Am 14. Mai 1948 vor 73 Jahren wurde der Staat Israel gegründet. Das ist keine runde Zahl, die ganz große Feierlichkeiten erlauben würde. Aber immerhin: 73 Jahre sind ein beachtliches Alter für einen Staat, dessen Existenz wegen der gewaltsamen Umstände seines Zustandekommens und seiner inhumanen Politik bis heute äußerst umstritten ist. Und so verwundert es nicht, dass das zionistische Israel – obwohl wirtschaftlich und militärisch im Nahen Osten ein Riese – politisch auch nach drei Generationen Existenz seine Identität noch nicht gefunden hat. Was zugleich der Grund dafür ist, dass das ganze zionistische Unternehmen hoch gefährdet und seine Zukunft keineswegs gesichert ist.
Die Ereignisse der letzten Tage mit den Demonstrationen der Palästinenser gegen Zwangsumsiedlungen, Häuserzerstörungen, Enteignungen, Überfälle auf historische Stätten, Abriegelungen, Sperrungen sowie Hetze und Anstachelung sowie der brutalen israelischen Reaktion darauf haben gezeigt, wie explosiv die Lage dort ist. Israel begeht nicht nur am 14. Mai den Tag seiner Staatsgründung, die Palästinenser begehen einen Tag später den Nakba-Tag, die Erinnerung an ihre von den Zionisten herbeigeführte Katastrophe, die bis heute andauert. Und allein die Tatsache, dass sie offiziell diesen Tag gar nicht begehen dürfen (dafür sorgt sogar ein israelisches Gesetz), sondern ihre eigene Geschichte verdrängen müssen, ist eine klare Aussage, welche Art von Herrschaftssystem die Zionisten in ihrem Staat ausüben.
Wenn man am 73. Jubiläumstag der israelischen Staatsgründung nur eine pessimistische Einschätzung für die Zukunft dieses Staates abgeben kann, dann hat das viel mit der Vergangenheit zu tun. Denn Israel verbietet nicht nur dem von ihm unterworfenen und unterdrückten Volk, seine Vergangenheit zu erinnern, sondern die Zionisten haben sich auch als unfähig erwiesen, mit ihrer eigenen Vergangenheit ins Reine zu kommen. Wenn man mit einem verfälschten oder manipulierten Bild der eigenen Geschichte lebt, dessen einziges Ziel darin besteht, die eigene Vormacht und Dominanz über ein anderes Volk und das geraubte Territorium zu sichern, dann kann es keine Bereitschaft zur Konfliktlösung und damit zum Frieden geben. Israel ist eine friedlose Nation.
Was Sigmund Freud für Individuen festgestellt hat, gilt auch für Kollektive: Wird das Trauma, das aus der Vergangenheit resultiert, durch Verarbeitung nicht aufgelöst, bricht es immer wieder in die Gegenwart ein und bestimmt das Handeln. Die Geschichte wiederholt sich dann genau in den Teilen, die nicht verstanden, also nicht aufgearbeitet worden sind. Wobei es wichtig ist anzumerken, dass Israel eigentlich zwei Vergangenheiten aufzuarbeiten hat: das Trauma der Judenvernichtung durch die Nazis und die Schuld, die dieser Staat durch sein brutales Vorgehen gegen die Palästinenser auf sich geladen hat.
Nach Auffassung zweier bedeutender universalistisch denkender jüdischer Intellektueller – Moshe Zuckermann und Judith Butler – hat das zionistische Israel die richtigen Lehren aus dem Holocaust gerade nicht gezogen, weil es dieses Menschheitsverbrechen nicht um seiner selbst willen erinnert, sondern es seit jeher als „erbärmliche Pathosformel“ zur Instrumentalisierung und Legitimierung der eigenen politischen, diplomatischen sowie militärischen und ökonomischen Interessen missbraucht (Zuckermann). Und Judith Butler konstatiert: Die Israelis sind nun selbst Unterdrücker und Täter geworden, was seinen Grund darin hat, dass das bewusstseinsmäßige „Erwachen aus dem Trauma“ nicht gelungen ist und sich nun die Gewalt aus der Vergangenheit endlos wiederholt.
Eine falsch verstandene oder sogar bewusst verfälschte Geschichte kann also immensen Schaden anrichten. Im Fall Israels wird mit einer solchen Geschichtsmanipulation die Unterdrückung, Kolonisierung und Besatzung über ein ganzes Volk gerechtfertigt. Was auch bedeutet, dass es im jüdischen Staat keinerlei Bestrebungen gibt, die Sünden der Vergangenheit und Gegenwart aufzuarbeiten und die sie rechtfertigenden Mythen zu entmythologisieren. Das zionistische Narrativ, das sehr eng mit dem kollektiven Gedächtnis zusammenhängt, ist ein künstliches Produkt, das von einem rationalen Verständnis von Geschichte, das heißt von Analyse, Dissens, Wandel und Meinungsstreit, zu unterscheiden ist.
Dieses Narrativ ist in seiner Sicht auf die Vergangenheit auf politische Zwecke hin konstruiert: vor allem das eigene Kollektiv von anderen Kollektiven abzuheben. Die ganz bewusst betriebene Dämonisierung der „Anderen“ (der Palästinenser) soll vor allem den Zusammenhalt des eigenen Kollektivs stärken und das brutale Vorgehen gegen dieses Volk rechtfertigen. Das zionistische Narrativ kennt keine Toleranz gegenüber den „Anderen“, sondern kennt nur Gut und Böse – Juden und Araber (Palästinenser). Oder anders gesagt: Es gibt nur ein „wir“ oder „sie“.
Allein mit politischen Kategorien lässt sich dieser Konflikt nicht verstehen, man muss die Psychologie zu Rate ziehen. Der israelische Psychoanalytiker Ofer Grosbard, der im deutschsprachigen Raum mit seinem Buch Israel auf der Couch bekannt geworden ist, konstatiert als Grundgefühl der israelischen Existenz Angst, die bis zur Paranoia gehen kann und ein Ergebnis der jüdischen Leidensgeschichte (gipfelnd im Holocaust) sei. Die Folge sei ein Gefühl ständiger Bedrohung, auch wenn diese gar nicht real vorhanden sei. Der Paranoide – so Grosbard – schwankt zwischen Unsicherheit und Angst einerseits und Selbstgerechtigkeit, dem Gefühl der Einzigartigkeit und Auserwähltheit, Überheblichkeit und Arroganz auf der anderen Seite. Da die schlimmen Erinnerungen aus der Vergangenheit in der Gegenwart immer präsent seien, könne der Paranoide den „Anderen“ (in diesem Fall die Palästinenser) nie wirklich begegnen, ohne das Gefühl der Bedrohung auf ihn zu übertragen.
Was aber auch bedeutet, dass der Paranoide die Schuld für sein Handeln nie bei sich selbst suchen kann, sondern nur bei dem „Anderen“. Die aus einem solchen psychischen Zustand sich ergebende Aggressivität der israelischen Politik, für die der Krieg gegen die Palästinenser und ihre Unterdrückung der Normalzustand sind (aber immer als „Selbstverteidigung“ dargestellt werden), ist für Grosbard der Ausgangspunkt der Tragödie, die sich seit über hundert Jahren in Palästina abspielt. Auf Grund seiner paranoiden Haltung, folgert der Analytiker, versteht Israel nur die Sprache der Gewalt, die Sprache des Friedens ist ihm verschlossen.
Wie sehr die Vergangenheit mit dem Ziel manipuliert wird, die Gegenwart und die Zukunft im eigenen Sinne zu dominieren, belegt die starre Dogmatisierung des zionistischen Narrativs, das so gut wie nichts mit der historischen Wahrheit zu tun hat, aber offensichtlich den Zweck erfüllt, die multiethnische israelische Gesellschaft zusammenzuhalten. Es lautet kurz zusammengefasst: Nach der großen jüdischen Vergangenheit in der Antike, dem dann folgenden Exil und dem Holocaust folgte die Rückkehr der Juden in ihre „Heimat“ Erez-Israel und damit die „Erlösung“ des Landes (des Bodens), die auch zugleich die „nationale Erlösung“ der Juden ist. Die 2000 Jahre Diaspora sowie die Jahrtausende währende Anwesenheit eines anderen Volkes in Palästina werden geleugnet. Das heutige Israel versteht sich als der Nachfolger des fiktiven jüdischen Königreiches in der Antike.
Das ist nicht nur eine klassische Geschichtsfälschung, sondern zugleich eine Ideologie der Abgrenzung, Absonderung und Isolation, die sich am trefflichsten in dem immer wiederholten israelischen Selbstverständnis widerspiegelt: „Die ganze Welt ist gegen uns!“ Es wird also vorausgesetzt, dass die ganze Welt feindlich, also antisemitisch, gegen die Juden eingestellt ist. Auf die Palästinenser bezogen heißt das aber: Nur wir, die Juden, haben durch die historische Kontinuität das Recht auf das Land; die Palästinenser sind eine Bedrohung für uns, sie sind die Täter; sie sind ein demographisches Problem, deshalb müssen wir sie kontrollieren, sonst bringen sie uns um. Eine solche von Angst bestimmte Belagerungsmentalität ist eben die Folge eines gespaltenen Bewusstseins: Wir sind die Guten, die anderen sind die Bösen.
Die israelische Psychoanalytikerin Ruchama Marton geht auf die Politik der Trennung und Abschottung von den „Anderen“ ein, die von den Israelis durch den Bau der Mauer groteske und absurde Ausmaße angenommen hat. Marton sieht in dieser Mauer eine „metaphorische Blende“, deren Sinn und Funktion es ist, die „Existenz des palästinensischen Volkes insgesamt auszublenden“. Sie begründet das so: „Von einer psychologischen Warte aus ermöglicht diese Blende es den jüdischen Israelis, das Leid und die Menschlichkeit der Bewohner auf der anderen Seite zu vergessen. (...) Ein brauchbarer Ansatz, einige der psychologischen Mechanismen zu verstehen, die mit der Mauer zu tun haben, ist das Prinzip der Spaltung. Es lässt zwei Extreme zu, die Welt ist in ‚gut‘ und ‚böse‘ gespalten, ohne ein Mittleres. Spaltung ist der primitivste Abwehrmechanismus, auftretend bei übergroßer Verängstigung und einem Bedürfnis, unerträglich starke positive und negative Emotionen voneinander zu trennen.
Weiter schreibt Ruchama Marton: „Indem man sowohl die äußeren wie die inneren Aspekte des guten Selbst vom bösen Selbst abspaltet, ist es psychologisch möglich, die ungeliebten Teile des eigenen Selbst auf den ‚Anderen‘, d.h. die Palästinenser, zu übertragen. Dann kann man die projizierten Teile und Eigenschaften verachten, die ja nun dem ‚Anderen‘ angehören. Die Trennmauer wird so ausschließlich als Akt des Selbstschutzes wahrgenommen, als Schutz vor der wilden Aggression, die man mit den Palästinensern assoziiert. Die Mauer erlaubt dem zionistischen israelischen Kollektiv-Selbst, sich nicht als aggressiv, gewalttätig, grausam, Besitz ergreifend, als Verletzer von Menschenrechten zu sehen, indem alle diese Züge auf die Palästinenser jenseits der Mauer projiziert werden.“ Die Mauer ist also nicht nur eine physische Barriere, sie trennt auch – in den Augen der Israelis – das fortschrittliche, zivilisierte und demokratische Israel von den rückständigen, barbarischen und gewalttätigen Palästinensern.
Ganz deutlich wird diese Spaltung des Bewusstseins, wenn es um die Beurteilung der eigenen Geschichte geht. Lehnen sich die Palästinenser gegen die Unterdrückung und das ihnen permanent wiederfahrende Unrecht auf, wie sie das gegenwärtig tun, sind sie „Terroristen“. Schlägt Israel mit seiner mächtigen und überlegenen Armee brutal zurück, ohne die geringste Rücksicht auf Zivilisten zu nehmen, handelt es sich dabei um „angemessene Reaktionen auf Terrorismus“. Man kann dieses Vorgehen aber auch Staatsterrorismus nennen. Terrorakte von jüdischen Untergrundgruppen – der Hagana, Irgun-Etzel und Lehi – vor der Staatsgründung werden dagegen im Nachhinein als Heldentaten zur jüdischen Befreiung und Rettung glorifiziert und verklärt. Das Messen mit zweierlei Maß – man kann das auch Heuchelei nennen – ist die automatische Folge des gespalteten Bewusstseins.
Hinter einer solchen Politik steckt eine tief verwurzelte Angst vor einem offenen Diskurs über die Ereignisse von 1948. Gäbe es ihn, würde das der moralischen Legitimation des ganzen zionistischen Projekts und den Gründungsmythen des Zionismus den Boden entziehen. Die Israelis können sich deshalb dem Unrecht, das sie an den Palästinensern begangen haben und ständig weiter begehen, nicht stellen. Sie müssen es verleugnen. Dazu kommt: Würde es eine offene Debatte über das den Palästinensern zugefügte Trauma geben, müssten die Israelis anerkennen, dass sie selbst Täter und die Palästinenser die Opfer sind. Da sie sich aber selbst als die Opfer fühlen, müssten sie den eigenen Opferstatus aufgeben, das heißt, ihre Ängste und Lebenslügen überwinden, von denen der Zionismus bis heute lebt. Es ist natürlich viel leichter, alle Abwehrmechanismen zu aktivieren, die Palästinenser zu „Terroristen“ zu erklären und ihnen alle Rechte zu verweigern und an der Vergangenheit nicht zu rühren.
Dass das Motiv hinter der Verachtung der „Anderen“ ein ausgeprägter Rassismus ist, verwundert da nicht. Auch nicht, dass diese Bewusstseinsspaltung längst Apartheidstrukturen geschaffen hat, die für die Zionisten sicher nicht das Endziel sind. Denn sie haben die Vision des homogenen, „araberfreien“ jüdischen Nationalstaates. Die Nakba von 1948, bei der die Zionisten die Hälfte der palästinensischen Bevölkerung vertrieben haben, geht weiter, sie hat nie aufgehört, wie die täglichen Nachrichten aus Jerusalem und dem Westjordanland belegen. In ultrarechten zionistischen Kreisen plädiert man sogar für die vollständige und endgültige Vertreibung. Mit anderen Worten: Der Prozess, die Präsenz der Palästinenser in ihrem eigenen Land endgültig zum Verschwinden zu bringen, Judaisierung genannt, ist in vollem Gange.
Eine solche Politik ist aber mit hohen Risiken behaftet. Sie hat das zionistische Unternehmen in eine Sackgasse manövriert, aus der kein Ausweg in Sicht ist. Denn Israel hat die Bildung eines palästinensischen Staates erfolgreich verhindert. Ein solcher Staat ist wegen des Siedlungsbaus in der Westbank nicht mehr möglich. Es bleibt nur die Ein-Staaten-Lösung – denkbar nur als eine Apartheid-Diktatur, in der eine jüdische Minderheit über eine arabische Mehrheit herrscht. Oder die Bildung eines binationalen Staates, in dem Juden und Araber dieselben Rechte haben. Dieses Modell wird aber wohl niemals die Zustimmung der Mehrheit der israelischen Juden finden. Die Lage ist deshalb ziemlich hoffnungslos.
Zieht man eine Bilanz zum 73. Jubiläum Israels, dann sieht es nicht gut aus für diesen Staat. Der Zionismus hat auf Grund seiner verfehlten Politik ganz offensichtlich keine Zukunft mehr. Denn wie soll ein Staat überleben, der in seinem Herrschaftsbereich fünf Millionen Menschen einsperrt, die keinerlei politische oder bürgerliche Rechte haben? Ein Zustand, der ein Hohn auf die sogenannten westlichen Werte ist, zu denen sich auch Israel bekennt. Und der Westen selbst schweigt zu alledem, was ja wohl klammheimliche Zustimmung bedeutet.
13.05.2021