Wie ist es möglich, dass jüdische Opfer zu Tätern werden?
Hermann Dierkes über Arn Strohmeyers Buch ”Der Kampf um die Wahrheit. Israels Politik gegenüber den Palästinensern aus Sicht der Psychoanalyse”
Der Bremer Journalist und Autor Arn Strohmeyer hat seine zahlreichen Bücher und Artikel ueber die Unterdrückung der Palästinenser durch das zionistische Israel um eine wichtige Dimension erweitert, nämlich die der psychosozialen Entstehungsbedingungen, ihrer historischen Verlaufsformen und wesentlichen Prägungen von heute. Anhand entscheidender Fragestellungen trägt er die entsprechenden Erkenntnisse und Thesen kritischer jüdischer Wissenschaftler zusammen, systematisiert und kommentiert sie. So vor allem: Wie ist es möglich, dass (ein Teil der Judenheit), nämlich der Mehrheit der israelischen Juden und deren Unterstützer in anderen Ländern trotz jahrhundertelanger Geschichte von Diskriminierung und Unterdrückung und angesichts des Megaverbrechens der Nazis ein anderes Volk – die Palästinenser – berauben, kolonisieren, grausam unterdrücken bzw. dieses Vorgehen befürworten und unterstützen?
Wie war das möglich, wo doch eine große Anzahl jüdischer Reformer und Revolutionäre immer wieder für universale Prinzipien, Emanzipation und humanistische Werte eingetreten war? Wie war es möglich, dass der israelische Mainstream die Täter-Opfer-Rolle umdrehen und die Palästinenser als ”die neuen Nazis” brandmarken konnte und weiterhin tagtäglich als Terroristen und Unmenschen denunziert, die sie angeblich mit einem neuen Holocaust überziehen wollen? Warum wird jeder Konflikt mit den Palästinensern (und ihrem legitimen Widerstand), aber auch die Solidarität mit ihnen, als ”Fortsetzung antisemitischer Vernichtungsanstrengungen” hingestellt?
Warum wurden und werden Versuche, einen friedlichen Ausgleich herbeizuführen, als ”Kapitulation” vor den ”neuen Nazis” verunglimpft, ausgegrenzt und Exponenten ermordet, wie der fruehere Ministerpräsident Itzhak Rabin? Warum wird die erdrückende militärische Überlegenheit der israelischen Armee ständig ausgebaut, immer wieder eingesetzt und stets mit ”Selbstverteidigung” gerechtfertigt? Warum findet sich die israelische Außenpolitik ständig an der Seite von rechten und rassistischen Regimes? Welche psychologischen Auswirkungen hat die israelische Mainstream-Politik auf die eigene Bevölkerung (Verlust jeder Empathie mit den Leiden anderer, Brutalisierung, wachsende Gewaltbereitschaft) usw.?
Arn Strohmeyer gelingt es, wesentliche Forschungsergebnisse und Thesen zeitgenössischer jüdischer und israelischer Psychologen, Historiker und Sozialwissenschaftler, darunter Benjamin Beit-Hallahmi, Judith Butler, Dan Diner, Ruchama Marton und Moshe Zuckermann, bündig zu präsentieren. Diese versuchen, den ”Nahostkonflikt” unter Rückgriff und in Erweiterung der Freudschen Individualanalyse (Ängste, psychische Antriebe und Verdrängungen) auf große Kollektive (Staaten und Nationen) zu erklären und aufzuhellen. Sie bieten – kollektive - therapeutische, bewusstseinsverändernde und praktische Lösungsperspektiven, wenn Politik sie sich zu eigen macht. Das Buch endet mit einer Betrachtung des deutsch-israelischen Verhältnisses aus psychoanalytischer Sicht. Wieder einmal eine sehr empfehlenswerte Schrift von Arn Strohmeyer!
Gabriele Schäfer Verlag Herne 2019, 217 Seiten, ISBN 978-3-944487-70-0; 17,80 €