Wenn man BDS-Aktivisten auf „Krawall“ reduziert

Wie sich der Bremer Weser-Kurier mit dieser Menschenrechtsgruppe auseinandersetzt

Kritik am Zustand der deutschen Medien ist ein sehr berechtigtes Dauerthema. Was guter Journalismus leisten soll, hat der amerikanisch-jüdische Linguist und Noam Chomsky einmal so formuliert: „Eine wahrhaft unabhängige Presse weist jede Unterordnung zurück. Sie wehrt sich gegen Macht und Autorität. Sie prüft die bestehende Glaubenslehre kritisch und stellt jene Fragen, die von Menschen, die meinen, richtig zu denken, nicht gestellt werden. Sie reißt den Schleier der Zensur weg und macht der Öffentlichkeit jene Informationen und Meinungsvielfalt zugänglich, die für eine politische Partizipation sowie für das soziale und politische Leben im Allgemeinen notwendig sind. Hinzu kommt, dass es Aufgabe einer unabhängigen Presse ist, den Menschen eine Plattform zu anzubieten, die sie betreten und auf der sie über jene Themen, die sie als wichtig empfinden, debattieren können. Sobald sie das tut, erfüllt sie ihre Funktion als ein Fundament einer wahrhaftig freien und demokratischen Gesellschaft.“ Das ist der Maßstab, den sich in gedruckter Form eigentlich jede(r) Journalist/in über seinen/ihren Schreibtisch hängen sollte, um jeden Tag bei der Ausübung seines Berufs daran erinnert zu werden.

Welche(r) Journalist/in kann in Zeiten wie diesen (und dann noch in Abhängigkeit vom Mainstream-Zeitgeist, von Verlegern, Intendanten und Chefredakteuren) von sich sagen, diesen Maßstäben zu genügen? Wobei der Themenbereich Israel-Naher Osten noch ein Sonderfall ist. Was auf diesem Gebiet an Desinformationen und einseitiger Kommentierung produziert wird, übersteigt oft jedes Maß. Ein nicht aufgearbeitetes Schuldbewusstsein und die Angst vor dem Antisemitismus-Vorwurf verzerren die Wahrnehmung der Realität des zionistischen Staates Israel auf das Äußerste. Er wird als ein ganz normaler Staat wahrgenommen, bestenfalls gesteht man ein paar Kratzer am Erscheinungsbild der „einzigen Demokratie im Nahen Osten“ zu: dass es mit den Menschenrechten der Palästinenser dort nicht zum besten steht, aber die haben ja schließlich auch selbst schuld, wenn sie dem Terror nicht abschwören wollen. Wer fragt da schon nach den Ursachen des Terrorismus?

Ein Musterbeispiel eines solchen Journalismus hat jetzt die Ressortleiterin Kultur des Bremer Weser-Kurier Iris Hetcher geliefert. Auf der Seite zwei der Monopolzeitung des Stadtstaates vom 22. Februar 2019 erschreckt den Leser die Überschrift ihres Leitartikels: „Der unbedingte Wille zum Krawall“ (22.02.2019). Erstaunt fragt man sich, wen die Autorin wohl damit meinen könnte – vielleicht eine Rockerbande oder ultrarechte Fußballfans, die das friedliche Leben der Bremer Bürger stören? Mitnichten, es geht um BDS-Aktivisten, also Vertreter einer Menschenrechtsbewegung, die mit Forderungen von Boykott, De-Investment und Sanktionen kritisch, aber gewaltlos gegen die israelische Politik vorgeht.

Nachdem die Autorin pflichtgemäß ein paar kritische Pfeile auf Israel und sein Vorgehen gegen die Palästinenser abgeschossen hat (Vertreibung 1948, ihre Diskriminierung noch heute und die expansive Siedlungspolitik) und festgestellt hat, dass in Israel immerhin in den Krankenhäusern jüdische und arabisch Ärzte Seite an Seite zusammen arbeiten (nur: wer verdient mehr?) und dass man außerdem zwischen Regierungen und den Menschen in einem Land unterscheiden müsse (nur: wer wählt aber die ultrarechte Regierung Netanjahu immer wieder, wenn nicht die Menschen im Land?), kommt die Autorin zur Sache: eben den „Krawallmachern“ der BDS-Bewegung „im linken politischen Spektrum“, die mit allen Mitteln versuchten, Künstler und Rundfunkanstalten von der Teilnahme am Eurovision Song Contest (ESC) abzuhalten, der im Mai in Israel stattfindet.

Da schlägt die Autorin richtig drauflos: „Fast immer fallen BDS-Unterstützer durch pauschalisierende, hasserfüllte Aktionen auf, auch das Verbreiten von Gerüchten und Fake News sind Mittel der Wahl. Immer wieder wird dabei das Existenzrecht Israels in Frage gestellt, die Regierung Netanjahu mit den Nazis gleichgesetzt. Kritiker werden bei Diskussionsveranstaltungen niedergebrüllt. Der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, findet denn auch die Bewegung im Kern „antisemitisch“.

Das sind alles ganz üble Unterstellungen, von denen die Autorin natürlich nicht eine einzige mit Fakten belegt und auch nicht belegen könnte. Empörend findet Iris Hetscher auch, dass einige Pop-Bands ihre Teilnahme an einem Konzert 2018 in Berlin absagten, weil die israelische Botschaft die Veranstaltung finanziell unterstützte. Sie kommentiert diesen Vorgang mit einem neuen Ausfall gegen BDS: „BDS-Aktivisten sahen darin einen willkommenen Anlass, zum Krachschlagen, woraufhin einige Bands angewidert absagten. Hauptsache, die Aktionen verursachen Spektakel und stiften Unfrieden, scheint das Motto zu sein. Wie alle Dogmatiker sehen die BDSler ihre Aufgabe als Mission, die Inhalte verschwimmen hinter dem Willen zur Aktion. Genau dieser quasi-religiöse Ansatz diskreditiert die Bewegung.“

Einmal angenommen, Iris Hetcher hätte die oben angeführten Sätze über guten, professionellen Journalismus von Noam Chomsky über ihrem Schreibtisch hängen, was hätte sie über BDS schreiben müssen? Zunächst hätte sie, anstatt gleich mit dem kritischen Draufschlagen zu beginnen, ihren Lesern erklären müssen, was BDS überhaupt ist und was die Bewegung, die von der palästinensischen Zivilgesellschaft gegründet worden ist (also von Menschen, die seit über fünfzig Jahren hinter Mauern und Stacheldraht unter einer brutalen Besatzung leben müssen) für Ziele verfolgt. Die Autorin tut das nur andeutungsweise, wenn sie schreibt, dass BDS Israel mit dem verblichenen Apartheidregime in Südafrika vergleiche und deshalb fordere, Produkte aus Israel zu boykottieren, Investitionen zu verhindern und Künstler von Auftritten dort abzuhalten. Das Ziel von BDS sei, mehr Gerechtigkeit durchzusetzen.

Da fehlt denn doch einiges. Nämlich: BDS ist eine Menschenrechtsbewegung, die sich für ein Ende der Besatzung von Westbank und Gazastreifen sowie für ein Ende der Diskriminierung der Palästinenser in Israel einsetzt und schließlich das Recht auf Rückkehr der von Israel vertriebenen Flüchtlinge und der im Ausland lebenden Palästinenser fordert. Die Bewegung legt allergrößten Wert darauf, mit ihren Forderungen auf der Basis des Völkerrechts, der Menschenrechte und der entsprechenden UNO-Resolutionen zu stehen. BDS will nicht mehr und nicht weniger, als Israel zu einem völkerrechts- und menschenrechtskonformen Verhalten zu bringen. Die Bewegung würde sich in dem Augenblick auflösen, wenn dieses Ziel erreicht ist. Was haben diese berechtigten Forderungen mit „Krawall“ und „Antisemitismus“ zu tun?

Der Ansatz der Autorin ist sehr schlicht, sie weiß offenbar gar nicht, was da wirklich läuft. Die Krawallmacher finden sich nämlich eher auf der anderen Seite. Denn Israel hat eine ausgefeilte und umfassende Strategie entwickelt, jede Kritik an seiner Politik und BDS zu bekämpfen und setzt dafür sehr viel Geld ein. Die Auswirkungen reichen auch bis nach Deutschland. Die Organisatoren von Veranstaltungen und die Verantwortlichen in den Medien werden gezielt und massiv unter Druck gesetzt, damit Diskussionen, Filme, Ausstellungen oder andere Events, die auch nur ansatzweise Israels Politik kritisieren oder die Rechte der Palästinenser/innen verteidigen, als „antisemitisch“ oder „terrorismusunterstützend“ zu diffamieren.

Allein für Deutschland könnte man Hunderte von Beispielen nennen, wie Israel nahestehende Kreise massiv gegen jede Form von Kritik an Israels Politik vorgehen (man denke nur an die Vorfälle anlässlich der Nakba-Ausstellung!) – neuerdings sogar gegen kritische israelische Referenten oder hier lebende jüdische Personen oder Gruppen. Jüngstes Beispiel ist der Versuch eben dieser Kreise (darunter auch der Zentralrat der Juden in Deutschland), die Verleihung des Göttinger Friedenspreises an die jüdische Gruppe „Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden im Nahen Osten“ zu verhindern (auch der Weser-Kurier hat darüber berichtet).

Israels langer Arm trifft also nicht nur nicht-jüdische Menschenrechtsaktivisten, wenn sie im öffentlichen Raum Israels völkerrechts- und menschenrechtswidriges Vorgehen gegen die Palästinenser kritisieren wollen, sondern auch kritisch eingestellte Juden sind von solchen Diffamierungen und Denunziationen betroffen. Was natürlich (abgesehen von der Bedrohung der im Grundgesetz garantierten Meinungs-, Presse- und Wissenschaftsfreiheit) besonders delikat ist, wenn Deutsche Juden des „Antisemitismus“ bezichtigen.

Die israelisch-jüdische Künstlerin Nirit Sommerfeld, die in München lebt, schrieb an die Verantwortlichen in Göttingen (Oberbürgermeister, Universitätsdirektorin, Sparkassen-Direktor), die sich gegen die Verleihung des Friedenspreises an die „Jüdische Stimme“ ausgesprochen haben, weil diese mit BDS in Verbindung gebracht werde und deshalb „antisemitisch“ sei, mit äußerster Empörung: „Ist Ihnen eigentlich klar, welche Ungeheuerlichkeit hier geschieht, indem Sie als Deutsche uns Juden hier in Deutschland Antisemitismus unterstellen? Ist Ihnen klar, welche Grenzen hier überschritten werden, welche Ehrverletzung hier stattfindet? Ist Ihnen klar, wie Sie als Deutsche mit Ihrem Erbe uns als Juden in Deutschland mit unserem Erbe diffamieren? Ist Ihnen wirklich klar, was hier geschieht? Sie meine Dame, meine Herren, werden hier instrumentalisiert, um eine Preisverleihung zu verhindern und damit jüdische Menschen mundtot zu machen, die – weil es sie existentiell etwas angeht – gegen eine rechtsgerichtete, rassistische und Krieg führende Regierung kämpfen und zwar ausschließlich mit gewaltfreien, legitimen Mitteln.“

Es sei noch einmal gesagt: Wenn Iris Hetscher die Sätze von Noam Chomsky über ihrem Schreibtisch hängen hätte, hätte sie als Kulturredakteurin sehen müssen, dass hier die Probleme liegen und nicht bei irgendwelchen „Krawall“ machenden BDSlern, die es nur in ihrer Fantasie gibt. Sie hätte sich die Frage stellen müssen, warum Israel sich gerade im Bereich der Kultur so aufwendig gegen BDS wehrt. Der israelische Filmemacher Eyal Sivan und seine französische Kollegin Armelle Laborie haben in ihrem Buch „Legitimer Protest. Plädoyer für einen kulturellen und akademischen Boykott Israels“ (Promedia-Verlag Wien) die Antwort auf diese Frage gegeben. Sie schreiben: „Seit Jahren bemühen sich israelische Regierungsstellen, das Image Israels als eines aggressiven, das Völkerrecht missachtenden und die Palästinenser/innen unterdrückenden Landes abzuschütteln und den Fokus gezielt auf unverfänglichere Bereiche wie Freizeit und Livestyle zu lenken. Erzeugnisse des israelischen Rebranding [Neupositionierung einer Marke] sind zum Beispiel die Vermarktung Tel Avivs als coole Destination für Gay-Reisen oder das Projekt ‚Tel Aviv an der Seine‘.“

An anderer Stelle heißt es: „Der kulturelle Boykott [außerhalb Israels, also auch in Deutschland] findet in dem Maß Verbreitung wie die Siedlungspolitik und die Militäroperationen, die Bombardierungen, Landkonfiszierungen, Massenverhaftungen und die rassistischen Gesetze, die eine israelische Regierung nach der anderen erlässt, voranschreiten. Die politische Führung Israels leugnet dagegen weiterhin beharrlich jeden Zusammenhang zwischen ihrer Politik und dem Erfolg von BDS und ist, wie Benjamin Netanjahu sagt, überzeugt davon, das Land sei Opfer einer gegen den Staat Israel lancierten internationalen Kampagne, die den Namen des Staates in den Schmutz ziehen wolle.“

Wie sich die Bemühungen Israels ausnehmen, mit sehr aufwendigen und teuren Marketingkampagnen, das kulturelle Image Israels im Ausland zu verbessern, beschreiben Sivan und Laborie so: „Die Strategie der Neupositionierung beinhaltet dreierlei: jeden Bezug zum Konflikt wegzulassen, positive Bilder mit Israel in Verbindung zu bringen und übereinstimmende Moralvorstellungen und ähnliche Werte von Israelis und Westlern zu betonen. Durch die Reduzierung Israels auf seine Gemeinsamkeiten mit dem Westen und die Loslösung der Marke Israel von jeder Bezugnahme nicht nur auf den Konflikt, sondern auch auf das, was die Eigenheiten Israels ausmacht, fehlt der mit dem Nation Branding verkauften nationalen Identität jeder Bezug zur israelischen Nation. Mit Bedacht bleiben so die Geschichte wie auch die Religion, die Ideologie und die politische Realität Israels ausgeklammert. Kurzum, das Hasbara-Marketing-Vorgehen [Hasbara ist das hebräische Wort für Propaganda] bedeutet, den Zionismus zu verkaufen, ohne von Zionismus zu sprechen. Israelischen Werbefachleuten zufolge gilt es, den unglücklichen Nachteil des Konflikts zu umgehen und auf die Stärken Israels zu setzen – seine robuste Wirtschaft, seine mitreißende Lebensweise und seine Kultur.“

In diesen Zusammenhang gehört auch der Eurovision Song Contest (ESC), den Iris Hetscher gegen die „BDS-Krawallmacher“ so vehement verteidigt. Wie gesagt, auf welcher Seite die „Krawallmacher“ stehen – da hätte die Autorin doch ein bisschen gründlicher im Sinne Noam Chomskys recherchieren müssen, anstatt sich nur von der israelischen Hasbara instrumentalisieren zu lassen.

22.02. 2019