Völkerrechtsargument oder Propagandatrick: Der Streit um Israels „Existenzrecht“
Spricht man mit Israelis oder Freunden und Anhängern dieses Staates über Israels Politik kommt sofort die Frage: „Wie hältst Du es mit dem Existenzrecht?“ Um es gleich vorwegzunehmen: Im Völkerrecht gibt es diesen Begriff nicht. Die Frage entpuppt sich als eine Fangfrage und ist zumeist sehr suggestiv gemeint, um – ähnlich wie mit dem Antisemitismus-Vorwurf – den politische Gegner zu überrumpeln, von den unsäglichen Vorgängen im israelischen Besatzungsgebiet abzulenken und jede Kritik an Israels Vorgehen dort im Keim zu ersticken. Der Begriff ist geschickt gewählt, denn welcher mit der Sache nicht vertraute Zeitgenosse würde nicht ehrlichen Herzens meinen, dass es sich bei der Forderung nach der „Anerkennung des Existenzrechts“ um ein selbstverständliches, vernünftiges und humanes Anliegen handelt?
Bei näherem Hinsehen stellt sich dann aber heraus, dass das Problem mit dem Existenzrecht im ideologischen Detail steckt und nicht so ganz schnell durchschaubar ist. Der amerikanische Völkerrechtler John V. Whitbeck hat schon vor Jahren darauf hingewiesen, dass es hier eigentlich um drei Aussagen geht: Die „Anerkennung Israels“, die „Anerkennung der Existenz Israels“ und die „Anerkennung des Existenzrechts Israels“. Politiker, Journalisten und sogar Wissenschaftler und Diplomaten halten diese drei Formulierungen oft nicht auseinander und stiften dann heillose Verwirrung.
Die „Anerkennung Israels“ ist ein diplomatischer Akt: Wenn ein Staat einen anderen anerkennt, ist das ein völkerrechtlicher Vorgang, der zugleich bedeutet, dass der anerkennende Staat natürlich auch die Existenz des anderes Staates ohne Wenn und Aber anerkennt, was natürlich auch umgekehrt gilt. Schwieriger ist es um die Aussage „die Existenz Israels anerkennen“ bestellt, obwohl sie spontan wie eine unkomplizierte Selbstverständlichkeit erscheint. Denn Israel ist der einzige Staat auf dieser Welt, der – auch fast siebzig Jahre nach seiner Gründung – keine festgelegten Grenzen hat.
Ginge man auf die Forderung ein, die „Existenz Israels anzuerkennen“, stellt sich automatisch die Frage: Welches Israel in welchen Grenzen ist gemeint? Die 55 Prozent des historischen Palästina, die der UNO-Teilungsplan 1947 für den jüdischen Staat vorgesehen hatte? (Die Zionisten besaßen zu dieser Zeit durch legalen Landkauf lediglich sechs Prozent von Palästina.) Oder sind die 78 Prozent des historischen Palästina gemeint, die Israel 1948 mit militärischer Gewalt in seinen Besitz gebracht hatte und die im Waffenstillstandsabkommen von 1949 mit der „Grünen Line“ als Grenze dann das eigentliche und international anerkannte Israel bildeten? Oder die 100 Prozent des historischen Palästina, die Israel seit den Eroberungen des Krieges von 1967 beherrscht – also einschließlich Westjordanland, Gazastreifen, Ost-Jerusalem und Golanhöhen? Wer also verlangt, die „Existenz Israels“ anzuerkennen“, muss auf diese Fragen eine klare Antwort geben und begibt sich unter Umständen, da Israels Besatzung und der Siedlungsbau im eroberten Gebiet illegal sind, auf ein Gebiet, das vom Völkerrecht nicht gedeckt ist.
Geht es aber um die „Anerkennung des Existenzrechts Israels“, verlässt man den Bereich des Völkerrechts und der Menschenrechte endgültig und wendet sich Fragen der Ideologie und der Moral zu. John V. Whitbeck macht den Unterschied zwischen „Anerkennung der Existenz Israels “ und der „Anerkennung des Existenzrechts“ mit einem Vergleich deutlich: „Aus palästinensischer Sicht ist der Unterschied etwa so, wie wenn von einem Juden die Anerkennung des Holocaust als historisches Geschehen verlangt würde oder aber die Anerkennung, dass es ‚richtig‘ war, dass der Holocaust geschehen ist, das heißt, dass der Holocaust moralisch gerechtfertigt war.“
Wenn die Palästinenser also der Forderung Israels nach „Anerkennung seines Existenzrechtes“ nachkämen, würden sie das schändliche Unrecht anerkennen, das die Zionisten diesem Volk angetan haben und auch heute noch weiter antun. Die Palästinenser würden dann bestätigen, dass man sie mit der Nakba 1948 zu Recht vertrieben hat und dass die Behandlung der Verbliebenen als Menschen minderer Qualität auch rechtens wäre. Die Palästinenser würden sich also ihrer Selbstachtung und Würde begeben und alle ihnen zustehenden Rechte aufgeben. Von ihnen aus gesehen ist die Forderung, Israels „Existenzrecht anzuerkennen“ eine äußerste Zumutung, die es diesem Staat erlauben würde, seine politischen und ideologischen Ziele zu 100 Prozent zu erreichen, jeden Fortschritt in Richtung Frieden und Gerechtigkeit zu unterbinden und den Palästinensern obendrein noch die Schuld für ihre Leiden zu geben.
Die Forderung nach „Anerkennung des Existenzrechts“ gehört also, gerade weil sie auf den ersten Blick so harmlos erscheint, in das Arsenal der israelischen Propaganda beziehungsweise Täuschungsversuche. Diese Vermutung wird dadurch bestätigt, dass die Forderung zwar nicht neu, aber früher keine offizielle Linie der israelischen Politik war. Ganz im Gegenteil. Am 18. November 1981 erschien in der New York Times ein Artikel, den Abba Eban, der israelische Außenminister von 1966 – 1974, geschrieben hat. Es hieß da: „Niemand erweist Israel einen Dienst, indem er sein ‚Existenzrecht‘ proklamiert. Es ist beunruhigend, dass so viele, die Israel wohl gesonnen sind, diese verächtliche Formulierung im Munde führen.“ Abba Eban gehörte damals der oppositionellen Arbeitspartei an, Regierungschef war zu jener Zeit Menachem Begin von der rechtsgerichteten Likud-Partei. Aber in diesem Punkt hatten die beiden israelischen Politiker keine Differenzen. Begin bekannte 1977 in seiner Regierungserklärung vor der Knesset nachdrücklich: „Ich möchte hier feststellen, dass die Regierung Israels keine Nation, sei sie nah oder fern, mächtig oder klein, darum ersuchen wird, unser Existenzrecht anzuerkennen.“
Die beiden meinten natürlich nicht, dass Israel kein Existenzrecht habe. Sie vertraten nur die Auffassung, dass dieses Recht als gegeben angesehen werden müsse, außer Zweifel stehe, und dass es niemandes bedürfe, dies zu bestätigen: „Israels Existenzrecht“, so Abba Eban weiter, „ist wie das der Vereinigten Staaten, Saudi-Arabiens und das von 152 anderen Staaten [hier sind die damaligen Mitglieder der UNO gemeint, heute sind es mehr Staaten) ein Axiom und gilt uneingeschränkt. Die Legitimität Israels ist nicht in der Schwebe und wartet darauf, vom Königshaus in Riad anerkannt zu werden.“ Ähnlich äußerte sich Begin weiter in seiner Rede vor der Knesset: „Es käme keinem Briten, keinem Franzosen, keinem Belgier oder Niederländer, keinem Ungarn oder Bulgaren, keinem Russen oder Amerikaner in den Sinn, für sein Volk die Anerkennung seines Existenzrechts einzufordern. Ihre Existenz bedeutet per se ihr Recht zu existieren. Dasselbe gilt auch für Israel.“
Die „verächtliche Formulierung“, Israels „Existenzrecht anzuerkennen“ (Abba Eban), ist heute zur unerlässlichen und allgegenwärtigen Bedingung geworden, mit der Israel und auch der Westen politischen Druck in der internationalen Politik ausüben. Israel will sie von jedem künftigen Partner für den Frieden erfüllt sehen, was aber die Sache nur noch komplizierter macht. Der britisch-jüdische Philosoph Brian Klug hat versucht, das Problem zu entwirren. Er schreibt: „Bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, dass die ‚unerlässliche Bedingung‘ die gesamte Debatte um Israel und Palästina verzerrt. Zum Teil liegt das daran, dass diese Bedingung alle Luft zum Atmen aufnimmt, indem sie die ‚existenzielle Bedrohung‘ Israels hervorhebt und so die Aufmerksamkeit von der Bürde ablenkt, die den Palästinensern auferlegt wird (ganz abgesehen von den Sicherheitsbedenken benachbarter Staaten). Zum Teil hängt es damit zusammen, dass der Inhalt jener Formel von Existenzrecht gleichbedeutend mit einem Knäuel der Verwirrung ist: ‚Israel hat ein Existenzrecht‘ ist in jedem seiner Teile und als Ganzes so vage wie eine Wolke (oder so glitschig wie Aal).“
Klug ist der Meinung, dass es hier nicht um das Völkerrecht, sondern um Ideologie und Moral geht. Und deshalb mahnt er an, dass erst einmal die Frage geklärt werden müsse „Was ist Israel? Welcher Natur oder Identität ist der Träger dieses moralischen ‚Existenzrechts‘?“ Klug bescheinigt Israel natürlich seine Staatlichkeit, stellt aber auch das Problem der Grenzen heraus: „Was bedeutet es, von einem Staat zu sagen, er habe ein ‚Existenzrecht‘, wenn wir die Ausdehnung des Territoriums, auf dem dieses Recht ausgeübt wird, nicht kennen?“ Die Frage der Grenzen spiele aber gerade im israelisch-palästinensischen Konflikt die entscheidende Rolle. Sei es sinnvoll festzustellen: „Israel hat irgendwo zwischen Mittelmeer und dem Jordan ein Existenzrecht?“
Er fragt in Bezug auf Israels Identität weiter: „Israel ist ein Staat. Bezeichnet aber der Name ‚Israel‘ den Staat als solchen oder bezeichnet er ihn als jüdischen Staat? Bezeichnet er – um noch einen Schritt weiter zu gehen – den Staat als den Staat der Juden? Was würden wir in dem Fall sagen, wenn wir sagten, ‚Israel hat ein Existenzrecht‘? Was würden die, für die wir das aussprächen, als unsere Aussage hören? Wir würden von Israel sprechen, aber in welchem Sinne?“ Mit anderen Worten: Was ist Israel wirklich und welche Identität hat es?
Nun wird der gegenwärtige israelische Regierungschef Benjamin Netanjahu nicht müde, diese Frage zu beantworten und zu sagen, was Israel wirklich ist: „der Staat des jüdischen Volkes“ oder „die nationale Heimat des jüdischen Volkes“. Das eroberte Westjordanland bezeichnet er in der offiziellen israelischen Terminologie mit dem biblischen Namen: „Judäa und Samaria“. Klug folgert daraus: „Wer bereit ist, das Existenzrecht Israels anzuerkennen, macht sich damit eine umfassende Ideologie zu eigen, nämlich die Ideologie des jüdischen Nationalismus, der sich auf Palästina bezieht.“ Er argumentiert weiter, dass die ‚Anerkennung des Existenzrechts‘ der Unterzeichnung eines Blanko-Schecks für die jüdisch-nationalistische Definition des Staates gleich käme, die natürlich ganz Palästina umfasst.
Er schreibt: „Danach wäre es dann nicht mehr möglich, beispielsweise zu sagen: ‚Ich unterstütze Israels Existenzrecht, aber schlage vor, dass es sich neu definiert als ‚Staat der Israelis‘ [also als Staat aller seiner Bürger, auch der Palästinenser] und nicht mehr als ‚Staat der Juden‘. Das kann man dann nicht mehr sagen, ist erst einmal in das Konzept des Staates eingeschrieben, dass er ausschließlich ‚dem jüdischen Volk gehört‘, und man es unterzeichnet hat. Denn genau das hätte man mit der Unterzeichnung des Blankoschecks getan, ob gewollt oder nicht. Der eben angedeutete Vorschlag [ein Staat für alle seine Bürger] könnte in der Absicht gemacht worden sein, die Zukunft des Staates zu sichern, aber viele Anhänger Israels würden denjenigen, der ihn macht, angreifen und behaupten, er wolle Israel ‚zerstören‘. (Einen bi-nationalen Staat vorzuschlagen, würde einen noch weiter ins Abseits katapultieren.) Die genaue Bedeutung von ‚Israel‘ bestimmt also, was als ‚existieren‘ aufzufassen ist und daher das ‚Existenzrecht‘ gewährleistet.“
Klug führt noch einen Aspekt an, der aus der Forderung nach „Anerkennung des Existenzrechts“ folgt und für Israel eine eher düstere Zukunftsperspektive herausstellt. Er konstatiert, dass die andauernde Betonung des Existenzrechts auch bedeutet, dass Israel nach eigener Einschätzung unter einer ständigen Bedrohung seiner Existenz steht. Das verstärke aber die isolationistische Weltsicht der Israelis „Wir gegen die ganze Welt“ und verstärke zugleich die ganz auf das Militär ausgerichtete Denkweise. Was heißt: Israel schiebt die alleinige Schuld für seine Situation seinen „Feinden“ (den Arabern und besonders den Palästinensern) zu. Daraus leitet es dann (zusammen mit dem Holocaust) seine „Uns-ist-alles-erlaubt!“-Doktrin ab. Anders gesagt: Die angebliche „existentielle Bedrohung“ rechtfertigt jedes illegale Vorgehen Israels und jede seiner umstrittenen politischen Maßnahmen.
Klug schätzt diese Sicht der Israelis als äußerst gefährlich für die Zukunft dieses Staates ein: „Wenn Israel seine kriegerische Haltung nicht ändern kann; wenn die Mentalität des fortgesetzten Krieges weiterhin vorherrscht, bei dem sich jedes Grenzgeplänkel zur Schlacht um das Überleben des jüdischen Volkes auswächst; dann werden die Konsequenzen für Israel ebenso fatal sein, wie sie für andere tödlich sind. Die israelische Rhetorik von der ‚Existenz‘, die Teil einer kriegerischen Haltung ist, gefährdet genau dies, seine Existenz.“
Es geht also bei der ganzen Debatte gar nicht um Völkerrecht und Menschenrechte – also im weitesten Sinne um westliche Werte – , wenn vom „Existenzrecht“ Israels die Rede ist, sondern allein um den radikalen zionistischen Nationalismus und seine Überlebensstrategie. Die Palästinenser – die Ureinwohner dieses Landes sowie die Anerkennung ihrer Rechte, eben auch ihr Recht auf Existenz – spielen in den jüdisch-nationalistischen politischen Planspielen gar keine Rolle.
Dass Israel sich damit eines schweren völkerrechtlichen und moralischen Vergehens schuldig macht, hat der greise und weise israelische Philosoph Yeshajahu Leibowitz so formuliert: „Israel ist [nach 1967] ein System der Gewaltherrschaft geworden. Wer hat denn den Anfang aller dieser Probleme in dem Ausspruch, es gäbe kein palästinensisches Volk, gesetzt? Golda Meir! [Sie war israelische Regierungschefin von 1969 – 1974.] Golda Meir war doch der aschkenasische Mensch par excellence, oder nicht? Kann es aber wirklich unsere Angelegenheit sein, ja sind wir dazu überhaupt befugt zu entscheiden, ob das palästinensische Volk in der Vergangenheit existierte oder ob es heute existiert? Gibt es nicht genug Historiker, Soziologen und andere Intellektuelle – in aller Welt – , selbst in Israel – , die die Existenz eines jüdischen Volkes bestreiten! Auf jeden Fall wissen wir recht gut, was der Slogan ‚Es gibt kein palästinensisches Volk‘ bedeutet – das ist Völkermord! Nicht im Sinne einer physischen Vernichtung des palästinensischen Volkes, sondern im Sinne der Vernichtung einer nationalen und/oder politischen Einheit.“
Es steht nicht gut um das Völkerrecht und die Menschenrechte – also die westlichen Werte im weitesten Sinne – in Israel/Palästina. Nur sollte man es nicht verschweigen, sondern offen darüber reden.