Eine deutsche Debatte im Jahr 2020

Achille Mbembe sagt ein paar Wahrheiten über den kolonialistischen Hintergrund Israels und wird deshalb als „Antisemit“ dämonisiert

Die Antisemitismus-Vorwürfe gegen den afrikanischen Philosophen Achille Mbembe haben auch eine positive Seite. Sie offenbaren, in welcher ideologischen Blase sich der Mainstream-Diskurs über den Nahost-Konflikt im politischen Deutschland befindet. Wenn es um Israel/Palästina geht, sind nur noch Fragen nach dem Existenzrecht Israels und nach der Relativierung des Holocaust erlaubt. Fallen die Antworten nach Meinung der Fragesteller unbefriedigend aus, beginnt die Antisemitismus-Kanonade und die hinterlässt dann nur noch verbrannte Erde. Dass solche Kampagnen dem eigentlichen Anliegen, dem Kampf gegen den wirklichen Antisemitismus, nur schaden können, scheint dann in der hysterisch aufgeladenen Stimmung schon kaum noch jemanden zu interessieren. Und dass dann wie jetzt im Fall Achille Mbembe auch noch die im Grundgesetz verbürgte Freiheit der Wissenschaft großen Schaden nimmt, wen interessiert das im Eifer des Gefechts?

Wenn man heute laut ausspricht oder schreibt, dass der Holocaust und der Antisemitismus-Vorwurf auch in perfider Weise instrumentalisiert werden, um die brutale Herrschaft Israels über ein ganzes Volk vor Kritik zu schützen, dann ist das auch gleich wieder schlimmer Antisemitismus. Und so dreht sich die Debatte im Kreis ohne die geringste Chance, einen Erkenntnis-Schritt weiter zu kommen. Von politischen Fortschritten und Verbesserungen für die am meisten unter dem gegenwärtigen Zustand Leidenden – die Palästinenser unter der nun schon über 50 Jahre andauernden Besatzung – ganz zu schweigen.

Insofern hat die Debatte um Achille Mbembe auch ihre guten Seiten offenbart. Der Israel-Palästina-Konflikt wird endlich einmal nicht unter dem ausschließlichen Aspekt Holocaust und Antisemitismus geführt, sondern auf seine Wurzeln zurückgeführt. Denn in der westlichen Welt hat man sich – dank der sehr erfolgreichen israelischen Propaganda – daran gewöhnt zu glauben, dass es den Konflikt erst seit dem Juni-Krieg 1967 und den damaligen israelischen Eroberungen gibt, also dem Beginn der Okkupation. Dass es diese Besatzung schon unter strengster Militärherrschaft nach der Nakba 1948 über die noch im jungen Staat Israel verbliebenen Palästinenser bis 1966 gab, wird meistens verschwiegen.

Die entscheidenden Probleme, die den Konflikt bis heute ausmachen, sind aber schon Jahrzehnte früher entstanden. Ohne ihre Kenntnis konnte sich aber der Eindruck verfestigen, dem Israel mit seiner Propaganda kräftig nachgeholfen hat, dass die Araber bzw. die Palästinenser allein an der Auseinandersetzung schuld seien, weil sie sich weigerten, die Feindschaft zu beenden, Israel als Staat anzuerkennen und damit Frieden zu schließen. Also auf der einen Seite die bösen und aggressiven Araber und auf der anderen die friedliebenden und unter der Bedrohung leidenden Israelis. Die wirklichen Ursachen des Konflikts gingen bei dieser Sichtweise völlig unter.

Es lohnt sich aber, den Blick etwas weiter in die Vergangenheit zu richten und auch die andere, die am meisten betroffene Seite zu Wort kommen zu lassen. Was besonders in Deutschland schwierig ist, da im offiziellen Diskurs nicht zwischen Judentum und Zionismus unterschieden wird, ja allein die Beschäftigung mit dem Zionismus schon den Verdacht nahelegt, ein Antizionist gleich Antisemit zu sein. Aber der Zionismus ist – unterschieden vom Judentum – eine historische Tatsache, an der kein Weg vorbeiführt, denn er ist bis heute die Staatsideologie Israels. Die Auseinandersetzung mit ihm ist unumgänglich zum Verständnis des Nahostkonflikts.

Deshalb ein Rückblick. Der Zionismus ist ohne die Theorie und Praxis des europäischen Imperialismus und des Kolonialismus im 19. Jahrhundert gar nicht denkbar. Der Imperialismus strebte die Unterwerfung anderer Länder und Völker sowie die Eingliederung in den eigenen Machtbereich an. Er rechtfertigte diese Eroberungen mit seinem höheren zivilisatorischen Standard und auch mit der rassischen Überlegenheit der Europäer. Schon die frühesten Rassentheoretiker grenzten die weiße Rasse „wissenschaftlich“ von den Völkern roter, gelber, brauner und schwarzer Hautfarbe ab. Aus diesem rassischen Hochmut des Kolonialismus heraus wurden die von den verachteten Angehörigen dieser Völker bewohnten Territorien als unbewohnt und leer verstanden. Man sah über diese Menschen einfach hinweg und betrachtete sie als unzivilisiert, unterlegen und minderwertig. Ihnen kam eigentlich kein menschlicher Status zu. Sie galten einfach als nicht-existent.

Damit standen diese Gebiete der westlichen Kolonisierung zur Verfügung. Vieles von diesem ideologischen Gedankengut hat der Zionismus übernommen. Die zionistische Parole „Für das Volk ohne Land ein Land ohne Volk“ drückt das sehr deutlich aus. Die Zionisten nahmen die 600 000 Araber bzw. Palästinenser, die am Ende des 19. Jahrhunderts im Land zwischen Mittelmeer und Jordan lebten, einfach nicht wahr. Berühmt ist der Ausspruch der israelischen Politikerin Golda Meir: „Es gibt gar keine Palästinenser.“ Und ihr Kollege Shimon Peres konnte bekennen: „Wir haben sie einfach übersehen.“

Die radikale Unterscheidung und Trennung zwischen den privilegierten Juden und den verachteten, minderwertigen Palästinensern war also von Anfang an gegeben und besteht bis heute fort. Sie ist durch das Nationalstaatsgesetz von 2018 sogar festgeschrieben worden. Die jüdischen Israelis haben nie eine Sensibilität für die Leiden der von ihnen beherrschten und unterdrückten Nicht-Juden entwickelt. Die Palästinenser werden bis heute nicht als selbstbestimmende, freie menschlichen Wesen betrachtet. Von dem Augenblick an, als sie sich gegen ihre Unterdrückung zu wehren begannen und ihre Rechte einforderten, war das für die Zionisten blanker „Terrorismus“. An dieser Menschenverachtung, Dämonisierung und Entmenschlichung hat sich bis heute nichts geändert. Es ist sogar noch eine Steigerung der Dämonisierung hinzugekommen: Die Palästinenser sind die „neuen Nazis“, was eine völlige Umkehrung der Täter-Opfer-Rolle in diesem Konflikt bedeutet.

Das Ziel des Zionismus war von Anfang an, den jüdischen Staat in möglichst ganz Palästina, aber ohne Araber darin zu gründen. Die Idee war also, dass die Kolonisierung Palästinas nur von und für Juden vorgenommen werden sollte – bei gleichzeitiger Umsiedlung (Transfer) der Palästinenser. Der Begründer des Zionismus, Theodor Herzl, drückte das in einer Tagebucheintragung deutlich aus und nahm schon vorweg, was später in die Praxis umgesetzt wurde: „Die Zionisten müssen sich zunächst in zureichender Weise den Grundbesitz der arabischen Bevölkerung verschaffen. Die Einheimischen – insbesondere die Armen – sollen unbemerkt über die Grenze in Nachbarländer transportiert werden, nachdem sie vorgängig die gröbste Kolonisierungsarbeit im Judenstaat geleistet haben. Den Arabern darf im Judenstaat keine Arbeit gegeben werden; auch ist es der eingeborenen Bevölkerung untersagt, von Juden erworbenes Land zu kaufen.“ Auch über die geographische Ausdehnung des Judenstaates hatte sich Herzl schon Gedanken gemacht: Er sollte die Sinai-Halbinsel einschließen und neben Palästina auch große Teile Syriens umfassen und bis an die Ostgrenze des heutigen Jordanien reichen.

In der Zeit, als der europäische Imperialismus sich in Afrika und Asien weiter ausdehnte und seinem Höhepunkt zustrebte, begann auch die siedlerkolonialistische zionistische Besiedlung in Palästina. Das Verhältnis der einwandernden Juden zu den Arabern war von Hass und Verachtung bestimmt. So schrieb der aus Russland stammende Philosoph Ahad Ha’am am Ende des 19. Jahrhunderts über seine Eindrücke in Palästina: „Eine Sache hätten wir ganz gewiss aus unserer vergangenen und gegenwärtigen Geschichte lernen können: wie behutsam wir sein müssen, um nicht durch tadelnswertes Verhalten den Zorn anderer Leute gegen uns zu erregen. Um wie viel mehr sollten wir dann bemüht sein, einem fremden Volk, unter dem wir wieder leben, mit Liebe und Achtung und natürlich mit Gerechtigkeit und Aufrichtigkeit zu begegnen. Und was machen unsere Brüder im Lande Israel? Ganz das Gegenteil! Sie waren Sklaven in den Ländern des Exils, und plötzlich verfügen sie über unbegrenzte Freiheit, die Art wilder Freiheit, die sich nur in einem Land wie der Türkei [Palästina gehörte damals zum Osmanischen Reich] finden lässt. Dieser plötzliche Wandel hat in ihnen einen Drang zum Despotismus ausgelöst, wie es stets geschieht, wenn ‚ein Sklave König wird‘, und siehe da, sie begegnen den Arabern mit Feindschaft und Grausamkeit, berauben sie ihrer Rechte, schlagen sie schmählich ohne Grund, brüsten sich dessen sogar, und niemand wirft sich dazwischen und gebietet ihrem gefährlichen und abscheulichen Trieb Einhalt.“

Der Palästinenser Edward Said beschreibt, wie die Europäer und damit auch die Juden in den vom Kolonialismus beherrschten Ländern vorgingen und wie es dort aussah: „Man entledigt sich des anstößigen menschlichen oder pflanzlich-tierischen Unkrauts, entweder weil es so unordentlich wuchert, oder weil seine Anwesenheit durch Unproduktivität und sinnentleertes Dasein stört – der Rest wird in Reservaten, eingezäunten Geländen, Heimstattbezirken in Schach gehalten, damit man zählen, taxieren und profitabel nutzen kann. So errichtet man eine neue Gesellschaft in einem freigeräumten Gebiet. Auf diese Weise wurde Europa im Ausland rekonstituiert, seine ‚Vervielfachung in räumlicher Entfernung‘ erfolgreich projektiert und durchgesetzt. Als Ergebnis gab es eine Vielzahl kleiner Europas; hier und dort, in Afrika, Asien und Amerika, und jeder Nukleus reflektierte den Zustand, die spezifischen Wirksamkeiten der Mutterkultur, ihrer Siedlervorhut und Pioniere.“

Und weiter: „Ungeachtet der erheblichen Unterschiede war allen [Kolonien] ein Merkmal gemeinsam – sie gaben ihrem Leben die Aura der Normalität. Die unsinnigsten Reproduktionen Europas wurden als angemessen empfunden (Süafrika, Rhodesien usw.). Die schlimmste Diskriminierung und Abschiebung der Einheimischen wurde als normal angesehen, da sie ‚wissenschaftlich‘ legitimiert war; die Widersprüchlichkeit eines Lebens in der Enklave, Tausende Kilometer von heimischer Kultur und Erde entfernt; umgeben von feindseligen und verständnislosen Einheimischen: Diese Absurditäten unter dem Deckmantel der Normalität führten zur Entstehung eines eigensinnigen Geschichtsempfindens, einer hartnäckigen Scheinlogik und eines sozialpolitischen Zustands, der das jeweils bestehende koloniale Vorgehen als normal, legitim und gut ausgab.“ Diese Zeilen stammen aus Saids Buch „Zionismus und palästinensische Selbstbestimmung“, das in Deutschland 1981 erschien. In visionärer Weise sieht Said hier schon die Wegsperrung der Palästinenser in „Reservaten, eingezäunten Geländen und Heimstätten“ voraus, die heute im Westjordanland und Gazastreifen grausame Realität ist.

Dass dies keineswegs der einseitige Blick eines Palästinensers auf seine Heimat war, belegen Aussagen des israelischen Psychologen Benjamin Bei-Hallahmi, der schreibt: „Für den Zionismus stellte sich die Frage: Was soll mit diesen Menschen – der indigenen arabischen Bevölkerung – geschehen? Die Antwort war klar: Um einen rein jüdischen Staat zu schaffen, mussten sich die Zionisten von dieser ‚überschüssigen‘ Bevölkerung befreien. Ihre Rechte anzuerkennen und mit ihnen zusammenzuleben haben die Zionisten (von ein paar human gesinnten ‚Kulturzionisten‘ abgesehen) nie in Erwägung gezogen. Um den zionistischen Traum zu erfüllen, eben die Gründung eines eigenen Staates, war man entschlossen, hart gegen die ‚Eingeborenen‘ vorzugehen, was nicht schwer war, denn diese waren schwach, rückständig und arm. (…) Die Palästinenser waren nicht Teil einer Gleichung. Sie waren für die Zionisten eigentlich gar nicht vorhanden, waren ‚unsichtbar‘ und kamen in den Visionen und Plänen der Zionisten gar nicht vor. Die einheimische Bevölkerung musste ausgesondert und ausgeschieden (eliminated) werden.(…) Der Krieg gegen die Eingeborenen (natives) war schlicht und einfach ein Teil der Umwandlung der Natur des Landes, und sie waren ein anderes Element der Natur, man musste sie [die Eingeborenen] erobern und sie bekämpfen wie die Sümpfe, die Hitze und die Malaria.“

Achille Mbembe erinnert in seinen Texten an diesen kolonialen Ausgangspunkt des Zionismus, und Israel ist heute immer noch ein siedlerkolonialistischer Staat, der sich auf dem Weg in einen Apartheidstaat befindet oder ein solcher schon ist. Mbembe hat, indem er auf die kolonialistischen Wurzeln des zionistischen Staates hinweist, auch deutlich gemacht, dass die weitere Existenz Israels vor allem davon abhängt, ob es dem von ihm besetzten und unterdrückten Volk die Freiheiten und Rechte zugesteht, die es selbst für sich in Anspruch nimmt. Die folgenden Sätze belegen das klar: „Palästina nimmt einen wichtigen Platz in meinem Nachdenken über die ‚andere Seite der Welt‘ ein, das heißt über die kolonialen Formen der Aufteilung der Erde und des Lebens. In diesem Zusammenhang vertrete ich folgende Hypothese: Aus Methoden, mit denen die besetzten Gebiete Palästinas verwaltet oder sich selbst überlassen werden, entwickeln sich technofuturistische Formen der Enklavenbildung, des Abflusses von Menschen und der Enteignung, die von globaler Bedeutung sind. In diesen Entbindungsprozessen ist ein Modell des Regierens über Menschenmassen am Werk, die als überflüssig und gefährlich erachtet werden, ein Modell, dass nicht mehr auf Palästina beschränkt bleibt, sondern sich allmählich in mehreren Teilen der Welt ausbreitet.“

Was Mbembe hier anspricht, ist zweifellos die viel zitierte „Israelisierung der Welt“, das heißt: politische und soziale Probleme nicht mehr mit den Mitteln einer humanen Politik zu lösen, sondern mit Unterdrückung, bei der ausgefeilte technisch-elektronische Hilfsmittel der Kontrolle und Überwachung eine wichtige Rolle spielen. Das Modell, das heute nicht nur Israel praktiziert, die „überflüssigen Menschen“ in Enklaven und Bantustans wegzusperren, hat im Übrigen die jüdisch-kanadische Sozialwissenschaftlerin Naomi Klein als erste kritisch dargestellt. Auch sie eine Antisemitin?

In Deutschland ist es inzwischen weitgehend gelungen, Israel und den Zionismus mit einer Mauer der Immunität zu umgeben, so dass keine rationale Diskussion seiner Ziele und Implikationen mehr möglich ist. So eine Immunität braucht der Zionismus in der Tat, weil er durch normale politische Standards nicht verteidigt werden kann. Da wird dann eben Antisemitismus und Antizionismus gleichgesetzt, um zum gewünschten Ziel des Abwürgens jedes Diskurses über die israelische Politik zu kommen

Die deutsche Mainstream-Debatte über den Nahost-Konflikt stagniert, dreht sich im Kreis und erschöpft sich in Antisemitismus-Schuldzuweisungen. Dabei hätte nicht nur Israel allen Grund zur Selbstkritik und Änderung seiner Politik, sondern auch der gesamte Westen – Deutschland natürlich eingeschlossen. Wie es der deutsche Soziologe Walter Hollstein vor fast 50 Jahren formuliert hat: „Die ungeschichtlichen Erklärungsmuster des Nahost-Konflikts nutzen Israel wie auch dem Abendland. Das erstere lässt dergestalt vergessen, dass der Zionismus mit seinem Machtanspruch überhaupt erst die Auseinandersetzung mit der arabischen Welt herausforderte; das letztere kaschiert erleichtert, dass sein Antisemitismus am Ursprung des Zionismus stand und also die andauernde Auseinandersetzung im Nahen Osten wesentlich mitbedingte. So umgeht man bequem die Analyse der wirklichen Ursachen des Nahostkonflikts und akzeptiert das Gesetz des Schweigens über die schreiendsten Wahrheiten der Geschichte, die vornehmlich so unerfreuliche Phänomene wie Kolonialismus, Imperialismus und Flüchtlingselend betreffen.“

Diese Sätze könnten auch von Achille Mbembe stammen.

4.5.2020