David Grossman ist einer der renommiertesten Schriftsteller Israels. Der Hanser-Verlag hat jetzt einen kleinen Band mit Reden des Autors herausgebracht, das den neugierig machenden und anspruchsvollen Titel trägt: Frieden ist die einzige Option. Das klingt gut – gerade nach dem 17. Oktober und wegen Israels immer noch andauerndem furchtbaren Rachefeldzug im Gazastreifen. Die Texte umfassen den Zeitraum vom Februar 2017 bis zum 16.11.2023, also einen Monat nach der Hamas Attacke.
Da finden sich zunächst durchaus vernünftige Aussagen. Etwa: „Vor allem frage ich mich, wie es kommt, dass mein Land, ein Staat mit so viel Kreativität, Erfindungsgeist und Mut, schon über hundert Jahre die Mühlräder dieses Konfliktes dreht und nicht dazu in der Lage ist, seine gewaltige militärische Macht zu einem solchen Hebel umzubauen, dass er die Wirklichkeit verändert und uns vom Fluch zyklisch wiederkehrender Kriege befreit? Uns einen Weg zeigt?“ Oder: „Wir, die Israelis, weigern uns immer noch einzusehen, dass die Zeit vorbei ist, in der unsere Kraft eine Realität diktieren konnte, die uns und nur uns genehm ist, ganz nach unseren Bedürfnissen und Interessen.“
Sehr überzeugend ist auch die Kritik, die der Autor gegen die Regierung Netanjahu vorbringt, die das Rechtssystem so umformen will, dass die Judikative nicht mehr unabhängig, sondern der Regierung und dem Parlament untergeordnet ist. Grossman sieht dadurch die Demokratie gefährdet und warnt vor einer Diktatur. Er stellt aber auch die Frage, ob Israel überhaupt noch berechtigt sei, sich eine Demokratie zu nennen, weil Besatzung und Demokratie sich gegenseitig ausschlössen, denn Demokratie verlange die Gleichheit der in ihr lebenden Menschen.
Viele der Probleme, die Israel hat, nennt er realistisch beim Namen: Das Besatzungsregime; die Siedler, die mit dem Raub ihnen nicht gehörenden Landes und mit ihrer Gewalt jede Friedenslösung verhinderten; die Tatsache, dass Israel auch nach über 70 Jahren seines Bestehens immer noch keine „fairen“ und festen Grenzen hat, was den Staat einer ständigen Bedrohung aussetze und ein dauerhaftes Friedensabkommen unterlaufe. Hart geht er auch mit seinen israelischen Landsleuten ins Gericht, die den „Alptraum“ der Besatzung ausblendeten und verdrängten. Niemand mache den Versuch, diesen Zustand zu verändern.
Auch für den eng mit der Besatzung verbundenen Rassismus findet er harte Worte: „Die Eroberten [die Palästinenser] werden irgendwann als von Natur aus minderwertig eingeschätzt, als minderwertig geschaffen. Die Erniedrigung entspricht offenbar ihrem Wesen, man darf sie getrost der Menschenrechte berauben, ihre Werte und Wünsche verspotten – nicht anders sahen und sehen Antisemiten die Juden.“ Die Verachtung der Palästinenser gehe so weit, dass im Bewusstsein der meisten Israelis die Millionen hier beheimateten Menschen gar nicht mehr vorkämen. Es gibt sie einfach gar nicht!
Für einen Israeli, der sich zum Zionismus bekennt, sich andererseits auch als „Teil eines säkularen und humanistischen Judentums“ sieht (sind Zionismus und Humanismus überhaupt vereinbar?) ist eine solche Kritik schon beachtlich, wobei sich dann natürlich automatisch die Frage ergibt, welche Schlussfolgerungen er aus seiner Kritik für eine Lösung des Konflikts mit den Palästinensern zieht. An einem „jüdischen Staat“ will er festhalten. An diesem Punkt macht sich Grossman sehr angreifbar, denn sein Lösungskonzept ist rein zionistisch, voller Widersprüche und hat mit der Wirklichkeit in Israel/Palästina wenig zu tun.
Er bezeichnet Palästina als die „Heimat der Juden“, in die sie „auf wundersam anmutende Weise“ zurückgekehrt seien. In der Diaspora seien sie immer eine Minderheit gewesen. Nun stellten sie aber die Mehrheit dar und müssten lernen, mit einer Minderheit umzugehen. Hier muss man schon einhaken: Die Juden sind keineswegs die Mehrheit in Palästina/Israel, nimmt man die besetzten Gebiete hinzu, was staatlicherseits ja geschieht, denn auf offiziellen Landkarten gibt es die besetzten Gebiete gar nicht mehr. Es besteht in der Bevölkerungszahl eine Parität, und da die Geburtenrate der Palästinenser höher als die der Juden ist, dürften die Juden in absehbarer Zeit in der Minderheit sein.
Grossman bleibt aber bei seiner Mehrheits- bzw. Minderheitsthese und will dem geringeren Volksteil, also den Palästinensern, aber volle Gleichberechtigung, völlig freie Entfaltung und Schutz vor Rassismus und Hass zubilligen. Dann erhebt sich aber die Frage, was an einem solchen Staat noch typisch jüdisch sein soll. Grossmans Antwort auf diese Frage klingt wenig überzeugend. Dieser Staat sei jüdisch, weil die in ihm herrschenden sozialen Vorstellungen und Konzepte bereits in der Hebräischen Bibel [das christliche Alte Testament] formuliert worden seien. Wie diese Vorstellungen und Konzepte genau aussehen, führt Grossman nicht aus. Außerdem fügt er hinzu, der Begriff „Mehrheit“ sei nicht statistisch gemeint. Wie aber dann? Versteht er ihn auch theologisch?
Grossman lehnt ausdrücklich die Vorstellung eines binationalen Staates ab. Sein Konzept definiert er so: „Ein jüdischer Staat ist die nationale Heimstatt aller Juden, der die volle Gleichberechtigung aller seiner Bürger als entscheidende Prüfung seiner Humanität und als Erfüllung der Visionen seiner Propheten und Gründerväter betrachtet.“ Also ein „jüdischer Staat“ mit einer jüdischen Mehrheit, die aber nicht statistisch gemeint ist (wie dann?), die aber dennoch über die palästinensische Minderheit wohlwollend herrscht, weil mit allen Rechten ausgestattet – und dennoch soll dieser Staat nicht binational sein. Das verstehe, wer will! Ein seriöses Friedenskonzept ist das nicht.
Eine Rede in dem Buch ist nach dem verhängnisvollen 7. Oktober gehalten worden. Grossman wirft der Regierung Netanjahu vor, wegen der totalen Verletzung der Sicherheit des Staates die israelischen Bürger „verraten“ zu haben. Was da und später geschehen sei, sei der Preis, den die Israelis nun zu zahlen hätten, weil sie sich jahrelang von korrupten Politikern hätten verführen lassen, die den Staat nach und nach an den Rand des Abgrunds getrieben hätten. Fast alle staatlichen Institutionen seien unterhöhlt worden, nur um den Ministerpräsidenten vor einer Gefängnisstrafe zu bewahren.
Diese Kritik kann man noch gut nachvollziehen, auch seine Kritik an dem Massaker der Hamas, das zweifellos ein Kriegsverbrechen war, und das für die Israelis, die sich durch ihre Übermilitarisierung in falscher Sicherheit wiegten, ein brutaler Schock war. Er nennt die Hamas-Kämpfer „Bestien“ und die Verkörperung des „Bösen“. Aus den Ereignissen des 7. Oktober zieht er aber nicht den Schluss, endlich eine Lösung zu finden, also Frieden zu schaffen, um dem Morden im Nahen Osten ein Ende zu bereiten, sondern glaubt, dass der Dialog mit den Palästinensern nun für Jahre auf Eis gelegt sein wird. Er mahnt die Palästinenser im Westjordanland, die nicht an der Attacke der Hamas beteiligt waren, diese öffentlich zu verurteilen und „humane und ethische Verhaltensformen“ einzuhalten. Gut gesagt angesichts der täglichen Überfälle der Siedler unter dem Schutz der Armee!
Das Geschehen am 7. Oktober sei zu groß und grausam gewesen, um es nach herkömmlichen Paradigmen zu beurteilen. Dieses Geschehen lasse sich mit Israels Vorgehen und Vergehen in den besetzten Gebieten seit 1967 weder relativieren noch rechtfertigen. Grossman verliert sich in wenig überzeugender Wehleidigkeit und in Selbstmitleid, wenn er fragt: „Wie sollen wir uns wieder erheben, nachdem wir in die dunkelsten Abgründe geschleudert worden sind?“ Und: „Woher sollen wir die Kraft nehmen, überhaupt wieder aufzustehen?“ Er fühlt die Notwendigkeit, „zum zweiten Mal einen neuen Staat aufzubauen.“
Kennt Grossman die eigene Geschichte Israels und des Zionismus nicht – mit wieviel palästinensischen Opfern Israels Staatlichkeit und ihre Sicherheit erkauft worden ist? Warum fragt er nicht nach den Gründen für den Hass und die Wut, die die Explosion des 7. Oktober ausgelöst haben und sicher im genau entsprechenden Verhältnis zur Unterdrückung und permanenten Vergewaltigung dieses Volkes standen und stehen? Über 100 Jahre furchtbare Gewalt gegen ein ganzes Volk, dem die Zionisten nie das Prädikat, gleichwertige Menschen zu sein, zuerkannt haben. Die Frage nach dem „Schmerz der Anderen“ stellen Grossman und andere Zionisten nie. Sie sind unfähig zur Empathie, weil sie immer nur die eigenen Leiden sehen.
Zur Erinnerung: Im Aufstand der Palästinenser gegen die britische Mandatsmacht und deren zionistische Helfer kamen 1936 30 000 bis 40 000 Menschen dieses Volkes um. Allein während der Nakba 1948 haben palästinensischen Historikern zufolge 68 Massaker an Palästinensern stattgefunden, 800 000 Menschen wurden vertrieben, im Krieg 1967 noch einmal 300 000. Immer wieder hat Israel in seinen Kriegen gegen die Palästinenser Flüchtlingslager als „Terrornester“ bombardiert (also Lager der Menschen, die die Zionisten zuvor vertrieben hatten) und Tausende Menschen getötet. Im Lager Sabra und Schatila in Beirut brachten die Israelis zusammen mit maronitischen Milizionären 1982 ebenfalls Tausende Menschen um. Die Leichen wurden sehr schnell weggeschafft, damit man sie nicht zählen konnte. Sechs Kriege hat Israel mit furchtbaren Bombardements gegen die von ihm selbst eingesperrten Palästinenser im Gazastreifen geführt, auch dabei kamen Tausende ums Leben. Die Aufzählung des Schreckens hier ist sehr unvollständig. Insofern ist es auch unverständlich, wie Grossman ständig von den „zwei Seiten“ in dem Konflikt spricht und die Asymmetrie zwischen Unterdrückern und Unterdrückten, Besatzern und Besetzten völlig übersieht.
Im jüngsten im Gazastreifen noch stattfindenden Krieg steht die Totenzahl bei 28 000 – die Toten unter den Trümmern, die noch nicht geborgen werden konnten, nicht mitgezählt. Israels Politiker haben wahrgemacht, was sie vor ihrem Rachefeldzug angekündigt haben: die „Tiermenschen auszulöschen“ und das Gebiet in eine Steinwüste zu verwandeln. Ein Schriftsteller vom Rang eines David Grossman sollte den Palästinensern keine Moralpredigten halten und „humane Verhaltensformen“ von ihnen fordern. Israels Krieg im Gazastreifen hat die alte Weisheit bestätigt: Wer das Böse mit rächender Gewalt ausrotten will, wird selbst ein Teil des Bösen.
Aber es gibt in Israel noch Menschen wie die Journalistin Amira Hass, die das Massaker der Hamas natürlich nicht rechtfertigt (Massaker kann man nie rechtfertigen, sie sind immer schreckliche Verbrechen), aber historisch richtig einordnet, wenn sie schreibt: „In wenigen Tagen erlebten die Israelis das, was die Palästinenser seit Jahrzehnten routinemäßig erlebten und noch immer erleben – militärische Übergriffe, Tod, Grausamkeit, getötete Kinder, auf der Straße aufgetürmte Leichen, Belagerung, Angst, Sorge um Angehörige, Gefangenschaft, Ziel von Rache sein, wahlloses tödliches Feuer auf Beteiligte (Soldaten) und Unbeteiligte (Zivilisten), eine Position der Unterlegenheit, die Zerstörung von Gebäuden, ruinierte Feiertage oder Feste, Schwäche und Hilflosigkeit angesichts allmächtiger bewaffneter Männer.“ (Haaretz 10.10.2023)
Grossman, David: Frieden ist die einzige Option, Hanser-Verlag München 2024, 10 Euro