Der chinesische Weise Konfuzius (551 – 479 v.u.Z.) hat, als eine große Krise in seinem Land herrschte, gesagt, dass man, um die Dinge wieder zu ordnen, erst einmal die Begriffe neu und richtig definieren müsse. So etwas schwebte offenbar auch der Redaktion des SPIEGEL vor, denn das Magazin versucht in seiner letzten Ausgabe (Nr. 12) auf zwei Seiten, die Begriffe, die mit Israel und dem Krieg im Gazastreifen wichtig sind, zu erklären. An sich eine löbliche Absicht, wenn sie nicht so unbefriedigend ausgefallen wäre. Denn die dort gelieferten Definitionen spiegeln lediglich sehr einseitig das deutsche Israel-Narrativ wider. Und das ist ja hinlänglich bekannt.
Bei Stichwort Antisemitismus findet sich einiges Richtige, es fehlt aber der von der israelischen Politik selbst geschaffene Antisemitismusbegriff, den Israel beliebig instrumentalisiert und einsetzt, um sich vor jeder Kritik an seiner völkerrechts- und menschenrechtswidrigen Politik gegenüber den Palästinensern zu schützen. Die deutsche Politik hat diesen Begriff übernommen und kann damit jeden kritischen Diskurs über Israels Apartheidpolitik abwürgen – zum Schaden der freien Meinungsäußerung in diesem Land.
Das Begriffspaar Terroristischer Angriff / Bewaffneter Widerstand wird benutzt, um der amerikanisch-jüdischen Philosophin Judith Butler Antisemitismus zu unterstellen, denn sie habe die Hamas-Attacke vom 7. Oktober als „Akt des Widerstandes“ bezeichnet und damit offenbar für legitim gehalten. Nun kann man diese Äußerung der Philosophin nur richtig im Zusammenhang mit ihrer Forderung verstehen, den Hamas-Angriff in den Gesamtkontext des Konfliktes Israels mit den Palästinensern einzuordnen, wobei man dann eben auch auf die schon über 100 Jahre andauernde zionistische Gewalt gegen die Palästinenser eingehen müsste. Darüber schweigt der SPIEGEL aber, es gibt offenbar in diesem Konflikt nur die Gewalt der Hamas. Über die Gründe, warum die Gewalt so eskaliert ist, auch kein Wort.
Dann hätte man ja darauf eingehen müssen, dass die Bewohner des Gazastreifens seit 17 Jahren durch eine israelische Totalblockade von der Außenwelt völlig abgeschnitten und damit zu einem Elendsdasein verurteilt sind. Und dass Israel zudem in mehreren Kriegen Tausende Bewohner des Streifens umgebracht und außerdem seine politischen Führer regelmäßig liquidiert hat. Dass ein solches Vorgehen zu Wut, Verzweiflung, Frustration und Hoffnungslosigkeit führt, die sich irgendwann in einer Explosion entladen muss, versteht sich von selbst. Und Judith Butler hat immer wieder darauf hingewiesen, dass Verstehen nicht Billigen heißt. Aber das sind Überlegungen und Argumente, die SPIEGEL-Redakteuren offenbar fremd sind. Auch davon, dass Widerstand gegen Besatzungssysteme nach dem Völkerrecht erlaubt ist, kein Wort.
Die Parole „From the river to the sea – Palestine will be free!” wird angeführt, um der Palästina-Bewegung, die sie bei ihren Demonstrationen benutzt, Antisemitismus zu unterstellen. Als Zeugen für diese Behauptung werden dann die zionistischen Lobby-Organisationen American Jewish Committee und die Anti-Defamation- League angeführt – nicht gerade seriöse Zeugen. Dann wird auch noch unrichtig aus der Hamas Charta aus dem Jahr 2017 zitiert. Die Hamas halte am Ziel der Zerstörung Israels fest, heißt es im SPIEGEL.
Die Nahost-Wissenschaftlerin Muriel Asseburg schreibt über die Charta von 2017: „Das Dokument enthielt [gegenüber der früheren Charta] wichtige Akzentverschiebungen. So verortete sich die Organisation im ‚nationalen (palästinensischen) Konsens‘ dadurch, dass sie einen palästinensischen Staat in den Grenzen von 1967 zumindest als Interimsschritt akzeptierte. Gleichzeitig war nicht länger von der Zerstörung Israels die Rede und der israelisch-palästinensische Konflikt wurde nicht mehr als religiöse Auseinandersetzung interpretiert. Die Hamas, so hielt das Dokument fest, sei nicht judenfeindlich gesinnt, sondern lehne lediglich Zionismus und Besatzung ab. Darüber hinaus erkannte sie die PLO als ‚nationalen Rahmen des palästinensischen Volkes‘ sowie die Rolle der PA [Palästinensische Autonomiebehörde] an – auch wenn sie die Oslo-Abkommen, aus der die PA hervorgegangen war, auf Basis einer völkerrechtlichen Argumentation ablehnte.“ Muriel Asseburg fügt hinzu, dass sich die Hamas auch nach 2017 immer wieder zu einem souveränen Staat in den 1967 besetzten Gebieten bekannt habe.
Die Zwei-Staaten-Lösung hatte die Hamas auch im Wahlkampf von 2006 propagiert, allerdings unter der Bedingung, dass die Palästinenser in einem Referendum einem Staat aus Westjordanland und Gazastreifen zustimmen müssten. Die Hamas hat die Wahlen damals gewonnen, aber Israel und den Westen hat das nicht interessiert. Die Palästinenser wurden im Gazastreifen zur Strafe hinter hohen Zäunen eingesperrt. Was die Parole „From the river to he sea…“ angeht, so ist ihr Inhalt offizielle israelische Politik. Der israelische Regierungschef Netanjahu betont ständig, dass das Land zwischen Fluss und Meer ausschließlich Israel gehört – zum größten Teil durch Landraub gestohlenes Land. Warum dürfen die Palästinenser nicht auch einen Anspruch auf ihr eigenes Land erheben?
Zum Begriff Zionismus fällt dem SPIEGEL-Autor viel Edles ein: Dass diese Ideologie das hohe Ideal hatte, einen Staat für die Juden zu schaffen – mit einem neuen Menschentyp, dem „neuen Juden“, der sich von den verachteten Diaspora-Juden absetzen sollte. Ein „wahrhaft heroisches Unternehmen!“ Die Zionisten hätten diesen Traum verwirklicht, aber die alten Ideale seien zersplittert wie die heutige israelische Gesellschaft. Da deutet sich Kritik an, wird aber nicht ausgeführt. Wenn man schon über den Zionismus spricht, hätte man ehrlicherweise ja auch ausführen müssen, dass die Zionisten ihren Staat nur mit militärischer Gewalt, Landraub und Unterdrückung auf dem Rücken eines anderen Volkes schaffen konnten. Auch heute noch wird das zionistische Projekt – siehe den Siedlungsbau im Westjordanland – mit Gewalt erweitert. Und in Israel werden die Forderungen immer lauter, dass auch im jetzt eroberten Gazastreifen das zionistische Siedlungswerk fortgesetzt werden soll. Im SPIEGEL kein Wort davon. Wie überhaupt im ganzen Text des Magazins die Begriffe Besatzung, Unterdrückung, Diskriminierung, Landraub usw. gar nicht oder nur am Rande vorkommen.
Apartheid wird richtig definiert, für Israel aber zugleich in Frage gestellt. Apartheid, so die Argumentation, kann es in Israel nicht geben, weil es eine Demokratie ist mit garantierten Rechten für ethnische und religiöse Minderheiten. Israel müsse aber aus seiner Bedrohungslage heraus Sicherheit für die eigene Bevölkerung schaffen. Mit diesem Argument soll offenbar der Apartheidvorwurf entkräftet werden. Was aber nicht gelingt. Denn fünf Millionen Palästinenser in den besetzten Gebieten, die Israel – wenn auch noch nicht offiziell annektiert hat – längst zu seinem Staatsgebiet zählt, haben keine politischen und bürgerlichen Rechte. Im Westjordanland gibt es zwei Rechtssysteme: ein Militärrecht für Palästinenser und das liberale israelische Recht für Juden. Von getrennten Straßen für beide Volksgruppen ganz zu schweigen. Im Nationalstaatsgesetzt wird nur Juden das Recht auf Selbstbestimmung in Israel zugestanden. Keine Apartheid?
Zum Begriff Staatsräson wissen die Autoren dagegen einiges zu sagen. Da wird erklärt, wo der Begriff historisch herkommt. Und dass Angela Merkel die Staatsräson, die aus der deutschen Schuld für den Holocaust abgeleitet wird und die die Garantie für Israels Sicherheit einschließt, im Jahr 2008 vor dem israelischen Parlament für die deutsche Politik als verbindlich erklärt hat Der SPIEGEL folgert, Staatsräson bedeute nichts anderes als: „Es gibt ein besonderes Verhältnis der Bundesrepublik zu Israel (dem Staat der Holocaust-Überlebenden), das durch eine komplizierte Mischung aus Freundschaft und Schuld geprägt ist.“
Klingt eigentlich ganz harmlos. Aber einmal davon abgesehen, dass die Holocaust-Überlebenden in Israel nur eine Minderheit waren, die obendrein dort sehr schlecht behandelt wurde, weil diese gebrochenen Menschen nicht dem oben zitierten Ideal des „neuen Juden“ entsprachen, war Israel auch deshalb nicht der Staat der Überlebenden, weil dieses Staatsprojekt schon seit etwa 1880 von den Zionisten geplant und auch konkret in Angriff genommen wurde.
Was für Konsequenzen aber hatte Angela Merkel Staatsräson-Bekenntnis vor der Knesset für die deutsche Innenpolitik? Es wurde in diesem Land der von Israel geschaffene Antisemitismus-Begriff übernommen (Kritik an Israels Politik ist Antisemitismus), für verbindlich erklärt (von Antisemitismus-Beauftragten überwacht) und damit eine Atmosphäre der Intoleranz und Unterdrückung der Meinungsfreiheit geschaffen, die demokratiegefährdend ist – einen „neuen McCarthyismus“ hat der deutsch-jüdische Publizist Micha Brumlick diese Vergiftung des öffentlichen Diskurses genannt.
Aber davon wissen Spiegel-Redakteure offenbar nichts, weil sie ohnehin nur im Mainstream-Meinungsstrom schwimmen. Die Staatsräson zwingt den deutschen Bundeskanzler zudem, immer wieder zu behaupten, dass Israel sich bei seinem genozidalen Vorgehen im Gazastreifen an das Völkerrecht halte, auch wenn in der Weltpresse inzwischen das Wort vom „größten Friedhof der Welt“, die Runde macht, den die „moralischste Armee der Welt“ dort geschaffen habe.
Im Abschnitt Genozid wird der Begriff historisch erklärt, aber dann behauptet, dass der Angriff der Hamas am 7. Oktober darauf abzielte, das jüdische Trauma des Holocaust zu reaktivieren. In der Verurteilung dieses Massakers besteht sicher Einigkeit, aber diese Tat hat nichts mit dem Holocaust zu tun, sie muss mit anderen schrecklichen Massakern, die Israel umgekehrt an Palästinensern begangen hat (man denke nur an Sabra und Schatila 1982 mit Tausenden Toten) in den nahöstlichen Kontext eingeordnet werden.
Es sei in diesem Zusammenhang der israelische Sozialwissenschaftler und Historiker Moshe Zuckermann zitiert, der schreibt: „Weiß man in Deutschland wirklich nicht, dass der Rassenantisemitismus der Nationalsozialisten, der in Deutschland fortwesende Antisemitismus und der (eventuell auch antisemitisch durchsetzte) Antizionismus der Hamas und der Hisbollah aus grundverschiedenen historischen Konstellationen und Kontexten erwachsen sind? Ist man mit der Banalisierung von Auschwitz (…) inzwischen schon so weit, dass der aktionistische Politfurz einer Verbrennung der (israelischen) Nationalfahne zum Kriterium gedenkender Geschichtserinnerung, welches sogar in eine staatsoffizielle Resolution gegen Antisemitismus Eingang finden soll, erhoben wird? Wer noch immer nicht den Unterschied zwischen Judentum, Zionismus und Israel, mithin zwischen Antisemitismus, Antizionismus und Israel-Kritik begriffen hat, wird zwangsläufig miteinander vermengen, was auseinandergehalten gehört. Israel führt einen erbitterten Krieg gegen Hamas und Hisbollah; dieser hat seinen historischen Ursprung sowie seine aktuelle Begründung in der nahöstlichen Geopolitik und im israelisch-palästinensischen Konflikt, nicht im Antisemitismus als solchen, schon gar nicht in einem dem abendländischen vergleichbaren Antisemitismus.“