Das zynische Angebot

Israel will im Libanon Katastrophen-Hilfe leisten

Wenn es irgendwo in der Welt zu Katstrophen kommt, ist Israel stets einer der ersten Staaten, der Hilfe leisten will. So auch jetzt nach der furchtbaren Explosion im Hafen von Beirut. Benjamin Netanjahu machte umgehend ein Hilfsangebot – und das Rathaus von Tel Aviv wurde in einem Lichtspektakel gleich mit den Flaggenfarben des Nachbarstaates angestrahlt. Die westlichen Medien verbreiteten schnell, dass das kleine Israel dem eigentlich verfeindeten Zedernstaat beistehen will. Eine großzügige und selbstlose Geste soll die Welt wohl denken…

Bei näherem Hinsehen entpuppt sich die selbstlose Hilfsbereitschaft als blanker Zynismus. Denn der zionistische Staat hat im Laufe seiner Geschichte unendliches Leid über den Zedernstaat gebracht. Schon gleich nach der Gründung Israels 1948 planten die Zionisten, den Libanon zu erobern und ein ihnen freundlich gesinntes christlich-maronitisches Regime dort einzusetzen, also einen zionistischen Vasallenstaat zu schaffen. Israel bezweckte mit diesem Vorhaben auch, den Libanon aus dem arabischen Lager herauszulösen. Die Idee dazu kam von Ben Gurion und Moshe Dajan.

Der Plan beinhaltete auch einen Gebietsgewinn: Israel wollte das Gebiet südlich des Litani-Flusses für sich behalten. Der damalige Außenminister Moshe Sharett widersetzte sich diesen Plänen mit aller Vehemenz und warnte vor den unabsehbaren Folgen eines solchen militärischen Unternehmens. (Nachzulesen ist das alles in seinen Tagebüchern.) Die Realisierung des Überfalls auf den Libanon wurde durch ein anderes kriegerisches Projekt verhindert, auf das Israel sich zusammen mit Großbritannien und Frankreich damals vorbereitete: den Suezkrieg von 1956, bei dem diese drei Staaten Ägypten überfielen mit dem Ziel, Nasser zu stürzen und die Verstaatlichung des Suezkanals zu verhindern – und Israel den Besitz des Sinai zu sichern.

Ende der 70er Jahre mischte sich Israel auf maronitischer Seite in den libanesischen Bürgerkrieg ein. 1982 marschierten seine Truppen dann unter Führung von Ariel Sharon wieder in den Nachbarstaat ein, um die PLO zu vernichten, die sich nach ihrer Vertreibung aus Jordanien im Südlibanon festgesetzt hatte. Bei dieser Gelegenheit führten die Israelis im schiitischen Teil des Landes ein so brutales Regiment, dass die Folge die Entstehung der Hisbollah war, die den zionistischen Invasoren Widerstand leisteten und Israels Todfeind bis heute sind. Außerdem legten die Israelis große Teile Beiruts, in der sie PLO-Stellungen vermuteten, einschließlich des Flughafens in Schutt und Asche. Und sie leisteten mit ihrer militärischen Infrastruktur Beihilfe, dass die verbündeten maronitischen Milizen in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Shatila Tausende Menschen umbringen konnten.

Im Jahr 2006 fielen die Israelis erneut über den Libanon her, dieses Mal war die Vernichtung der Hisbollah das Ziel. Sie richteten wieder furchtbare Verwüstungen an. Nach dem von ihnen völlig zerstörten Beiruter Vorort Dahiya, in dem sich Hisbollah-Truppen verschanzt hatten, benannte Israel seine neue Militär-Strategie, die nach Aussagen des israelischen Generals Gadi Eisenkott besagt: „Das, was in Dahiya im Jahr 2006 geschah, wird in jedem Dorf geschehen, von dem aus Israel beschossen wird. Wir werden unverhältnismäßige Gewalt anwenden und große Zerstörungen anrichten. Nach unserer Meinung handelt es sich dabei nicht um zivile Dörfer, sondern um Militärbasen. Die ist keine Empfehlung, dies ist ein Plan, und er hat seine Bewährungsprobe bestanden.“

Das heißt im Klartext, dass Israel sich an ein wichtiges Gebot des Völkerrechts nicht mehr hält: die Schonung der Zivilbevölkerung im Kriegsfall. Diese schweren Verletzungen des Völkerrechts bedeuten juristisch ausgedrückt: Die Dahiya-Doktrin verletzt zwei Grundprinzipien des humanitären Völkerrechts: Das Unterscheidungsprinzip und das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Das Unterscheidungsprinzip, das in den vier Genfer Konventionen von 1949 und in zweien ihrer Zusatzprotokolle niedergelegt ist, besteht aus einer verbindlichen Regel: Zivilisten dürfen von Armeen nicht angegriffen werden. Im Gegenteil: Sie müssen geschützt werden. Gewalt gegen Leben und Personen ist streng verboten, ebenso wie ‚Handlungen, die gegen die persönliche Würde gerichtet sind.‘“

Und: „Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit (Proportionalität), das auch in den Protokollen zur Vierten Genfer Konvention von 1977 niedergelegt ist, sieht es als Kriegsverbrechen an, wenn absichtlich ein militärisches Objekt angegriffen wird, obwohl man weiß, dass die Anzahl der Zivilisten, die dabei verletzt werden, in Beziehung zum erwarteten militärischen Vorteil unverhältnismäßig hoch sein wird. ‚Die Anwesenheit von Personen innerhalb der Zivilbevölkerung, die nicht wirkliche Zivilisten sind‘, sagt Artikel 50 (3) des Protokolls Nr. 1, ‚beraubt die Bevölkerung als Ganzes nicht ihres zivilen Charakters.‘“

2006 stießen die israelischen Truppen aber auf den erbitterten Widerstand des Gegners, den sie selbst geschaffen hatten: der Hisbollah. Diese setzte den israelischen Invasoren so zu, dass sie das Land verlassen mussten. Noch immer hält Israel aber ein libanesisches Gebiet – die Shebaa-Farmen – im Süden des Landes besetzt.

Gute Voraussetzungen also für gute Nachbarschaft und freundschaftliche Hilfeleistungen. Anstatt aber der Welt Sand in die Augen zu streuen über die Humanität der Zionisten, sollten diese sich erst einmal im eigenen Herrschaftsbereich human betätigen: die grausame Besatzung über die Palästinenser beenden und damit auch die Unterdrückung und das Elend der Menschen im Westjordanland und im Gazastreifen. Diese Geste würde die Welt verstehen und auch zu würdigen wissen. Das Hilfsangebot an den Libanon ist – es sei noch einmal betont – blanker Zynismus.

6.08.2020