Das peinliche Eigentor des Antisemitismus-Beauftragten Felix Klein

Der afrikanische Philosoph Achille Mbembe legt ein überzeugendes Bekenntnis zum politischen Universalismus ab und lässt seine Kritiker brillant abblitzen

Die deutschen Antisemitismusjäger glaubten, ein neues Opfer gefunden zu haben: den aus Kamerun stammenden Historiker und Philosophen Achille Mbembe. Aber der Schuss ging gründlich daneben und geriet – in der Fußballsprache gesagt – zum mehr als peinlichen Eigentor. Denn Mbembes Erwiderung auf die Vorwürfe in der ZEIT stellte die beiden Inquisitoren, den nordrheinwestfälischen FDP-Politiker Lorenz Deutsch und den Antisemitismus-Beauftragten Dr. Felix Klein, als das dar, was sie in Wirklichkeit sind: kleingeistige Dogmatiker, die sich offensichtlich im Judentum auch nur sehr begrenzt auskennen. Was nicht verwundert, wenn man Judentum, Zionismus und Israel und umgekehrt Antisemitismus, Antizionismus und Kritik an der israelischen Politik nicht auseinanderhalten kann oder will.

Auch auf die Gefahr hin sich zu wiederholen: Es ist kein Geheimnis, dass sich das Judentum in einer tiefen existentiellen Krise befindet, weil es in zwei große Richtungen gespalten ist: die Partikularisten und die Universalisten. Erstere sind heute die Anhänger des Zionismus bzw. des radikalen israelischen Nationalismus, auf der anderen Seite stehen die Universalisten, also die Vertreter von Menschenrechten und Völkerrecht, denen die Zionisten mit Ablehnung bis Verachtung begegnen.

Um zu belegen, dass das Aufzeigen des Konflikts im Judentum keine Erfindung von Kritikern der israelischen Politik ist, sei hier eine Passage aus dem Buch Israel der israelischen Soziologin Eva Illouz angeführt, in der sie genau diese schwärende Wunde des Judentums aufzeigt: „Der Zweck dieses Buches und der damit verbundenen Entscheidung, den akademischen Elfenbeinturm zu verlassen, ist kein geringerer, als Juden auf der ganzen Welt den Spiegel vorzuhalten, um sie an die Ideale zu erinnern, für die sie in den letzten zweihundert Jahren gekämpft haben und die dafür sorgten, dass ihre Gemeinschaften gediehen. Diese Ideale und den moralischen Kompass, den sie boten, zu vergessen heißt, die Geschichte der aufgeklärten Juden der letzten zweihundert Jahre zu verraten. Diese Geschichte ist unvollendet, solange die politischen Institutionen und die Kultur Israels nicht universalistische Gebote umfassen, die die Geburt aller modernen Demokratien begleitet haben. Ein jüdischer Staat, der nicht auf universeller Gerechtigkeit aufbaut, wird nicht auf die zentrale Herausforderung geantwortet haben, vor die die Moderne das jüdische Volk stellte, nämlich ihre Existenz und ihre Identität unter Einbeziehung der Forderungen des Universalismus neu zu definieren, statt diese von sich zu weisen.“

Diese Sätze sagen deutlich, dass deutsche Antisemitismus-Beauftragte, die Kritik an Israels Politik als Antisemitismus diffamieren, nicht die Aufklärung mit ihren universalistischen Prinzipien vertreten, sondern die Interessen des israelischen Ultra-Nationalismus. Achille Membe ist, das betont er in seiner Antwort auf die Antisemitismusvorwürfe, sehr deutlich, ein überzeugter Universalist – und das reicht dann aus, ihn zu verleugnen. Schon die Überschrift, die er für seinen Antwortartikel benutzt, ist universell jüdisch: „Die Welt reparieren“ (tikun olan). Unter diesem Motto betreibt Israel seine Entwicklungspolitik in der Dritten Welt, besonders in Afrika. Es leistet dort Aufbauhilfe vielerlei Art: zivile und militärische, während die Palästinenser in den besetzten Gebieten (besonders im Gazastreifen) nicht das Nötigste zum Überleben bekommen. Aber die Dritte Welt ist für Israel ein wichtiger Handelspartner und Abnehmer von Waffen und Sicherheitstechnik. Und natürlich sollen die Dritte-Welt-Staaten in der UNO für Israel und nicht für die Rechte der Palästinenser stimmen. In diesem Sinn hat Achille Mbembe die Überschrift seines Artikels „Die Welt reparieren“ aber sicher nicht verstanden.

Er schreibt dazu erklärend ganz im Sinn des Universalismus: „Ich widme meine gesamte intellektuelle Energie der Frage nach der Reparatur und Reparation der Welt. Alles, was ich je geschrieben oder gesagt habe, ruht auf einem einzigen Element, nämlich der Hoffnung auf der Herausbildung einer wirklich universellen menschlichen Gemeinschaft, von deren Tisch niemand ausgeschlossen wird.“

Die Ausgangspunkte seiner Gedanken sind die in Europa in den vergangenen Jahrhunderten entwickelten kolonialistischen und rassistischen Bewegungen, die dann über die Weltmeere exportiert wurden und in den Kolonien der europäischen Mächte zu furchtbaren Massenverbrechen geführt haben. Mbembe weiß als Afrikaner, wovon er redet. Wenn er von der Utopie der „universellen Versöhnung“ und dem „kollektiven Aufstieg des Menschseins“ spricht, bezieht er sich ausdrücklich auch auf jüdische – universell ausgerichtete – Denker wie Hermann Cohen, Franz Rosenzeig, Ernst Bloch und Emmanuel Levinas.

Und da der aus Europa kommende Kolonialismus und Rassismus in seinem Denken eine so wichtige Rolle spielt, muss er sich auch notgedrungen mit der Geschichte und den Vorgängen in Israel/Palästina beschäftigen, denn der Zionismus ist die letzte (nach-) kolonialistische Bewegung auf der Welt und gerade deshalb so anachronistisch. Er schreibt: „Palästina nimmt einen wichtigen Platz in meinem Nachdenken über die ‚andere Seite der Welt‘ ein, das heißt über die kolonialen Formen der Aufteilung der Erde und des Lebens. In diesem Zusammenhang vertrete ich folgende Hypothese: Aus Methoden, mit denen die besetzten Gebiete Palästinas verwaltet oder sich selbst überlassen werden, entwickeln sich technofuturistische Formen der Enklavenbildung, des Abflusses von Menschen und der Enteignung, die von globaler Bedeutung sind. In diesen Entbindungsprozessen ist ein Modell des Regierens über Menschenmassen am Werk, die als überflüssig und gefährlich erachtet werden, ein Modell, dass nicht mehr auf Palästina beschränkt bleibt, sondern sich allmählich in mehreren Teilen der Welt ausbreitet.“ Was er hier anspricht, ist zweifellos die viel zitierte „Israelisierung der Welt“, das heißt: politische und soziale Probleme nicht mehr mit den Mitteln einer humanen Politik zu lösen, sondern mit Unterdrückung, bei der ausgefeilte technisch-elektronische Hilfsmittel der Kontrolle und Überwachung eine wichtige Rolle spielen.

Und wenn Mbembe auf das Problem eingeht, was wir mit denen tun, die mit uns und neben uns leben, mit denen wir aber keine andere Beziehung als die der Abspaltung und Trennung haben wollen, dann ist natürlich klar, wer damit gemeint ist – vor allem die Palästinenser. In diesem Zusammenhang muss man an zwei universalistisch eingestellte Jüdinnen denken: Hannah Arendt und Ruchama Marton. Hannah Arendt hat nach ihren Erfahrungen mit dem NS-Totalitarismus immer wieder die Forderung erhoben, dass wir keine Wahl haben, mit wem wir auf der Erde zusammenleben. Und deshalb kann kein Teil der Bewohnerschaft die Erde (oder einen Teil von ihr) für sich allein beanspruchen. Das käme einer Politik des Genozids gleich. Ungewollte Nähe und nicht gewählte Kohabitation seien somit die Vorbedingung unserer politischen Existenz. Diese Gedanken waren die Grundlage für Arendts Kritik am Nationalstaat – und damit auch am Zionismus.

Die israelische Psychoanalytikerin Ruchama Marton geht auf die von Mbembe beklagte Politik der Trennung und Abschottung von den „Anderen“ ein, die von den Israelis durch den Bau der Mauer groteske und absurde Ausmaße angenommen hat. Marton sieht in dieser Mauer eine „metaphorische Blende“, deren Sinn und Funktion es ist, die „Existenz des palästinensischen Volkes insgesamt auszublenden“. Sie begründet das so: „Von einer psychologischen Warte aus ermöglicht diese Blende es den jüdischen Israelis, das Leid und die Menschlichkeit der Bewohner auf der anderen Seite zu vergessen. (...) Ein brauchbarer Ansatz, einige der psychologischen Mechanismen zu verstehen, die mit der Mauer zu tun haben, ist das Prinzip der Spaltung. Es lässt zwei Extreme zu, die Welt ist in ‚gut‘ und ‚böse‘ gespalten, ohne ein Mittleres. Spaltung ist der primitivste Abwehrmechanismus, auftretend bei übergroßer Verängstigung und einem Bedürfnis, unerträglich starke positive und negative Emotionen voneinander zu trennen.

Weiter schreibt Ruchama Marton: „Indem man sowohl die äußeren wie die inneren Aspekte des guten Selbst vom bösen Selbst abspaltet, ist es psychologisch möglich, die ungeliebten Teile des eigenen Selbst auf den ‚Anderen‘, d.h. die Palästinenser, zu übertragen. Dann kann man die projizierten Teile und Eigenschaften verachten, die ja nun dem ‚Anderen‘ angehören. Die Trennmauer wird so ausschließlich als Akt des Selbstschutzes wahrgenommen, als Schutz vor der wilden Aggression, die man mit den Palästinensern assoziiert. Die Mauer erlaubt dem zionistischen israelischen Kollektiv-Selbst, sich nicht als aggressiv, gewalttätig, grausam, Besitz ergreifend, als Verletzer von Menschenrechten zu sehen, indem alle diese Züge auf die Palästinenser jenseits der Mauer projiziert werden.“ Die Mauer ist also nicht nur eine physische Barriere, sie trennt auch – in den Augen der Israelis – das fortschrittliche, zivilisierte und demokratische Israel von den rückständigen, barbarischen und gewalttätigen Palästinensern.

Mbembe spricht davon, dass die „faktischen israelischen Kolonialverhältnisse empirisch gut belegt“ seien. Und er lehnt jede Form von Kolonialismus ab und kann nicht einsehen, dass die Tatsache, dass man Kolonialismus nicht unterstütze, ein Beweis für Antisemitismus sei. An dieser Stelle wird der offenbar unauflösliche Widerspruch zwischen einem intellektuellen Vertreter der Dritten Welt (eben Achille Mbembe) und der zionistischen Ideologie und dem politischen System, das er geschaffen hat, ganz deutlich, denn Israel ist ein siedlerkolonialistischer Staat.

Vor Jahren schon hat der israelische Psychologe Benjamin Beit-Hallahmi diesen Widerspruch, den Mbembe hier anspricht, sehr deutlich herausgearbeitet und klargemacht, warum das zionistische Israel so auf dem Kriegsfuß mit universalistischen Prinzipien – Menschenrechten und Völkerrecht – steht: „Der kolonialistische Standpunkt dient bei allen Aktivitäten Israels in und gegenüber der Dritten Welt als Richtschnur. Dieses kolonialistische Denken, das in den ‚Eingeborenen‘ so etwas wie natürliches Inventar sieht, das einerseits nach Gutdünken ausgebeutet werden will, oder bestenfalls Rohmaterial ist, von einem allmächtigen Herrenmenschen zu Höherem formbar, wurde im Europa des 19. Jahrhunderts allgemein als ‚normal‘ akzeptiert. In Israel ist es wegen der Besonderheit der israelischen Geschichte und Situation weit verbreitet.“

Beit-Hallahmi zerstört mit seinen Ausführungen bei Israel-Verteidigern so manche Illusion, die diese sich über die „einzige Demokratie im Nahen Osten“ machen. Israel, schreibt er, sei alles andere als eine liberale Demokratie, was man daran sehen könne, dass bestimmte Werte und Ideale, die in westlichen Demokratien verbindlich seien, in Israel nicht hoch im Kurs ständen. Das käme ganz besonders im Verhältnis zu den Menschenrechten voll zum Ausdruck. Der Gedanke der Befreiung und Selbstbestimmung, der für die Länder der Dritten Welt so wichtig war und ist, stelle für den Zionismus eine existentielle Bedrohung dar. Sogar der Begriff der Menschenrechte sei für das politische System Israels von hoher Brisanz. Denn jede ernsthafte Auseinandersetzung mit der israelischen Politik in der Dritten Welt [dass Israel dort mit den brutalsten Diktaturen zusammenarbeitet und sie unterstützt], müsse unvermeidlich zu einer radikalen Kritik am Zionismus und seinen politischen Zielen führen. Eine Auseinandersetzung über die Menschenrechte – und damit auch über die Moral in der Politik – könne Israel sich nicht leisten und müsse deshalb um jeden Preis vermieden werden.

Beit Hallahmi schreibt weiter: „Solche Fragen auch nur zu stellen, hieße, dem Zionismus den Boden unter den Füßen wegzuziehen. (…) Das Unrecht, das den Palästinensern angetan wird, liegt so klar auf der Hand, dass man, um es nicht zur Kenntnis nehmen zu müssen, das Thema als solches tabuisieren muss. Da aber jede Diskussion darüber, was Israel in der Dritten Welt anstellt, zwangsläufig in die Frage nach den Rechten der Palästinenser münden würde, muss auch die Dritte-Welt-Problematik tabuisiert werden. Man kann nicht über Gleichberechtigung, Freiheit und Selbstbestimmung im Allgemeinen reden, ohne irgendwann auch das Verhältnis zwischen Israelis und Palästinensern an der Elle dieser hehren Ideale zu messen.“

Diese Gedanken könnten so auch von Achille Mbembe stammen, er sagt dasselbe mit anderen Worten. Nach den dogmatischen Maßstäben und Kriterien der deutschen Antisemitismusjäger Lorenz Deutsch, Felix Klein und auch anderer sind auch die Ausführungen von Beit-Hallahmi reiner Antisemitismus, aber diesen Vorwurf an einen renommierten israelischen Psychologen zu richten, ist da doch schwierig und vermessen, wenn nicht sogar absurd und äußerst dumm. Die Kritik dieser beiden an Mbembe belegt aber sehr deutlich, in wie engen dogmatischen Bahnen in Deutschland die Auseinandersetzung mit Israel verläuft. Sie reduziert sich auf drei Fragen: Wird der Holocaust relativiert? Wird der Staat Israel mit dem früheren Apartheidstaat Südafrika gleichgestellt? Und: Wird das Existenzrecht Israels geleugnet? Fallen die Antworten negativ aus, steht das vernichtende Urteil fest: Antisemitismus! Differenzierungen in der Argumentation sind nicht erlaubt.

Mbembe warnt vor einer solchen schlichten und bösartigen Aburteilung. Im Rechtsstaat dürfe niemand Gegenstand öffentlicher Anschuldigungen sein, wenn es keinen eindeutigen Beweis für das Verbrechen gebe, das man jemanden vorwerfe. Wenn aber ein Verbrechen vorliege, sei das Sache der Justiz. Der afrikanische Philosoph sieht deshalb in klarer Ansprache auf Lorenz Deutsch, Felix Klein und ganz allgemein auf die Hexenjagd in Deutschland auf „Antisemiten“ bezogen die Grundprinzipien einer liberalen Gesellschaft infrage gestellt: „Das gilt insbesondere für die beiden Grundfreiheiten, ohne die eine Ausübung der Demokratie und der Schutz individueller Rechte nicht möglich sind: die Gedanken- und die Gewissensfreiheit.“

Und er fährt unter Berufung auf Immanuel Kant fort: „Wenn Denken oder Glauben nicht mehr frei ausgeführte Handlungen des Subjekts sind, sondern ein Nachbeten von Katechismusartikeln ohne Überzeugung, und wenn Dissens ein Vorwand für Repression sein kann, dann gibt es keine Gewissensfreiheit mehr. Für mich gehört die Verweigerung einer Zusammenarbeit mit Personen und Institutionen, die an der kolonialen Besatzung eines Volkes durch ein anderes Volk beteiligt sind, zur Ausübung von Gewissensfreiheit.“

Dahin hat die Antisemitismus-Hysterie und die Hetze gegen die Vertreter des Universalismus als „Antisemiten“ geführt, dass ein afrikanischer Humanist und Philosoph bei den politisch Verantwortlichen in Deutschland die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien anmahnen muss und was die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus angeht, die notwendige Wachsamkeit nicht mit dem blinden Nachbeten von Dogmen und der Anwendung von Repression zu verwechseln. Achille Mbembe ist ein würdiger Kandidat für den diesjährigen Friedenspreis des deutschen Buchhandels.