieben“ ist, die die Kureten vor der Höhle erzeugt hatten. Seine Stimme höre sich an, als käme sie aus den Eingeweiden der Erde und als habe sie ihren Ursprung in den Tiefen der Zeit. Psarantonis sei eins mit der Natur und überlasse es ihr, sich aus sich selbst heraus auszudrücken. Er versuche nicht die Natur zu zügeln, er fürchte sie nicht, er wolle sie nicht lenken, er sei verliebt in sie, er wolle vollkommen im Einklang mit ihr sein – in tiefer Ehrfurcht vor dem Gott, der uns umgebe.

Die alten Sagen und Geschichten sind im Ida gegenwärtig geblieben, weil die grandiose Natur sie täglich wieder belebt und anschaulich macht. Der Psiloritis ist deshalb für die Kreter bis heute ein mythischer Ort. Seine Berge, Schluchten, Höhlen und Ebenen wurden zu Kampfplätzen für neue heroische Taten, aber auch Rückzugs- und Fluchtgebiet nach erbitterten Schlachten mit immer neuen Eroberern und Besatzern der Insel. Dieses Gebirge wird in den Liedern der kretischen Musik immer wieder besungen - auch von Psarantonis.

Er weiß natürlich um die Meisterschaft seiner Kunst und um seine Popularität. Seine Konzerte laufen zumeist nach der gleichen Regie ab - ich habe früher an anderer Stelle ein Konzert von Psarantonis geschildert. Ich greife auf diesen Text zurück, weil ich die Einmaligkeit dieses Mannes und seines Vortrages nicht zwei Mal beschreiben kann. Seine Musiker nehmen oben auf der hell angestrahlten Bühne Platz und stimmen ihre Instrumente. Dann kommt er, von Statur kleiner als man sich diesen Heroen kretischer Musik vorgestellt hat, ein scharf geschnittenes, wild-bärtiges Gesicht mit auf die Schultern fallendem leicht gelocktem, ergrautem Haar, was darauf hinweist, dass er die Sechzig überschritten hat. Er steuert auf das Podium zu, eilt die Stufen hinauf und nimmt auf seinem Stuhl in der Mitte des Halbrunds seiner Musiker Platz. Ein paar Streichübungen auf seiner Lyra, die er zärtlich und liebevoll umfasst, keine Vorrede, keine Begrüßungen, keine Ankündigung – ein Blick zu den Musikern, ein Kopfnicken und das Spiel beginnt: Leise, zart und sanft zupfend hebt die Gitarre an, der Rhythmus – geschlagen auf der Laoúto und mit den Händen auf einem großen Tongefäß – hält sich noch im Hintergrund, dann setzt Psarantonis mit der Lyra ein: Schroffe, raue und harte Schnörkel und Läufe, die Tonfolgen springen, kippen, hüpfen und wechseln in unendlicher Modulation und Vielfalt, scheinen keine Oktaven oder Intervalle zu kennen, sondern nur ungewohnte Schräglagen, die zunächst verletzend sägen, quälen, weinen und schmerzen – erst hart und zusetzend, dann lieblich schmeichelnd und beseeligend.

Das Instrument auf dem Knie abgestützt, die Saiten nur mit dem Fingernagel berührend und den Bogen mal leicht streichelnd, mal temperamentvoll niederdrückend, errichtet er tonale Gegensätze, um sie augenblicklich wieder fallen zu lassen und neue Tonfolgen aufzubauen. Der Eindruck von Dissonanz verschwindet nach wenigen Augenblicken, die Klänge finden zueinander, ordnen sich, fügen sich zu harmonischem Ganzen.

Dann kommt der Rhythmus in Gang, monoton stampfend, schlagend, schiebend, pulsierend. Und darüber schwebt, mal verhalten lieblich, leise und lyrisch, mal jammernd, klagend und traurig, mal wild ausgelassen und leidenschaftlich, die Lyra. Abrupt unterbricht Psarantonis sein Spiel, und den Part der Lyra übernimmt seine Stimme: tief, heiser, rau und schrundig setzt sie ein. Immer wieder brechend, manchmal gurgelnd, mal gefühlvoll und zart, dann explodierend, steigt sie auf zum höchsten Jubilieren – er wirft dabei wie ein balzender Vogel den Kopf mit der langen Mähne in den Nacken, um im nächsten Augenblick abzustürzen und mit tiefem Bass im Kehlkopf zu gründeln, zu baden, zu schwelgen, da wo er den Bauch berührt. Sein Gesang klingt dann, als ob er als Echo aus einem rostigen Rohr in den Eingeweiden der Erde zurückgeworfen würde.

Ein kurzer Augenkontakt mit seinen Leuten, und wieder stampft der Rhythmus in wildem Galopp. Die springenden Tonfolgen der Lyra werden dichter und dichter, brechen überraschend hierhin und dorthin aus, überschlagen sich in dithyrambischer Ausgelassenheit. Der Bogen lacht, springt, tanzt auf den Saiten, der Rhythmus wird schnell und schneller. Die Spannung steigert sich, wird zur Ekstase, ist kaum noch zu ertragen, steuert einem wilden, gierigen, verschlingenden Höhepunkt zu – und mündet in einer orgiastischen Explosion, der ermattete selige Entspannung folgt. Aber nicht um schweigend zu verklingen, denn nun setzt quäkend, quiekend und raumgreifend der Dudelsack ein, die Askomandoura, jammernd und klagend, melancholisch und traurig, um augenblicklich und unerwartet und ohne Übergang in jubelnde Freude und Heiterkeit auszubrechen, getragen vom wieder in schnelle Fahrt kommenden Stampfen des Rhythmus’, der alles durchdringt und mit sich fortreißt. An dieser Stelle kann auch die Flöte einsetzen, das uralte bukolische Instrument der Hirten, das wie die Askomandoura in schnellem Wechsel weinen und jubeln kann, wenn es vom schweren und entbehrungsreichen und doch so herrlichen Leben in den Bergen erzählt.

Aber diese Instrumente sind nur Beiwerk, spielen nur eine Nebenrolle in der großen Inszenierung, die Psarantonis mit seiner Lyra und seinem heiseren Gesang ganz beherrscht. Der Mann spielt sein Instrument nicht, er ist völlig verwachsen, ja eins mit ihm. Nur diese totale Identität lässt ahnen, was er ihm zu entlocken vermag. Er streichelt es zärtlich, ja erotisch hingebungsvoll und lässt den Bogen über die Saiten gleiten und tanzen. Dann behämmert er sie rhythmisch, klopft auf den hölzernen Boden der Lyra und berührt den Steg liebevoll mit den Lippen, legt ihn dann an die Stirn, als wolle er die Kraft seiner Gedanken und Gefühle auf das Holz übertragen. Dabei hat er seine Leute immer im Blick und sie hängen mit ihren Augen an ihm, richten ihr Spiel nach seinen Gesten und Blicken aus, was große Konzentration erfordern muss, denn nie spielt er etwas zwei Mal. Jedes Stück entsteht neu – durch überraschende Wendungen, Variationen und Improvisationen, gerade wie es aus diesem brodelnden Vulkan hochkommt und ausbricht. Das Unerwartete und Unvorhergesehene liegt hinter jeder Berührung des Bogens mit den Saiten. Es gibt nichts Festes, Statisches, nichts Fixiertes. Und wenn der stampfende Rhythmus rast, die Lyra durch die blitzartig umschlagenden Tonreihen und Kadenzen ächzt, stöhnt, quietscht und jubiliert und Psarantonis wie in wildem Rausch den Kopf zurückwirft, bukolische Schreie ausstößt, in tiefes Gurgeln verfällt und sich stimmlich in Urlandschaften bewegt, dann kann nur der Mythos veranschaulichen, aus welchen Tiefen der Tradition hier einer schöpft.

Psarantonis ist ein faunischer, orgiastischer Barde, ein bukolischer Orpheus, ein Satyr – vor allem aber ein musikalisch rasender Dionysos. Denn die Merkmale dieses geheimnisvollsten der antiken Götter waren die unablässige Bewegung, die Form im ewigen Wandel, das Spontane, Plötzliche und Unvorhergesehene. Dionysos war die Naturgewalt des unvermittelten Hervorbrechens. Genau das ist auch das Wunder an Psarantonis' Musik: Alles an ihr ist Tradition, baut auf Mythos, Antike, Orient und auf byzantinischem Erbe auf, um all das aber sofort wieder abzulegen und aufzubrechen in neue, nie gehörte Tonlandschaften, die ewig in Wandel und Umbruch sind. Die Musik dieses Magiers ist wie der berühmte Fluss des Philosophen Heraklit: Man kann nie zweimal in ihn hineintreten, weil er dann schon wieder ein ganz anderer ist. Glückliche Griechen, die an ihren Mythen anschließen können und dabei nie Gefahr laufen, auf weltanschauliche Abwege zu geraten wie die Deutschen mit ihrem Missbrauch des Mythischen und den daraus entstandenen furchtbaren historischen Folgen!

Wer des Griechischen und obendrein des kretischen Dialekts nicht mächtig ist, kann nicht verstehen, worüber dieser Barde der Götter singt. Ich habe das Gesehene und Gehörte tief auf mich wirken lassen. Nachträglich erst habe ich mir Übersetzungen seiner Lieder und Stücke besorgt und war überrascht, worum es da ging. In meiner Phantasie hatte ich mir ausgemalt, dass einer dort Gewaltiges zu seiner Musik kundgibt: Geschichten von Kämpfen zwischen den Göttern und Menschen, von kühnen Heldentaten kretischer Freiheitskämpfer in der Abwehr fremder Eroberer und von der Leidenschaft großer Liebender. Gesungene und gespielte Erzählungen, die er oben auf dem Gipfel des Psiloritis im Kreis der versammelten Götter hätte vortragen können. Und wenn dem nicht so wäre, so würden seine Lieder die tiefsten Tiefen der Erde ausloten, die höchsten in den Himmel ragenden Spitzen der Berge preisen – oder sie würden endlich das ewige Geheimnis des Orpheus lüften.

Aber da war meine Phantasie auf Abwege geraten. Psarantonis erzählt ganz einfache kleine lyrische Geschichten: Er wirft Steine zum Mond hinauf, weil er will, dass er schnell verschwindet. Denn der Erdtrabant soll Platz machen für seine alte Liebe, damit ihr Strahlen sein Haus erleuchte. Ein Mädchen besingt er, das er liebt, weil sie so schön lange geflochtene Zöpfe hat. Doch sie macht etwas Schreckliches, sie schneidet sich die Zöpfe ab und verliert so ihre Schönheit. Er fragt in einem Lied die wilden Bergziegen, die neben den Adlern als die freiesten Geschöpfe des Psiloritis gelten, nach ihrem Zuhause, ihrer Weide und ihrer Tränke. Und sie antworten: Unser Zuhause ist oben in den Wäldern und den Höhlen der Berge. Ein Rebhuhn, das auf der Nida-Hochebene herumtanzt und sich produziert, aber  Angst vor den Jägern hat – Symbol für ein geliebtes Mädchen –  beruhigt er mit den Worten: „Vertrau mir, ich habe keine Flinte dabei!“ Er preist die Schönheit einer Frau, die er in Chania auf der Straße gesehen hat: „Ihr Gesicht war hell wie die Sonne, ihr Busen war wie der Mond, eine Schlange lief durch die Luft: das Band, das sie im Haar trug.“ Und er bekennt: „ Meine Gedanken sind wie alter Wein, Gefährten meiner Feste, aber manchmal machen sie mich auch krank; dann bin ich nicht in der Lage, das Mindeste auszusprechen.“

Seine Lieder handelten alle von der Liebe, hat er einmal gesagt. Von welcher Liebe? Was ist Liebe? „Die Liebe gilt allen Dingen. Es ist unnötig, sie auf irgendetwas Bestimmtes zu richten. Und wenn du sagst, es ist die Liebe zur Natur, dann hast du es. Die Natur wird dir Liebe geben, wenn du in der Lage bist, mit ihr zu sprechen. Wenn du nicht mit der Natur sprichst, dann schenkt sie dir keine Musik. Wenn alle Menschen versuchen würden, mit der Natur zu sprechen, dann würden wir in einer besseren Welt leben.“ Und die Lyra – was ist sie für ihn? „Sie ist das Herz des Menschen. Das Instrument Gottes.“ Der griechische Journalist, zu dem er diese Sätze bei einem Interview sagte, bekannte nach dem Gespräch: „Ich reiste Tausende Jahre zurück, und noch einmal so viel voraus.“

Die Konzerte enden meistens so merkwürdig wie sie beginnen. Psarantonis erhebt sich von seinem Stuhl und geht einfach von der Bühne. Kein Wort der Absage oder des Dankes an das Publikum. Wenn der Beifall sich zum Orkan steigert und die Menschen eine Zugabe fordern, steigt er noch einmal aufs Podium, setzt sich, wieder ein gebietender Blick zu seinen Musikern, ein Nicken als Antwort und das Spiel beginnt noch einmal: wild, bukolisch und berauschend. Dann tritt er endgültig ab. Ohne ein Wort, ohne eine Geste.

Wieder einmal in Anogia. Als Deutscher wird man dort ein beklemmendes Gefühl nicht los. Die Männer dieses Ortes hatten sich während der deutschen Besetzung ganz besonders gegen die fremden Okkupanten gewehrt. Viele von ihnen gingen als Partisanen in die umliegenden Berge. Der Kommandant der Festung Kreta, der deutsche General Müller, hatte am 13. August 1944 verfügt: Da die Stadt Anogia ein Zentrum britischer Spionagetätigkeit sei und der Ort verschiedenen Widerstandsgruppen Unterschlupf gewährt habe, sei sie dem Erdboden gleichzumachen und jeder männliche Einwohner hinzurichten, wenn er in dem Ort oder in dessen Umkreis angetroffen werde. Der Befehl, der heute auf einer Tafel am Mahnmal gegen den Krieg vor dem Rathaus in Deutsch zu lesen ist, wurde mit deutscher Gründlichkeit umgehend ausgeführt. Alle 950 Häuser des Ortes wurden zuerst niedergebrannt und dann mit Dynamit gesprengt. Auch die wirtschaftliche Basis der Bewohner wurde vernichtet: Viehzucht und Wollverarbeitung. Die Schaf- und Ziegenherden nahmen die Wehrmachtssoldaten mit oder töteten sie. 117 Menschen wurden in der Besatzungszeit von den Deutschen hingerichtet. In vielen Risitikas haben sich die Trauer und die Wut, der Schmerz und die Verzweiflung über die Untaten der „Germanos“ niedergeschlagen. Im Blick auf sie heißt es in einem Gedicht: „Verflucht sei das Land, verdammt sein Stamm, auf dass Jahrhunderte vergehen ohne Vergebung.“

In der ersten Augusthälfte jeden Jahres - genau bis zum 15. des Monats - gedenken die Einwohner der Kämpfe um ihren Ort, dessen Zerstörung, der Gefallenen und der übrigen von der Wehrmacht Ermordeten. Und wie sollte man hier oben im Ida-Gebirge anders gedenken als mit Musik? Anogia und kretische Musik - das ist ein Synonym, auch wenn man in anderen Teilen der Insel ganz anderer Meinung ist. Dieses kleine Städtchen, das hauptsächlich von der Landwirtschaft und der Schafhaltung in den Bergen lebt, hat viele berühmte Musiker hervorgebracht, darunter seine beiden berühmtesten Söhne: Xilouris und Psarantonis.

Schlendert man durch die Gassen der Unterstadt, springt einem der Name Xilouris überall in die Augen: die Besitzer von Tavernen, Supermärkten, Metzgereien und Souvenirläden tragen diesen Namen. Jeder scheint hier mit jedem verwandt zu sein. Gemeinsam ist allen aber der Stolz auf Nikos, der fast drei Jahrzehnte nach seinem Tod noch fast kultisch verehrt wird. Er ist immer noch allgegenwärtig. Es gibt kaum einen Laden, ein Schaufenster, in dem sein Bild nicht hängt, oft neben dem eines Heiligen. Das Freilichttheater in der Oberstadt ist nach ihm benannt und die Musik-Festtage Anfang August sind ihm gewidmet. Auf der kleinen plateia in der Unterstadt, wo ein Kafenion oder Restaurant neben dem anderen liegt und wo deren Besitzer die Touristen sehr aufdringlich an ihre Tische zu locken versuchen, steht neben dem Denkmal für den Partisanenführer Christomichalis Xilouris ein turmartiges kleines Haus, in dessen Erdgeschoss der Xilouris-Kult seinen Höhepunkt findet: Ein Reliquienschrein sozusagen, vollgestopft mit Familienbildern, Fotos und Artikeln an den Wänden über diesen Bob Marley der kretischen Musik.

Zwei lebensgroße Fotos zeigen den Mann, dem neben seiner musikalischen Begabung und seiner großen Stimme auch das Aussehen eines Götterlieblings, eine Menge Charme und ein strahlendes Charisma gegeben waren. Eine alte Frau, ganz in Schwarz gehüllt, ist die Hüterin dieser Schätze. Sie stellt mir gleich unaufgefordert ein großes Glas Raki, Käse und Zwieback hin und will mir ein kretisches Kopftuch verkaufen. Ich möchte gern einiges zu den Bildern wissen, aber sie ist keiner fremden Sprache mächtig, obwohl hierher so viele Touristen kommen. Sie zeigt immer wieder auf die Bilder und erklärt: „Nikos (Xilouris) tot! Psarantonis Heraklion (wo er wirklich wohnt), Kriti musiki poly orea! (kretische Musik ist sehr schön!)“ Mehr bekomme ich aus ihr nicht heraus, mein Griechisch reicht nicht dazu. Der Bruder Psarantonis ist in diesem Kultraum mit nur wenigen Fotos vertreten.

Das Schicksal der Musiker-Familie Xilouris könnte einer antiken Tragödie entnommen sein. Xilouris wurde 1936 in Anogia geboren, er brachte es zu Weltruhm. Er war der Superstar der Lyramusik. Aber wen die Götter lieben, den nehmen sie früh zu sich: Xilouris starb 1980 mit 43 Jahren in New York an einem Gehirntumor. Für die Menschen blieb er die Stimme Kretas und der Erzengel Kretas. Auch 32 Jahre nach seinem Tod ist er für den Rest der Welt noch immer der Botschafter der kretischen Musik. Vor allem ihm ist es zu verdanken, dass aus der Musik einer Insel im östlichen Mittelmeer plötzlich „Weltmusik“ wurde. Was macht den einmaligen Erfolg dieses kretischen Barden aus? Die Musikwissenschaftlerin Maria Hranaki sieht ihn vor allem in der Würde und dem Ethos begründet, womit er die kretische Musiktradition vertrat. Sein einmaliges stimmliches Timbre zusammen mit seiner zeitlosen archetypischen Ausdruckskraft habe der kretischen Musik eine ganz neue Dimension gegeben, egal was er gesungen habe.

Der in Kreta lebende irische Musiker Ross Daly, der Xilouris noch persönlich kannte, sieht es ganz ähnlich. Er schreibt: „Obwohl er sich der kretischen Musiktradition annäherte, war Nikos Xilouris sehr innovativ. Was auch immer er sang, er fügte ihm einen frischen unverwechselbaren, persönlichen Sound hinzu. Er hatte alle die großen Lyra-Spieler vor ihm sehr genau studiert und eignete sich die Essenz ihrer Musik an, ohne sie jemals zu kopieren. Dieses Wesentliche wurde Teil seines Seins, er wusste es in seiner einzigartigen und kreativen Weise zu nutzen. Das ist die Art, in der alle großen Traditionen wachsen und sich entwickeln - eben durch solche bemerkenswerten Persönlichkeiten wie Nikos Xilouris.“

Weiter schreibt er: „Für die Griechen (nicht nur für die Kreter) ist er in der Tat eine Verkörperung der Summe aller Tugenden des archetypischen kretischen Geistes. Es war seine einzigartige Persönlichkeit, in der sich die Eigenschaften des Stolzes, der Demut und der Einfachheit vereinigten. All dies sicherte ihm einen vorderen Platz in den Herzen der Griechen und in ihrer Erinnerung.“

Der kretische Komponist Jannis Markopoulos hatte ihn entdeckt und mit ihm erste Aufnahmen gemacht. Er produzierte mit Xilouris, dessen reine Stimme er die beste Griechenlands nannte, auch eine neue Version von sehr alten Risitika, in denen Krieg und Widerstand, aber auch die Lebensfreude eine große Rolle spielen. Etwa:

 

Was habt ihr alle rundherum

und euer Herz ist schwer,

ihr esst nicht und trinkt nicht

und ihr vergnügt euch nicht,

bevor der Tod uns findet

und uns packt,

alle Generationen packt

und die Männer auswählt

und junge Leute zu den Waffen ruft.

 

Ein Risitiko hat die Bergziegen zum Thema, die ein Symbol für den Widerstandskampf in den Bergen sind:

 

Meine Bergziegen und Bergzicklein,

meine zahmen Hirsche,

sagt mir, wo euer Land ist

und wo eure Winterquartiere sind.

Steile Felswände sind unser Land,

und in engen Schluchten ist unser Winterquartier,

kleine Berghöhen sind unser Elternhaus,

meine Bergziegen und Bergzicklein ...

 

Nach großen Erfolgen soll es zwischen den beiden zum Zerwürfnis gekommen sein, danach gingen beide eigene Wege. Xilouris hatte schon mit zwölf Jahren mit dem Lyraspiel begonnen, mit 17 gab er sein erstes Konzert im Kastro in Heraklion, einem berühmten Restaurant, in dem kretische Musik aufgeführt wurde. Mit 20 gewann er den ersten Preis auf dem Volksmusikfestival in San Remo (Italien). In den frühen siebziger Jahren sang er auch vertonte Texte von renommierten griechischen Dichtern wie Nikos Gatsos, Jannis Ritsos, Georgios Seferis, Kostas Varnalis und Dionysos Solomos. - eine musikalische Richtung, die Mikis Theodorakis begründet hat. Die Kompositionen zu diesen Dichtungen stammten von Stavros Xarhakos, Christodoulos Halaris und eben von Jannis Markopoulos. Durch diese Lieder wurde er in ganz Griechenland bekannt.

Immer wieder wird Xilouris mit Che Guevara in Verbindung gebracht, ihre Fotos sieht man oft nebeneinander. Die Nähe zu dem kubanischen Revolutionär ist auf sein unbeugsames und unerschrockenes Engagement zurückzuführen, mit dem er der von 1967 bis 1974 in Athen herrschenden Militärjunta entgegentrat. Als die Studenten am 17. November 1973 das Polytechnikum in Athen besetzten, über einen eigenen Sender zum Kampf gegen die Junta aufriefen und damit das Ende der Militärherrschaft einläuteten, stand Xilouris hinter ihnen, und die Studenten sangen seine Lieder, die zum Teil von Markopoulos stammten. Seinem Glauben an die Freiheit, die Unabhängigkeit und die schöpferische Kraft des Menschen ist er stets treu geblieben. Das haben ihm die Griechen nicht vergessen.

Einen Spaß hat er sich mit einem seiner berühmtesten Lieder gemacht: Filedém, Filedém..., ein Wort, das es in der griechischen Sprache nicht gibt. Es wurde gerätselt: War es ein Code-Wort britischer Agenten im Zweiten Weltkrieg? Ist es ein türkischer Vorname, dann würde es mein „Freund Edem“ bedeuten. Wenn Xilouris Filedém, Filedém. oh! Amán-amán! ich liebe ein türkisches Mädchen, das ich in der Moschee getroffen habe..., singt, wird klar, was er meint!

Als die Nachricht von seinem Tod die Insel erreichte, hat ganz Kreta geweint, wie noch noch erzählt wird. Ein tragisches Geschehnis, das Stoff für neue Mythen und Gesänge lieferte, aber auch dem Bruder, der bis dahin im Schatten des Größeren und Berühmteren gestanden hatte, den Weg frei machte. Psarantonis ist aber nie der Versuchung erlegen, Xilouris nachzuahmen. Er ist seinen eigenen Weg gegangen – eigenwillig und konsequent – und muss den Vergleich mit ihm nicht scheuen.

 

Dieser Text ist ein Kapitel aus meinem Buch „Die Lyra singt, tanzt und lacht“, Verlag Dr. Thomas Balistier, ISBN 978-3-937108-30-8, 12,80 Euro