„Ich steige aus dem exklusiven Klub des Judentums aus“

Der israelische Historiker Shlomo Sand rechnet in seinem neuen Buch mit dem „jüdischen Staat“ Israel ab

Gäbe es die brutale und völkerrechtswidrige Besatzungspolitik nicht, man müsste Sympathie haben für dieses Land – allein schon wegen seiner kritischen Intellektuellen. Man kann dieses komplexe und schwierige Gebilde Israel erst verstehen, wenn man die Bücher und Aufsätze seiner besten oppositionellen Köpfe gelesen hat. Um nur ein paar Namen zu nennen: Uri Avnery, Abraham Burg, Akiva Eldar, Simcha Flapan, Amira Hass, Jeff Halper, Jeshajahu Leibowitz, Gideon Levy, Reuven Moskovitz, Ilan Pappe, Tom Segev, Israel Shahak, Idith Zertal, Moshe Zuckermann und eben Shlomo Sand, wobei diese Liste bei weitem nicht vollständig ist. Die Ausführungen dieser intelligenten und human gesinnten Aufklärer haben mein Israel-Bild geprägt, das natürlich ein Gegenentwurf zum zionistischen Mainstream ist.

Die Krux ist nur: Argumentiert man in Deutschland mit Darlegungen dieser Intellektuellen, dann steht man als „Antisemit“ dar, wird gleich mit Nazi-Schergen in einen Topf geworfen. Allein an diesem Tatbestand zeigt sich, wie absurd, um nicht zu sagen pervers, die gegenwärtige Diskussion um Israel und den Nahen Osten ist – wenn man sie denn überhaupt eine Diskussion nennen kann, sie ähnelt bisweilen eher einer Neuauflage der Inquisition. Was wohl schlicht daran liegt, dass die Vollstrecker des Antisemitismus-Vorwurfs offenbar selbst mit antisemitischen Klischees im Hinterkopf behaftet sind. Denn ihrem Weltbild zufolge müssen „die“ Juden offenbar immer und überall eine und dieselbe Ideologie teilen. Unterschiedliche Auffassungen darf es da nicht geben. Dass das Judentum nicht nur über religiöse, sondern auch über politische Fragen wie das Nahost-Problem zutiefst gespalten ist, können sich diese Scharfrichter gar nicht vorstellen, geschweige denn akzeptieren. Sie müssen dann als Ausweg die „guten“ Juden von den „bösen“, „selbsthassenden“ oder sogar „antisemitischen“ Juden separieren.

Um die Spaltungen innerhalb des Judentums geht es auch in dem neuen Buch des israelischen Historikers Shlomo Sand, das den provozierenden Titel trägt: „Warum ich aufhöre, Jude zu sein“. Nicht zufällig beginnt der Autor seine Ausführungen ganz allgemein mit einem einleitenden Kapitel über den Begriff der Identität. Er ist das Schlüsselwort des ganzen Textes. Denn Sand steht zu seiner israelischen Staatsbürgerschaft (zum „Israelisch-Sein“, wie er das nennt), hadert aber mit seiner säkularen jüdischen Identität, denn „Betrug, Unaufrichtigkeit und Überheblichkeit prägen sämtliche Aspekte der Definition von Jüdisch-Sein im Staat Israel.“ Sand sieht eine Bedrohung für die Juden – trotz allem gegenteiligen Geschreis – nicht mehr im Antisemitismus, der in der liberalen und demokratischen Welt seine Kraft weitgehend verloren habe. Die Gefahr drohe mehr von innen, weil es „einen direkten Zusammenhang zwischen dem Verständnis der Juden als ‚Ethnie‘ und als unvergänglichem Rassenvolk einerseits und der Politik Israels andererseits gibt, die der Staat gegenüber Bürgern, die nicht als Juden gelten, gegenüber den geplagten Arbeitsimmigranten aus fernen Ländern und natürlich gegenüber seinen rechtlosen Nachbarn, die seit 50 Jahren unter israelischer Besatzung leben, verfolgt. Nur schwer lassen sich die Augen vor der quälenden Tatsache verschließen: Die Kultivierung einer essentialistischen, nichtreligiösen jüdischen Identität fördert in Israel wie auch anderswo ethnozentrische, mehr oder weniger rassistische Standpunkte.“

Der Vorwurf richtet sich also gegen das säkulare Judentum, das in Israel heute vorherrscht. Sand bezeichnet es als „ethnozentrisch, tribalistisch und rassistisch“. Weil die Unsicherheit über die eigene national-säkulare Identität so groß sei, habe man sie als eine ethnozentrisch-jüdische festgelegt. Israel, schreibt Sand, ist heute eine zionistische Ethnokratie. Dabei könne man nicht einmal definieren, wer eigentlich Jude sei. Man habe es in Israel sehr intensiv versucht, die jüdische Identität auf naturwissenschaftlichem Wege (mit Hilfe von DNS-Proben) festzustellen, sei damit aber gescheitert. Deshalb müsse die Frage mit religiösen Kriterien beantwortet werden: Jude ist, wer eine jüdische Mutter hat oder gemäß den religiösen Gesetzen konvertiert ist.

Sand schildert die Absurdität dieser Regelung an seinem eigenen Fall. Er wurde als Kind polnisch-jüdischer Eltern, die dem Holocaust entkommen waren, in einem Lager für DP’s (Displaced Persons) 1946 in Linz (Österreich) geboren. Er ist nach dem israelischen Gesetz Jude, weil seine Mutter ihre jüdische Abstammung nachweisen konnte. Wäre nun sein Vater Jude und die Mutter Nicht-Jüdin, hätten die israelischen Behörden in seinen Pass bei der Nationalität „österreichisch“ eingetragen, nur weil er zufällig in einem Lager in diesem Land geboren wurde. Zwar hätte er die israelische Staatsbürgerschaft bekommen, hätte aber sein Leben lang als Angehöriger des österreichischen Volkes gegolten. Jude in Israel sein – so Sand – bedeutet also vor allem einem Stamm, einem auserwählten Ethnos (altgriechisch: das Volk) anzugehören, einem geschlossenen Club von Privilegierten.

Und zu dem möchte sich Sand nicht länger zählen: „Ich sehe es meinerseits als moralische Pflicht an, mich enfgültig vom tribalistischen Judozentrismus zu verabschieden. Heute bin ich mir voll bewusst, dass ich im Grunde nie ein säkularer Jude war; ein derartiges imaginäres Subjekt entbehrt nämlich jeglicher eigener kultureller Grundlage oder Perspektive und basiert auf einem hohlen ethnozentrischen Standpunkt.“

Seine Kritikpunkte, mit denen er seinen Austritt aus dem säkularen Judentum begründet, ergeben sich folgerichtig aus der Ablehnung des Tribalismus. Sand attackiert erstens das heute so positiv und erhaben dargestellte Bild der jüdischen Ethik, das er für einen künstlich fabrizierten Mythos hält. Die jüdische Tradition fuße schon immer auf einem im Wesentlichen  gruppenimmanenten Ethos, das heißt: sie gilt nur für Juden, ist also partikularistisch und ethnisch-religiös. Selbst das Gebot der Nächstenliebe in der Tora (Lev. 19,18) bezieht sich nur auf Juden, nicht aber auf die Gojim (Nicht-Juden). Denn in der Tora steht wörtlich: „Du sollst dich nicht rächen noch Zorn bewahren gegen die Kinder deines Volkes. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Ich bin der Herr.“ Der größte rabbinische Gelehrte des Judentums, Maimonides, interpretiert diesen Satz genau in diesem Sinne: „Es ist das Gebot für jeden Menschen, jeden Einzelnen aus Israel zu lieben wie dich selbst.“ Die Aufforderung zur Nächstenliebe bezieht sich also nur auf Menschen desselben Glaubens, nicht jedoch auf alle Menschen.

Aus dem Tribalismus des heutigen säkularen Judentums folgt als zweiter Kritikpunkt Sands auch die ungerechte Konstruktion des israelischen Staates. Er definiert sich nicht als israelisch, sondern als „jüdisch“, was bedeutet, dass 20 Prozent der Bürger (Palästinenser und Drusen) nicht zum Kreis der Bürger dieses Staates gehören. Sand zählt ausführlich all die bekannten Privilegien auf, die in Israel nur Juden vorbehalten sind – im Gegensatz zu den Nicht-Juden, „denen neben den Bürgerrechten auch die Ausübung der eigenen Souveränität versagt bleibt. Als Jude kann man nicht nur auf Grund und Boden siedeln, der einem nicht gehört, sondern darf auch auf Umgehungsstraßen durch Judäa und Samaria fahren, während sich die lokale Bevölkerung in ihrer Heimat nicht frei bewegen darf. Als Jude wirst du, Gott bewahre, nicht an Checkpoints angehalten, du hast keine Folter zu erdulden, niemand dringt mitten in der Nacht in dein Haus ein, um eine Durchsuchung vorzunehmen, man schießt nicht versehentlich auf dich und zerstört auch nicht dein Haus. Nein, denn all diese Maßnahmen, die schon seit knapp fünfzig Jahren angewandt werden, richten sich allein gegen Araber.“

Und Sand folgert für sich selbst aus diesen täglichen Realitäten in Israel und den besetzten Gebieten: „Wie kann ein Mensch, der nicht religiös ist, sondern einfach Humanist, Demokrat oder Liberaler, und nur einen Funken Rechtschaffenheit besitzt, sich unter diesen Umständen weiterhin als Jude bezeichnen? Kann sich ein Nachkomme von Verfolgten unter diesen Bedingungen zum Stamm der neuen säkularen Juden zählen, die Israel als ihren alleinigen Besitz betrachten? Schließt man sich durch die Selbstdefinition als Jude im Staat Israel denn nicht eigentlich einer privilegierten Kaste an, die unerträgliche Ungerechtigkeiten begeht?“

Als dritten Grund für die Abkehr vom säkularen Judentum und seiner Anhänger gibt Sand die Erinnerungspolitik Israels in Bezug auf den Holocaust an, die ihn in seiner Identität zunehmend verunsichert habe. Empört fragt dieser Sohn von Überlebenden, warum in Israel und im Westen nicht die wahre Zahl der zivilen Opfer des Zweiten Weltkrieges genannt würde, nämlich elf Millionen, sondern nur die fünf (nicht sechs!) Millionen jüdischen Opfer. Sand konstatiert auch hier einen tribalistischen Hintergrund. Er betont ausdrücklich die Wichtigkeit des Erinnerns an das furchtbare Geschehen der Shoa, sich nicht zu erinnern wäre eine schwere Schuld. „Doch die neue zionistische und pseudojüdische Politik wollte mehr. Es genügte ihr nicht, dass die Erinnerung an die Ermordeten im westlichen Bewusstsein eingeschrieben war; sie beanspruchte Einzigartigkeit, Exklusivität und die totale nationale Verfügungsgewalt über den Schmerz. Damals begann, was zu Recht als ‚Holocaust-Industrie‘ bezeichnet wird: Diese war darauf aus, das Leiden der Vergangenheit zu maximieren und aus ihm so viel politischesPrestige und sogar wirtschaftliches Kapital zu schlagen wie nur möglich. Deshalb wurden auch nach und nach fast alle anderen Opfer ausgeblendet, und der Genozid geriet zu einer ausschließlich jüdischen Angelegenheit.“

An die Stelle der alten religiösen Identität des „auserwählten Volkes“ sei ein äußerst wirkungsvoller säkularer Kult um den Holocaust getreten, eine Holocaust-Religion des „ausschließlichen Opfers“. Sie diene vornehmlich dazu, eine separate und exklusive jüdische Identität zu erhalten. Sand warnt von den Gefahren, zu der ein solcher Kult um die Shoa führen kann: „Wenn die Zionisten und ihre Sympathisanten aber die Erinnerung an die Tragödie in eine Zivilreligion mit Wallfahrten zu den rekonstruierten Schauplätzen der Vernichtung verwandeln und so der ‚jüdischen‘ Generation von morgen die dazugehörige Paranoia einimpfen, sollte man innehalten und sich Folgendes klarmachen: Eine Identität, die auf der kontinuierlichen Mobilisierung eines Traumas beruht, ist in der Regel pervertiert und potentiell gefährlich sowohl für seine Träger als auch für Menschen in ihrer Umgebung. Obwohl Israel die einzige Atommacht im Nahen Osten ist, schürt es dennoch beständig die Angst seiner Unterstützer im Ausland, indem es die Bedrohung durch eine weitere Shoah an die Wand malt – höchstwahrscheinlich ein gutes Rezept für zukünftige Katastrophen.“ Ähnlich haben diese Gefahren schon andere israelische Autoren geschildert, etwa Abraham Burg und Akiva Eldar.

Was bleibt dem Historiker und israelischen Staatsbürger Shlomo Sand noch an Hoffnung für die Zukunft nach einer solchen schonungslosen und äußerst mutigen Abrechnung mit dem säkularen Judentum, das in Israel den Ton angibt? Resignation, Depression und Pessimismus? Nein, er bewahrt sich seinen Traum von einem universalistisch und nicht tribalistisch verfassten Israel, den er immer wieder in hebräischer Sprache träumt: „die tribalistische Abkapselung aufzugeben, den Anderen als gleichwertigen Mitmenschen anzuerkennen und die Grundgesetze Israels dahingehend zu ändern, dass sie demokratischen Prinzipien entsprechen.“

Sand träumt von einem Israeli-Sein, das nicht mehr eine abgeschlossene säkulare jüdische Identität, also ein ethnisches und rassisches Phänomen ist, sondern das politisch-kulturell verstanden wird und eine offene, inklusive und eben universalistische Identität hat. Aber dann kommt er angesichts der israelischen Realität doch wieder ins Grübeln. Denn gegen seinen Traum spricht sein Gefühl: „... dass der letzte Funken Vernunft aus unserem politischen Handeln verschwindet und wir den Launen wahnwitziger Stammespriester ausgeliefert bleiben.“

Sand hat mit dem Blick des Insiders ein ungeheuer mutiges Buch geschrieben, das gerade für den deutschen Leser, der dem Thema Israel immer noch mit allergrößter Scheu begegnet, in vieler Hinsicht beste Aufklärung darstellt. Seine exzellente Analyse deckt Widersprüche und Verwerfungen auf, die auch in Deutschland zur Kenntnis genommen werden müssen, wenn wir Israel nicht völlig realitätsblind gegenübertreten wollen. Mit Antisemitismus hat das gar nichts zu tun.

Shlomo Sand. Warum ich aufhöre, Jude zu sein, Propyläen Verlag 2013, 18 Euro