„Die Besatzungspolitik ist eine Schande für das Judentum“

Der israelische Friedensaktivist Reuven Moskowitz im Interview mit Arn Strohmeyer

Israel und die Palästinenser verhandeln unter amerikanischer Leitung gerade wieder über ein Friedensabkommen. Gibt es wirklich realistische Chancen für Frieden zwischen den beiden Kontrahenten?

Absolut nein. Das ist ein seit Jahren unanständiges Spiel. Ich kann nicht verstehen, dass die Amerikaner sich eine solche Erniedrigung von den Israelis gefallen lassen. Kerry ist schon elf Mal nach Israel gekommen. Ist er ein Lakai von Netanjahu? Denn so benimmt er sich. Die Regierung Netanjahu verlässt sich auf die Unterstützung der Medien in Amerika, auf die AIPAC und die Evangelikalen. Die haben sehr viel Macht. Aber wahr ist: Der Krieg in Palästina dauert schon 130 Jahre, länger als der dreißigjährige Krieg. Dieser Krieg und die Besatzungspolitik sind eine Schande für das Judentum.

Gibt es denn die geringste Friedensbreitschaft der Regierung Netanjahu?

Absolut nein. Weder Netanjahu noch Barak sind zu Zugeständnissen bereit. Das ganze Gerede von Frieden ist reine Augenwischerei. Die Nichtbereitschaft zum Frieden geht auf den Zionistenführer und ersten israelischen Ministerpräsidenten Ben Gurion zurück, der immer sagte: „Wir werden einen Staat schaffen, aber die Teilung des Landes nur vorübergehend akzeptieren.“ Denn es ging ihm nicht um einen Staat in Palästina, sondern er strebte an, dass ganz Palästina ein jüdischer Staat wird. Dieses Ziel ist auch heute noch gültig. Die Schaffung eines palästinensischen Staates hat Israel immer hintertrieben. Um ihn zu schaffen, ist starker Druck nötig.

Wie muss ein gerechter Frieden aussehen?

Es muss endlich wirkliche Gerechtigkeit geben. Wir haben doch jetzt eine Situation, dass ein Volk, das einmal in ganz Palästina gelebt hat, jetzt zusammengepfercht in der Westbank und im Gazastreifen leben muss. Und dann gibt es noch die anderthalb Millionen Palästinenser in Israel. Denen geht es zwar besser als den anderen, aber sie werden in vielerlei Hinsicht diskriminiert und verachtet. Sie dürfen kein Land kaufen, sie dürfen zwar wählen, aber wenn sie gewählt sind, dürfen sie sich nicht an Koalitionen beteiligen. Studenten dürfen viele Fächer nicht studieren usw. usw. Das sind unmögliche Zustände. Deshalb müssen die UNO und die demokratischen Staaten den Schwerpunkt ihrer Politik ändern. Die Amerikaner haben große Schlappen in Irak, in Afghanistan und bei uns erlitten. Jetzt ist die Zeit Europas und vor allem Deutschlands gekommen. Deutschland sollte sich aktiv im Nahen Osten einmischen und Druck auf Israel ausüben: freundlich aber sehr bestimmt!

Die meisten Palästinenser sind nicht nur vertrieben worden, man hat ihnen auch ihr ganzes Eigentum weggenommen. Wie soll da Gerechtigkeit geschaffen werden?

Für die Israelis ist es selbstverständlich: Alles, was man den Palästinensern geraubt hat, gehört uns! Das ist Doppelzüngigkeit und eine doppelte Moral: Was man den Juden in Europa gestohlen hat – etwa Vermögen und Kunstwerke – , das muss unbedingt zurückgegeben werden – nicht an die rechtmäßigen Besitzer, sondern an den israelischen Staat. Was die Israelis den Palästinensern gestohlen haben, soll aber ewig unser Besitz bleiben. Das geht so nicht. Israel muss Entschädigungen zahlen. Man muss sich da auf Kompromisse einigen, denn sonst ginge es um Milliarden von Dollar oder Euro. Aber Israel muss – wenn auch nur symbolisch – Wiedergutmachung zahlen.

Inzwischen gibt es ja auch viele Israelis, die sagen, dass die gegenwärtige Politik die Zukunft des Staates Israel gefährdet.

Die schrecklichsten Kriege der Geschichte sind durch Monopole entstanden. Es ist doch eine Illusion zu glauben, dass Israel durch sein Monopol an ABC-Waffen langfristig weiter die einzige Supermacht des Nahen Ostens sein kann, wenn auch als Teil der NATO. Mit diesem Hochmut und dieser Arroganz kann man kein Teil der zivilisierten Welt sein, in der das Völkerrecht gilt und in der man sich sicher fühlt. Diese Politik ist sehr gefährlich. Man muss ein neues Paradigma, ein neues Narrativ entwickeln. Wenn Israel nur nach dem Prinzip handelt „Uns ist alles erlaubt!“, dann verstößt das gegen die Prinzipien einer zivilisierten Gesellschaft. Es ist Piraterie, wenn man in internationalen Gewässern Schiffe kapert. So handelt nur eine Gesellschaft ohne Gesetze und ohne Grenzen. Unsere Grenzen sind da, wo unsere Soldaten stehen, das ist doch reine Überheblichkeit. Israelische Kampfflugzeuge fliegen über Auschwitz in Polen, um zu demonstrieren: „Wenn da etwas gegen uns passiert, sind wir da!“ Das ist unmöglich in einer zivilisierten Welt, in der Gesetze gelten sollten. Es ist unmöglich, dass eine Führung wie die unsere sagt: „Wir machen alles, was für uns wichtig ist. Der Rest interessiert uns nicht! Wir pfeifen auf die ganze Welt, weil die uns im Zweiten Weltkrieg nicht gerettet hat!“ Das ist überhaupt kein Argument. Wenn Hitler extrem böse war, müssen wir nicht dasselbe machen und die Rechte des palästinensischen Volkes völlig ignorieren. Das Völkerrecht und die Menschenrechte dürfen doch nicht nur ein Lippenbekenntnis sein.

Was ist Deutschlands Rolle bei der Lösung der Probleme?

Es muss unbedingt mitwirken. Es kann doch nicht sein, dass das stärkste Land in Europa nur reflexartig nach dem Mund der israelischen Machthaber reagiert. Der frühere Außenminister Joschka Fischer hat gemeint, Israel hat doch Gaza geräumt. Das ist doch ein Skandal! Israel hat dort alles zerstört und ein Machtvakuum geschaffen, das die Hamas füllen musste.

Wie ist die Stimmung in der israelischen Bevölkerung? Ist sie für Frieden?

Die meisten Israelis sind von den Gefühlen der Überlegenheit, des Hochmuts und der Arroganz kontaminiert. Sie sagen: „Warum brauchen wir Frieden?“ Den meisten Israelis geht es gut, obwohl es Teuerungen gibt. Die Preise sind um 25 Prozent höher als in Deutschland. Es gibt wohl kaum einen Israeli, der von Netanjahu ein gebrauchtes Auto kaufen würde. Aber die Leute sagen: „Der ist schlau, der kann gut lügen und kann alles verdrehen. Warum brauchen wir Frieden? Wenn es zum Frieden kommt, müssten wir auf vieles verzichten und vieles zurückgeben.“ Das wollen die meisten nicht.

Was halten Sie von der Lieferung der deutschen U-Boote an Israel, die dann dort mit atomaren Mittelstreckenraketen ausgerüstet werden?

Das ist ein großes Verbrechen, solche U-Boote in die Hände von Leuten zu geben, die reine Kriegstreiber sind. Netanjahu wollte den Iran angreifen. Gott sei Dank hat Obama das verhindert. Wie kann man solche Waffen in die Hände von solchen Leuten geben, die so unverantwortlich handeln?

Wird Israel vom Iran bedroht?

Das iranische Regime ist ein Anachronismus, aber ich hoffe, es wird sich weiter liberalisieren. Das Problem ist doch: Warum kommt man nicht auf die Idee, wenn denn die Lage so gefährlich ist, zu sagen: Wir wollen einen atomwaffenfreien Nahen Osten. Aber dass man den Iran als Faktor im Nahen Osten ausschaltet und Israel das Monopol auf ABC-Waffen behält, das ist unvorstellbar.

Sind sie für Boykottaktionen gegen Israel?

Ich bin da zurückhaltend. Auf die Weise, wie Israel Politik betreibt, hat es das eigentlich verdient. Aber unsere Politiker schrecken nicht vor den unanständigsten Manipulationen zurück. Sie werden dann die Karte spielen: „Aha, da sind wieder die Antisemiten am Werk!“ Es ist unverschämt, Waren aus den besetzten Gebieten unter dem Label „Made in Israel“ nach Deutschland zu schicken, obwohl Deutschland sich weigert, die Siedlungen in den besetzten Gebieten anzuerkennen. Das ist Betrug. Es spielt aber wieder in die Hände dieser raffinierten Lüge, die da heißt: „Jetzt ruft man wieder dazu auf, nicht bei Juden zu kaufen!“