Ich habe Christos in der Bar von meinem Freund Jannis Lambrakis in dem kleinen Dorf Lentas an der kretischen Südküste kennengelernt. Christos war dort Barkeeper. Was an ihm sofort auffällt, ist sein markanter (haarloser) Kopf mit den scharf geschnittenen mediterranen Gesichtszügen, hinter denen man eher einen Intellektuellen als einen Barmann vermutet. Und: Christos spricht ein so fantastisch-perfektes Deutsch ohne Akzent, dass jeder ihn sofort fragt: „Wo hast Du das gelernt?“ Worauf Christos immer die dieselbe Antwort gibt: „Im Goethe-Institut in Athen.“ Aber natürlich hat er seine deutschen Sprachkenntnisse auch im täglichen Umgang mit den deutschen Touristen an der Bar erweitert. Und da zeigt sich auch ein weiterer typischer Zug dieses aus Athen stammenden Griechen: Sein überaus freundliches und Menschen zugewandtes Wesen. Christos geht auf jeden Gast äußerst liebenswürdig und interessiert ein, auch wenn die Gesprächsangebote von der anderen Seite des Bartresens bisweilen eher banal und nichtssagend sind.
Wegen dieser Eigenschaft habe ich ihn immer bewundert. Und wenn in der Bar einmal nichts los war und Christos ein bisschen Zeit zwischen dem Zubereiten von Cocktails hatte, dann erzählte er auch von sich selbst: dass er der Sohn eines sehr hoch gestellten Richters in Athen ist; dass er ursprünglich auch Jurist werden wollte und dieses Fach in Thessaloniki studiert hat; dass er eines Tages aber genug von der Juristerei hatte und die große Wende in seinem Leben vollzog: Er wollte keine Paragraphen und Akten wälzen, sondern leben– Leben immer mit großen L geschrieben. Und aus diesem Drang nach Leben heraus wurde er Barkeeper, erst auf der Insel Antiparos und dann in Lentas auf Kreta.
In diesem kleinen Dorf an der kretischen Südküste frönte er nebenbei seinem großen Hobby: dem Zeichnen und Malen. An solchen ruhigen Abenden in der Bar holte er unter dem Tresen dicke Alben hervor und zeigte mir seine Werke: kleine gezeichnete Formate, die zumeist von abgrundtiefer, skurriler Komik sind, andererseits aber auch lieblich-anmutige Motive darstellen. So etwa das Dorf Lentas und seine Umgebung, dessen markante Merkmale er immer wieder in klaren langgezogenen Linien ohne jedes Beiwerk und Detail zeichnet: den gewaltigen Löwenberg, der wirklich wie der König der Tiere mit mächtigem Mähnenhaupt weit ins Meer gestreckt daliegt, dazu den sich um Berge und Hügel windenden Küstenstreifen des Lybischen Meeres und immer auch den Felsen, der schroff aus dem Meer herausragt und wirklich wie ein Elefant aussieht. Darüber – ja nach Tageszeit – die runde Kugelgestalt der Sonne oder des Mondes. Dieses Küstenpanorama fängt Christos mit seinen Linien so gekonnt ein, dass man wirklich den Genius loci zu spüren meint.
Kunstkenner, die sein Werk auch schon begutachtet haben, sprechen von „minimalistischer Grafik“. Aber dabei belässt Christos es nicht, oft belebt er diese Szenerie auch in fast romantischer Manier: Da kann der Löwenberg lächelnd und verliebt mit der Sonne flirten, und der felsige Elefant schaut von unten etwas pikiert und überrascht zu. Da klettert eine ganze Armee von Bienen (oder Ameisen) den Löwenberg hinauf, hängt sich dort an Gleitschirme und segelt in Richtung Elefant. Oder: Christos spannt ein Seil vom Löwenberg bis zum Mond, auf dem unter dem grandiosen Sternenhimmel elfenartige Fabelwesen tanzen.
Oder: Christos dreht die Badefreuden der Touristen am Stand einmal spiegelbildlich um: Da kommen tief im Meer am Fuß des Löwenberges schildkrötenartige Riesenfische mit Taucherbrille, Schnorchel und Unterwasserkamera ausgerüstet angeschwommen, um einen Badegast, der tauchend Flora und Fauna des Meeres erkunden will, zu begaffen und zu fotografieren, was diesem aber einen solchen Schreck einjagt, dass er schleunigst das Weite sucht. Mir gefällt ein anderes Motiv ganz besonders, weil ich mich irgendwie getroffen fühle: Mit einfachen schwarzen Linien auf weißem Grund stellt Christos einen Büchervielleser dar. Dieser Mensch, von dem hinter den Buchrücken nur der Unterkörper und die Beine zu sehen sind, ist so versessen in seine Lektüre vertieft, dass Christos ihn in acht verschiedenen Stellungen zeigt, wie er von rechts und links, von oben und unten mit komischen Verrenkungen in sein Buch regelrecht hineinkriecht, bis er ganz darin verschwunden ist.
Im Sommer 2018 besuchte ich Christos in seiner sehr einfachen, aber wunderschönen Klause oben am Berg in Didikos (dem Nachbardorf von Lentas), wo er lebt und arbeitet. Die Aussicht dort oben auf den Löwenberg und die sich weit bis Kali Limenes erstreckende Küstenlandschaft ist atemberaubend und grandios. Man ahnt Afrika hinter dem Horizont des Lybischen Meeres, auf dem große Schiffe vorbeiziehen. Was für ein bezaubernder Ort – zum kreativen Arbeiten für einen Künstler wie geschaffen! Wir essen wunderbar reife Melonen und trinken dazu herrlichen Kreta-Wein, ich kann den Blick von dem fantastischen Panorama nicht abwenden.
Christos hat noch eine Überraschung. Neben ihm wohnt ein betuchter österreichischer Wissenschaftler, der sich vor Jahren einen Weinkeller bauen ließ. Eine Treppe führt tief in die Erde, wo sich eine Tür öffnet und Einlass in ein angenehm kühles Gewölbe gewährt, das aus irgendeinem Grund kein Weinkeller, sondern jetzt Christos‘ Galerie geworden ist. Er hat hier einen Querschnitt seines Werkes hängen – viel hintergründig-skurril Humoriges mischt sich da mit Kritischem an den Zuständen der Gegenwart: Da gleitet etwa ein Surfer genussvoll auf einem Regenbogen, der von den Wolken hinunter bis zur Küste von Lentas reicht; da sitzt ein eigenartig an eine Eule erinnernder Mensch auf einem Stapel Büchern und liest mit großen neugierigen Augen ein Buch mit dem Titel Homo sapiens.
Und dann auch Zeitkritisches: Ein Schwarm von völlig gleich aussehenden grünen Fischen schwimmt in eine Richtung, nur ein rotes Exemplar derselben Spezies schwimmt ganz allein in die Gegenrichtung, also gegen den Strom – eine gelungene Parabel für Konformismus auf der einen und Zivilcourage auf der anderen Seite. Und dann ist Christos noch etwas Gelungenes eingefallen: Die kleinen Stummel der Buntstifte, die er in den letzten Jahren zum Zeichnen benutzt hat, hat er in einem Bild – angeordnet in sieben Etagen – vielfarbig nebeneinander aufgereiht. Bunt und dennoch monoton stehen sie mit der Spitze nach oben, weshalb er das Bild auch „Reihenhäuser“ genannt hat.
Christos griff dann in eine Ablage mit Mappen, zog eine heraus und zeigte mir politische Karikaturen, die er früher für linke Zeitungen und Zeitschriften gemacht hat. Gekonnte kleine Arbeiten, die die große Politik damals aufs Korn nahmen. Aber von diesem Metier hat er sich abgewandt, wohl aus Enttäuschung über die Politik, die so ganz anders gelaufen ist, als die Generation um 1968 sich das damals vorgestellt hatte. Dennoch erzählt er gern, wie er als linker Student 1974 an der Universität von Thessaloniki am Aufstand seiner Kommilitonen gegen die Militärjunta teilgenommen hat, wie die Panzer bedrohlich gegen das Universitätsgebäude anrückten und die Soldaten brutal zuschlugen. „Aber“, sagt Christos lachend, „ich war einmal ein sehr guter Leichtathlet und konnte sehr schnell laufen, viel schneller als die schwer bewaffneten Soldaten. Und deshalb haben sie mich nicht gekriegt.“
Es war ein langer Weg von diesen rebellischen Zeiten bis ins beschauliche Lentas, wo Christos zu einem originellen Künstler gereift ist.
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Im September 2022 habe ich Christos auf seinem Bergdomizil wieder besucht. Es gab viele neue Bilder und bemalte Steine zu bestaunen. Aber eine Neuerung nimmt immer mehr Gestalt an: Christos ist dabei, mit Hilfe seines Förderers einen Skulpturenpark aufzubauen. Das Buntstift-Motiv hat er zuerst in eine große Plastik umgesetzt: Sieben riesige bunte Stifte in den Farben hell- und dunkelrot, lila, grün, gelb, blau und grau ragen auseinanderstrebend in den blauen Himmel und sollen wohl andeuten, dass hier einer genau mit diesem Material arbeitet. Die Stifte haben inzwischen Gesellschaft bekommen. Da dreht sich auf einer Stange ein großer schelmisch lachender roter Fisch, der einen Hubschrauber auf dem Rücken trägt, nach den Windrichtungen. Gleich gegenüber leuchten die Lichter eine Ampel wie im Straßenverkehr auf. Sie zeigt aber nicht Stopp oder freie Fahrt an, sondern es leuchten dort – digital gesteuert – lustige Symbole aus Christos Zeichenwelt auf. Er hat die Ampel auf einem Schrottplatz in Athen gefunden und dann für seine künstlerischen Zwecke umgebaut.
Der absolute Höhepunkt des Parkprojekts ist die meisterhafte, minimalistisch gestaltete Skulptur „Artisten“. Wie in einer Zirkuskuppel fliegen sie – kühne Männer und Frauen – sich gegenseitig an den Händen festhaltend und wieder loslassend wild durcheinander und doch in strenger Ordnung durch den Raum. Die auf den ersten Blick chaotische Kopfüber- und Kopfunter-Flugschau fügt sich zu einem wunderbar harmonischen Ganzen, durch das man auf die atemberaubende Schönheit der Küstenlandschaft bei Lentas schauen kann. Drei Mal sieben Meter misst das aus Stahl mit einem Laser geschnittene Kunstwerk, das fest auf einem Beton-Sockel steht und 500 Kilo wiegt. Es ist gerade diese eiserne Schwere, die im Kontrast zu der anmutigen und heiteren Leichtigkeit der fliegenden Artisten-Figuren steht, die der Skulptur ihre Faszination verleiht.
Im nächsten Jahr will Christos gleich gegenüber eine zweite Stahl-Skulptur hinzufügen: den „Wegbereiter“ – eine männliche auch minimalistisch dargestellte Figur, die mit weit ausgebreiteten Armen auf einer langen Linie wie mit Schlittschuhen dahingleitet. Welchen Weg der Mann bereiten will, bleibt der Fantasie des Beschauers überlassen. Vielleicht weiß es der Künstler…