Briefwechsel mit dem Psychoanalytiker Dr. Axel Groß über mein Buch "Der Kampf um die Wahrheit. Israels Konflikt mit den Palästinensern aus psychoanalytischer Sicht"

Der Psychoanalytiker  Dr. Axel Groß (Lüneburg) fragte bei mir  an, warum ich dieses Buch geschrieben habe. Er fand meinen Ansatz sehr interessant, weil er völlig aus der sonst üblichen Debatte über den Konflikt Israels mit den Palästinensern herausfalle. Ich antwortete ihm mit folgenden Zeilen:

Warum habe ich das Buch geschrieben? Der Titel sagt es: Es geht um den „Kampf um die Wahrheit“. Denn es gibt in diesem nun schon über 100 Jahre andauerndem Konflikt zwei Narrative über das, was in Palästina geschehen ist und immer noch geschieht: das israelisch-zionistische und das palästinensische. Das Geschichtsbild Israels ordnet das ganze Geschehen seiner Staatsideologie, dem Zionismus, unter. Der Inhalt dieser Ideologie war und ist: Der Zionismus wollte und will in einem eigentlich von Arabern bewohntem Land seinen ethnisch homogenen jüdischen Nationalstaat schaffen – und zwar unter Besitznahme ganz Palästinas und möglichst ohne Palästinenser. Dieses Ziel konnte man nur mit Gewalt realisieren, denn die Palästinenser waren und sind natürlich nicht bereit, freiwillig ihre Heimat zu verlassen. Das israelische Narrativ behauptet aber, dass die Palästinenser im arabisch-israelischen Krieg 1948/49 „freiwillig“ das Land verlassen hätten.

In Israel traten in den 90er Jahren die sogenannten „neuen Historiker“ auf, die sich nicht mehr der zionistischen Sicht der Geschichte unterwarfen. Sie wollten wissen, was wirklich geschehen war. Ihre Forschungen wurden dadurch begünstigt, dass die israelische Regierung – wenigstens zum Teil – die Dokumente in den Archiven freigegeben hatte. (Was sie heute wieder rückgängig gemacht hat.) Die Dokumente bestätigten das palästinensische Narrativ: dass die Zionisten 1948/49 eine furchtbare ethnische Säuberung durchgeführt haben. Die Bilanz: Es wurden 531 arabische Dörfer und elf Städte zwangsgeräumt und zum großen Teil zerstört; über 800 000 Menschen wurden vertrieben und mussten fliehen, es kam zu Vergewaltigungen, Plünderungen und Massakern. (Quelle: das Buch des israelischen Historikers Ilan Pappe: Die ethnische Säuberung Palästinas, wiederaufgelegt im Westend Verlag, Frankfurt/ Main 2018)

Die ethnische Säuberung, die die Palästinenser die Nakba (die Katastrophe) nennen, findet im Grunde ihre Fortsetzung bis heute – mit der gegen die Menschenrechte und das Völkerrecht verstoßenden Besatzung über dieses Volk, dem Raub seines Landes und der Unterdrückung und Diskriminierung dieser Menschen. (Ich habe gerade von dem israelischen Publizisten Gideon Levy von Haaretz den erschreckenden rassistischen Satz gelesen: „Es gibt in Israel keinen Juden, der die Palästinenser als menschliche Wesen betrachtet.“) Israel leugnet seine Gewaltpolitik gegenüber den Palästinensern natürlich und rechtfertigt sein Vorgehen mit ideologischen Gründen wie die Palästinenser seien alle „Terroristen“, ja die „neuen Nazis“, die einen Holocaust an den Juden planten. Gegen Kritik an seiner Gewaltpolitik versucht Israel sich mit dem Antisemitismus-Vorwurf zu wehren. Also: Wer diese Politik kritisiert und sich auf die Menschenrechte und das Völkerrecht beruft, ist ein Antisemit. Ein schlimmer Missbrauch des Antisemitismusbegriffs und des ja so nötigen Kampfes gegen diese Form des Rassismus.

Das ist natürlich insgesamt eine furchtbare Situation, und ich wollte wissen, wie gehen jüdische bzw. israelische Psychoanalytiker damit um. Vertreter dieses Berufes haben in ihrer Ausbildung und in ihrer Praxis vor allem gelernt, Projektionen zu durchschauen und Feindbilder (wie das der Zionisten) und Ideologien zu hinterfragen. Meine Vermutung war richtig: Die von mir ausgewerteten Texte von jüdischen oder israelischen Analytikern gehen äußerst kritisch mit dem Zionismus und seiner Politik ins Gericht, analysieren, woher der permanente Wille zur Gewalt kommt (aus der aus der jüdischen Verfolgungsgeschichte stammenden Angst) und sehen nur eine Lösung für den Konflikt: sich mit den Palästinensern zu versöhnen und sie um Vergebung für das ihnen Angetane zu bitten. Eine unabdingbare Voraussetzung für eine solche Lösung ist aber, dass man die „Wahrheit“ des wirklich Geschehenen anerkennt. Das ist aber für die Israelis so schwierig, weil dann das moralische Fundament des ganzen zionistischen Unternehmens, ja der Zionismus selbst in Frage gestellt würden.

Übrigens standen schon Sigmund Freud und Erich Fromm dem Zionismus ausgesprochen kritisch gegenüber, obwohl sie ja nur seine Frühphase erlebt haben. Ich bin in meinem Buch ausführlich auf die beiden eingegangen. Der Kampf um die Frage nach der Wahrheit ist also eindeutig zugunsten des palästinensischen Narrativs entschieden, wozu nicht nur die israelischen „neuen Historiker“, sondern auch die Psychoanalytiker einen wichtigen Beitrag geleistet haben.

Im Zusammenhang mit dem Gesagten verfolgt mein Buch noch eine andere Absicht. In Deutschland (aber auch im übrigen Europa und in den USA) gehen Israel und seine Anhänger – wie oben schon angesprochen – mit allen Mitteln gegen Kritiker der zionistischen Politik vor und denunzieren sie als „Antisemiten“, selbst jüdische Kritiker. Die offizielle deutsche Politik und die Mainstreammedien machen diese hysterische Kampagne leider mit. Wie absurd diese Kampagne aber ist, belegen nicht nur Stellungnahmen israelischer Wissenschaftler und Publizisten (zuletzt haben über hundert israelische Wissenschaftler gegen den BDS-Beschluss des Bundestages protestiert), sondern eben auch jüdische und israelische Psychoanalytiker. Nach den in dieser Kampagne verwendeten Kriterien wären selbst Sigmund Freud und Erich Fromm üble Antisemiten. Einem solchen Unsinn muss man entgegentreten. Mein Buch soll dazu ein Beitrag sein.

Dr. Groß antwortete auf meine Zeilen folgendermaßen: 

Arn Strohmeyer beschreibt in seinem Buch über den Kampf um die Wahrheit. Israels Politik gegenüber den Palästinensern aus Sicht der Psychoanalyse ausführlich und anschaulich den zionistischen Frevel am eigenen jüdischen Volk und den Palästinensern. Die Shoa wird zum Vorwand genommen, unvorstellbar schweres erlittenes Unrecht zu sühnen und diese erbarmungslose Rache an einer völlig unschuldigen Volksgruppe, den Palästinensern, zu begehen. Dabei waren es nicht die wirklich vom Holocaust betroffenen und ihm gerade noch entkommenen Juden, die diese Gesetzlosigkeit und Verfolgung einer Bevölkerungsgruppe angestiftet haben. Solche Menschen, davon konnte ich mich in den 70 er Jahren bei den von mir erstellten Entschädigungsgutachten für verfolgte Juden in der Psychiatrischen Uniklinik Hamburg- Eppendorf überzeugen, waren seelisch zutiefst gebrochen und außerstande, sich mit ihren traumatischen Erlebnissen in den Konzentrationslagern auseinanderzusetzen, geschweige denn ihren Peinigern gegenüber aktive Rachegefühle zum Ausdruck zu bringen.

Es ist nicht unwahrscheinlich, dass deren Kinder die unbewussten massiven traumatischen Gravuren ihrer geschundenen Eltern quasi als Delegationsauftrag in ihre psychische Struktur aufgenommen haben und diesen auf unschuldige Palästinenser übertragen haben. Natürlich ist es auch möglich, wie einige in Arn Strohmeyers Buch aufgeführte israelische Psychoanalytiker anmerken, dass sich psychisch von der Judenverfolgung im weitesten Sinn nicht betroffene Politiker den Genozid besonders der osteuropäischen Juden für ihre Machtausübung instrumentalisiert haben. Mir scheint aber, dass im Wesentlichen auch die Nachfahren der zutiefst verletzten, gedemütigten und ihrer menschlichen Würde beraubten Eltern kollektiv die Ungeheuerlichkeit der Naziverfolgung und die damit verbundene schamvolle Entwertung zu "Ungeziefer" überhaupt nicht verarbeitet, sondern gänzlich abgespalten haben.

Von einer "Abspaltung" wird im Rahmen von psychischen Abwehrmechanismen gesprochen, wenn schwerste seelische Verletzungen nicht mehr nur verdrängt, sondern wie bei einer schizophrenen Psychose überhaupt nicht mehr zugänglich sind. Das heißt, dass die wirklichen traumatischen Geschehnisse aus dem Bewusstsein völlig verschwinden und auch nicht durch psychoanalytische Klarifikation, Konfrontation und Durcharbeiten wie bei verdrängten Ereignissen zugänglich sind. Das bedeutet, dass nicht wenige Israelis, verstärkt durch die Demagogie des vom Hass infiltrierten politischen Machtapparates, unter einer Art kollektiver Psychose leiden, sich verfolgt fühlen und nicht im geringsten eine Empathie dafür entwickelt haben, welch schweres Unrecht sie den völlig schuldlosen Palästinensern zugefügt haben, die sie ebenso in Ghettos sperren, wie ihre Vorfahren es erleiden mussten.

Es nimmt nicht wunder, dass in den letzten Jahrzehnten der Hass der Palästinenser auf den Staat Israel gewaltige Dimensionen angenommen und einen endlosen Krieg erzeugt hat.

Deutschland hat zwar verstanden und anerkannt, dass die barbarische Vernichtung von sechs Millionen Juden ein schweres Unrecht war und sicher nicht vergessen werden darf. Es hilft aber nicht weiter, dem zionistischen Unrechtsstaat Israel aufgrund eigener unverarbeiteter Schuldgefühle völlig unkritisch gegenüberzustehen und damit ein Stück staatlicher deutscher Autonomie aufzugeben. Es gilt die schuldhafte Vergangenheit, aus der man zweifellos lernen muss, von der aktuellen Gegenwart zu unterscheiden, die ihre eigenen Gesetze hat.

Die Hybris des Staates Israel ist auch in anderen totalitären, undemokratischen Herrschaftssystemen zu finden. So hat die Türkei den Genozid der Armenier im Osmanischen Reich vor etwa hundert Jahren nicht anerkannt und damit eine Chance verwirkt, einen Unrechts- in einen Rechtsstaat zu verwandeln. Auf der Erde gibt es viele solche Beispiele, die unheilvolle politische Konsequenzen erzeugen, letztlich Mensch und Natur gefährden. Arn Strohmeyers Buch ist sicher ein gelungener Beitrag, am Beispiel Israels die Notwendigkeit der Aufarbeitung historischer Wahrheiten zuzulassen und damit die Fähigkeit zu erlangen, sich für das gedeihliche Miteinander verschiedener Bevölkerungsgruppen einzusetzen, Gerechtigkeit zu schaffen und Frieden zu bewahren.