Die Neuauflage des Buches des Politologen Bernd Greiner Was die USA seit 1945 in der Welt angerichtet haben hätte zu keinem besseren Zeitpunkt erscheinen können. Es passt genau in die gegenwärtige politische Situation. Der Titel beschreibt, worum es geht: die Macht- und Militärpolitik der USA mit ihren verheerenden, oft verhängnisvollen Folgen für viele Staaten, ja ganze Kontinente. Auf Geheiß dieser einzig verbliebenen Supermacht ist die NATO bis an die westlichen Grenzen Russlands vorgerückt und will sich auch in der Ukraine militärisch festsetzen – alles im Namen der westlichen Werte natürlich.
US-Präsident Joe Biden wiederholt immer wieder, was das bedeutet: Der Westen befindet sich in einem Ausscheidungskampf zwischen Demokratie und Autokratie, also – so muss man das verstehen – zwischen Schwarz und Weiß, zwischen Gut und Böse. Die Aussage des Präsidenten ist klar: Wer unsere Vorherrschaft als einzige Super- und Ordnungsmacht auf der Welt stört, dem werden wir zeigen, was es heißt, sich mit uns anzulegen.
Das ist ein Bekenntnis zu nichts anderem als zu einem neuen Kalten Krieg. Die „grüne“ Außenministerin der neuen deutschen Regierung, Annalena Baerbock, vertritt genau dieses Konzept, nennt es eine „Werte-orientierte“ Außenpolitik. Das klingt nicht ganz so aggressiv wie Kalter Krieg, meint in der Sache aber genau dasselbe. Man muss fragen: Sind die grünen außenpolitischen Strategen wirklich so naiv zu glauben, dass sie Russland und China mit ihrem westliches Wertekonzept beeindrucken können?
Die außenpolitische Erfahrung lehrt doch, dass eine solche aggressive Politik genau das Gegenteil der beabsichtigten Wirkung auf der Gegenseite hervorruft: eine Stärkung der Fraktion der Hardliner und eine Verhärtung der Fronten. Was Russland betrifft: Schon Bismarck hatte erkannt, dass Deutsche und Russen sich vertragen müssen, soll in Europa Frieden herrschen. Zwei Weltkriege im letzten Jahrhundert haben die Richtigkeit dieser goldene Regel bestätigt, aber bei den deutschen Grünen ist diese Erkenntnis offensichtlich noch nicht angekommen.
Bernd Greiner legt in seinem Buch die Grundlagen der amerikanischen Außenpolitik dar und damit auch die Gefahren, die sich für Deutschland und Europa daraus ergeben:
„Erstens: Vorherrschaft ist unverzichtbar. Stabilität gibt es nur auf der Grundlage amerikanischen Übergewichts und unter der Voraussetzung, dass die USA mehr auf die Waage bringen als Störenfriede oder ernsthafte Konkurrenten; Sicherheit basiert auf militärischer Dominanz und wird in erster Linie mit militärischen Mitteln hergestellt.
Zweitens: Eine Ordnungsmacht muss ihren Willen zur Gewalt demonstrieren, andernfalls entgleitet ihr die Ordnung. Wirksame Außenpolitik kann nur betreiben, wer das Handwerk der Einschüchterung, Nötigung und Erpressung beherrscht und den Rest der Welt von seiner Bereitschaft zum Risiko überzeugt – das Wagnis eines Einsatzes von Nuklearwaffen eingeschlossen.
Drittens: Macht beruht auf Angst. Oder auf dem Wissen von Opponenten, im Fall eines militärischen Kräftemessens nicht mithalten zu können. Also bleibt der Frieden gewahrt, solange andere mehr Angst vor dem Krieg haben als man selbst. Und weil Amerika von der Unsicherheit derer zehrt, die seine Interessen nicht teilen, gehört die Inszenierung von Unberechenbarkeit zur hohen Kunst der Diplomatie.“
Greiner betont immer wieder, wie gefährlich eine Politik wie die amerikanische ist, die stur und so gut wie ausschließlich auf das Militärische fixiert ist. Also letzten Endes auf Misstrauen beruht und so das Gegenteil des Beabsichtigten oder Angestrebten bewirkt, nämlich anstatt absolute Sicherheit zu schaffen absolute Unsicherheit erzeugt. Der Autor benutzt für ein solches „Sicherheits“-Konzept das anschauliche Bild: dass prall gefüllte Pulverfässer am besten vor Explosionen schützen. Anders gesagt: Es ist eine Illusion zu glauben, dass man mit einer immer größeren Anhäufung von Kriegsgerät Frieden schaffen kann.
Amerikas politisches Weltbild stellt sich nicht dadurch freundlicher und versöhnlicher dar, dass es auf religiösen Fundamenten beruht. Ganz im Gegenteil. Die USA unterstreichen und legitimieren ihre Sonderstellung damit, die „größte“ Nation auf der Erde und aller Zeiten zu sein, weil Gottes Gnade es so eingerichtet hat. Sie leiten daraus ihre Sendung als „Erlösermission“ ab: dass Gott ihnen den Auftrag zur Verteidigung der Freiheit – also des Guten gegen das Böse – gegeben habe. Dieser Auserwähltheitsgauben führt zu der Hybris anzunehmen, dass ein Scheitern dieses göttlichen Auftrages eine Versündigung an Gott wäre und den ganzen Schöpfungsplan zum Einsturz bringen würde. Amerika leitet aus diesem Glauben seinen Anspruch ab, als globale Ordnungsmacht aufzutreten und auch militärisch dafür zu sorgen, dass sich „die Macht des Lichts gegen die Kräfte der Finsternis durchsetzen“ können.
Greiner beschreibt, welche Gefahren dieser engstirnige und ins Metaphysische aufgeblähte Nationalismus, der nur das Eigeninteresse kennt, für den Rest der Welt bedeutet: „Die USA dürfen sich bei der Durchsetzung ihrer Interessen alle Freiheiten nehmen und sind frei von der Verantwortung für die Folgen ihres Handelns aufzukommen. In diesem Sinne kann man Rücksichtslosigkeit oder die Gewinnmaximierung auf Kosten Dritter als Signatur amerikanischer Weltpolitik bezeichnen. Ein schonender Umgang ist jenen Partnern und Verbündeten vorbehalten, die als politische oder militärische Brückenköpfe nützlich sind. Der Rest hat das Nachsehen und muss die Konsequenzen tragen. Das Prinzip der Gegenseitigkeit und des Angewiesenseins auf Dritte kommt in diesem Weltbild nicht vor.“
In Parenthese sei gesagt (Greiner geht darauf nicht ein), dass das hier über die USA Gesagte fast vollständig auch für Israel zutrifft. Sicherheit beruht für diesen Staat ausschließlich auf seiner militärischen Stärke und damit auf der Erzeugung von Angst. Kompromisse – etwa mit den Palästinensern – werden nicht eingegangen. Ariel Sharon hat das direkt immer wieder betont: „Sie [unsere Gegner] müssen Angst vor uns haben.“ Das Weltbild der Zionisten, obwohl säkular, leitet sich auch aus dem religiös begründeten Auserwählheitsglauben ab. Israel ist deswegen politisch und militärisch alles erlaubt und braucht auch keine Verantwortung für sein Handeln übernehmen.
Der Autor geht ausführlich auf die Verheerungen ein, die die amerikanische Politik der Stärke seit 1945 auf dem Globus angerichtet hat. Es reicht, die Namen der Staaten zu nennen, die mit dem amerikanischen Dominanzanspruch ihre furchtbaren Erfahrungen machen mussten: der Iran, Guatemala, Vietnam, Indonesien, Kuba, Chile, Nicaragua und der Irak – die Liste lässt sich beliebig verlängern. Es ging dabei immer um die Durchsetzung der amerikanischen Dominanz und um wirtschaftliche Vorteile. Der amerikanische General J.H. Doolittle hat es einmal so formuliert, dass die bislang akzeptierten Normen menschlichen Verhaltens für Amerikas Vorgehen keine Rolle spielten. Man müsse eben lernen, die Feinde durch Methoden zu unterwandern, zu sabotieren und zu zerstören, die klüger raffinierter und effektiver seien als die gegen Amerika angewandten.
Greiner bringt ein Beispiel, wie der amerikanische Furor wüten kann, wenn er einmal entfesselt ist. US-Präsident Nixon geiferte 1971 und 1972 mit folgender Hassrede gegen Nordvietnam (Ausschnitte): „Wir werden Nordvietnam die Seele aus dem Leib bomben. (…) Was auch immer mit Südvietnam geschieht, wir werden Nordvietnam wegputzen. (…) Wir werden nicht mit einem Wimmern da rausgehen. Wir werden ihnen verdammt nochmal alles um die Ohren hauen. (…) Lasst dieses Land in Flammen aufgehen. (…) Einfach die verdammte Scheiße aus dem Land rausbomben. (…) Einfach drei Monate die Scheiße aus ihnen herausprügeln. (…) Macht Kleinholz aus ihnen. (…) Wir müssen alles treffen, was sich bewegt. (…) Man muss die Bastarde einfach – einfach pulverisieren. Ich will, dass Nordvietnam zu Klump bombardiert wird. (…)“
Greiner spricht es nicht ständig an, aber diese Schlussfolgerung ergibt sich aus seiner Darstellung der amerikanischen Politik ganz automatisch: Moral und Werte, Völkerrecht und Menschenrechte haben bei den US-Interventionen in anderen Staaten nie eine Rolle gespielt. Die Werte, die die Amerikaner predigen, sind rhetorische Leerformeln. Die Richtung, die Washington vorgibt, besteht vorrangig aus dem Bestreben, „dass der Rest der Welt sich die Idee eines neoliberalen, von staatlichen Vorgaben befreiten Welthandels zueigen macht und die Forderung nach sozialer Gleichberechtigung aus dem Katalog schützenswerter Menschenrechte streicht“, so der Autor.
Bedenkt man die Abhängigkeit der deutschen Politik von den Leitlinien aus Washington (man denke nur an das US-Diktat, Nord-Stream 2 aufzugeben), dann verwundert die Naivität oder Skrupellosigkeit (wie man will) der deutschen Grünen und besonders ihrer Außenministerin, sich mit den amerikanischen Wertevorgaben vollständig zu identifizieren und zu glauben, damit auf der internationalen Bühne irgendetwas erreichen zu können. Der Westen unter der Führung der USA tritt die von ihm verkündeten Werte – Völkerrecht und Menschenrechte – selbst permanent mit Füßen. Man denke nur an Israels Politik gegenüber den Palästinensern, die von Washington mitgetragen wird, oder an das Vorgehen gegen sogenannte „Schurkenstaaten“ wie Iran oder Syrien, die mit Sanktionen so stranguliert werden, dass der Zusammenbruch der Wirtschaft dort die Menschen zu einem Hungerdasein verurteilt. Wobei der Begriff „Schurken“ immer relativ ist. Der frühere US-Präsident Reagan hat sich über Tyrannen, die Amerika gegenüber wohlgesonnen sind, einmal so geäußert: „Natürlich sind das Gangster, aber es sind unsere Gangster.“
Greiner analysiert und deckt nicht nur auf, er stellt der amerikanischen Weltbeherrschungspolitik ein Friedensmodell gegenüber, das im Wesentlichen auf der Entspannungspolitik von Willy Brandt und Egon Bahr, aber auch von Olof Palme und Bruno Kreisky beruht. Ihr liegt die Einsicht zu Grunde, dass Sicherheit nicht allein auf militärischer Stärke beruhen darf. Sicherheit kann es nur geben, wenn das entscheidende Prinzip die gemeinsame Sicherheit ist. Soll heißen: Jede Seite muss vor allem auch das Sicherheitsbedürfnis der anderen Seite mitberücksichtigen und mittragen. Der Autor schreibt: „Sicherheit gibt es – so gesehen – nicht mehr voreinander, sondern nur noch miteinander, die Sicherheit des Gegners ist Teil der eigenen Sicherheit. Alle verlieren zusammen, wenn sie nicht gemeinsam gewinnen wollen.“
Die NATO unter Führung der USA tut genau das Gegenteil eines friedlichen Aufeinanderzugehens. Sie denkt gar nicht daran, auf das russische Sicherheitsbedürfnis einzugehen. Ganz im Gegenteil: Sie platzieren ihre Streikkräfte unmittelbar vor der russischen Grenze, was verständlicherweise von den Russen als Bedrohung aufgefasst wird. Man stelle sich vor, was passieren würde, wenn die Russen militärische Basen in Kanada und Mexiko an der Grenze zu den USA postieren würden! Greiner merkt an, dass die Doppelstrategie der NATO mit ihrer Konzeption eines Nebeneinanders von militärischer Abschreckung und politischer Entspannung widersprüchlich und absurd sei, weil man das eine nicht wollen könne, ohne das andere zu ruinieren. Rüstung beruhe immer auf Misstrauen und deshalb untergrabe sie das Fundament jeder Friedenspolitik.
Bernd Greiner hat ein sehr wichtiges Buch geschrieben. In einer Zeit chaotischer Begriffsverwirrung entlarvt er die Sprache und Ideologie der eigensüchtigen und gewalttätigen US-Macht und bring Klarheit in den politischen Diskurs. Krieg und Gewalt – aus was für Motiven auch immer – dürfen nicht mehr die ultima ratio sein. Werte wie Frieden, Sicherheit, Freiheit und Menschenrechte werden von ihm eindeutig definiert und in die Zusammenhänge einer human verstandenen Politik eingeordnet. Dieses Buch sollte Pflichtlektüre für alle mit Außenpolitik Befassten sein. Große Hoffnung auf eine friedliche Zukunft kann der Autor aber nicht machen. Denn es gilt immer noch, was der frühere US-Präsident Jimmy Carter einmal angemerkt hat: „Die USA sind die kriegerischste Nation in der Geschichte der Welt, weil wir andere Länder zwingen wollen, unsere amerikanischen Prinzipien zu übernehmen.“ Und nichts deutet auf eine Abkehr von einer so verstandenen Politik hin.
Bernd Greiner: Was die USA seit 1945 in der Welt angerichtet haben, C.H. Beck-Verlag München, ISBN 978 3 406 77744 8, 16,95 Euro