Die Mainstream-Medien in Deutschland (und auch mehrheitlich im westlichen Ausland) tun sich noch immer schwer, die Realitäten im Gazastreifen anzuerkennen: dass dort ein klarer Fall von Völkermord vorliegt. Da hilft es auch nicht, dass so gut wie alle großen westlichen Menschenrechtsorganisationen (vor allem Amnesty International, Human Rights Watch und die israelische Organisation Betselem) sowie die UNO diesen Sachverhalt bestätigen – und sogar sechs sehr renommierte jüdische Holocaust-Historiker: Omer Bartov, Amos Goldberg, Ahmuel Lederman, Lee Mordechai, Raz Segal und Barry Trachtenberg.
Arne Hoffmann hat sich in seinem Buch das Ziel gesetzt, die israelischen Kriegsverbrechen schonungs- und rücksichtslos aufzudecken und beim Namen zu nennen (wobei er auch klar und eindeutig das Hamas-Massaker vom 17. Oktober 2023 als Kriegsverbrechen verurteilt). Dem Autor gelingt es in hervorragender Weise, die selbst gestellte Aufgabe zu erfüllen, auch wenn er sich eingesteht, dass die Aufarbeitung von Israels Völkermord erst ganz am Anfang steht und die Historiker noch lange beschäftigen wird. Aber was seine Recherchen ergeben haben, ist so erschreckend und entsetzlich, dass man sich vor allem fragen muss: Wie ist es möglich, dass ein Volk, das in der Geschichte so gelitten hat und sich zu den zivilisierten Nationen der westlichen Hemisphäre zählt, solche barbarischen Kriegsverbrechen begehen kann.
Und man muss gleich die Frage hinzufügen: Wie ist es möglich, dass die westliche Staatengemeinschaft, die sich ständig auf ihre humanen Werte beruft, einen solchen Genozid nicht nur zulassen kann, sondern ihn sogar moralisch unterstützt und – hier sind vor allem die USA und Deutschland angesprochen – sogar die Waffen für Israels Verbrechen liefert. Und Gipfel des monströsen israelischen Zynismus: dass dieser Staat sich bei seinem mörderischen Vorgehen noch rechtfertigend auf den Holocaust beruft! Was den italienischen Historiker Enzo Traverso empört zu der Anmerkung veranlasste: „Die Erinnerung an einen Genozid zu mobilisieren, um einen anderen Genozid in der Gegenwart zu billigen, ist etwas Neues und historisch noch nie Dagewesenes.“
Arne Hoffmann beschreibt die Kriegsverbrechen des zionistischen Staates im Detail mit Hilfe von israelischen und internationalen Quellen: das rücksichtslose Morden an der Bevölkerung, das selbst vor Frauen und Kindern keinen Halt macht; die Zerstörung aller Lebensgrundlagen, einschließlich der landwirtschaftlich bebauten Flächen; die Bombardierung von Wohnhäusern, Kliniken, Bildungseinrichtungen, Moscheen und sogar von Friedhöfen; den Einsatz von Hunger und Wasserentzug als Kampfmittel, die Verweigerung jeder medizinischen Hilfe sowie die furchtbaren Zustände in den israelischen Folterlagern, in denen palästinensische Gefangene martialisch gequält werden. All dies sind schlimme Verstöße gegen die Menschenrechte und das Völkerrecht.
Der Autor lässt aus seinen Quellen auch die von völliger Empathielosigkeit und Rachegefühlen geprägte Stimmung in Israel deutlich werden: Während die meisten Menschen dort den Vorwurf eines Völkermordes zurückweisen, befürwortet eine große Mehrheit zugleich aber das Niederbomben, Töten und Vernichten der Palästinenser im Gazastreifen. Wegen des Hamas-Massakers am 7. Oktober 2023 werden alle Palästinenser als schuldig angesehen, deshalb ist die Mehrheit auch der Meinung, dass der Völkermord gerechtfertigt ist. Dazu passen die Verhaltensweisen der Soldaten im Kampfgebiet, die sich freudig und lachend ihrer grausamen Mordaktionen rühmen, sie filmen und dann in die sozialen Medien stellen.
Selbst das Umbringen von Kindern ist kein Tabu. Ein israelischer Kommandant rechtfertigt ein solches Vorgehen, weil sie ja als Erwachsene alle Hamas-Kämpfer werden könnten. Auch in den israelischen Medien wird freimütig das Morden gutgeheißen. Da stellt sich automatisch die Frage, wie verroht eine Gesellschaft sein muss, um zu so etwas fähig zu sein. Und welche Auswirkungen das genozidale Vorgehen in Gaza weiter auf die psychische Verfasstheit der israelischen Gesellschaft haben wird. Aber es sei hier darauf hingewiesen, dass der Zionismus immer die Auffassung vertreten hat, sich an allgemeine oder universalistische Gesetzmäßigkeiten nicht halten zu müssen. So wie der zionistische Politiker Bert Katznelson es formuliert hat: Der Zionismus müsse gegen den Strom agieren und gegen den Willen der Mehrheit bzw. gegen den Gang der Geschichte seine Ziele erreichen. Er unterliege „anderen Maßstäben“ als der formalen Moralität.
Die Berechtigung zu ihrem genozidalen Verhalten leiten die Israelis aus der tiefen kolonialistisch-rassistischen Verachtung der Palästinenser ab. Während sie selbst sich als zivilisiertes Kulturvolk ansehen, sind die Palästinenser „Tiere“, „Schweine“ und „Kakerlaken“. Ein kritischer israelischer Journalist, den Hoffmann zitiert, schreibt: „Es gibt hier in Gaza eine totale Entmenschlichung. Man behandelt die Palästinenser nicht wirklich als menschliche Wesen.“ Abgesehen davon, dass ein Menschenleben im Gazastreifen nichts wert ist, so erniedrigt man die Menschen dort auf jede nur denkbare Weise: Der palästinensische Arzt eines Krankenhauses beispielsweise wurde von Soldaten gezwungen, sich als Hund auf den Boden zu knien und aus einem Napf zu (fr)essen. Und die Medien im Westen wissen von all dem nichts.
Der Menschenrechtsanwalt Craig Mokhiber, der lange bei der UNO gearbeitet hat, wirft den westlichen Medien deshalb vor, durch ihre verharmlosenden oder sogar falschen Berichte über das Geschehen in Gaza Teil des Mechanismus des Völkermords zu sein: „Die westlichen Medien haben sich unbestreitbar bewusst dafür entschieden, den Völkermord vor ihrem Publikum zu verbergen, die palästinensischen Opfer systematisch zu entmenschlichen und die israelischen Täter vor der Rechenschaftspflicht zu bewahren. Die Garantie der Meinungsfreiheit schützt aber nicht vor der Aufstachelung zu Kriegsverbrechen, zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit und zum Völkermord. Diese Handlungen können und müssen strafrechtlich geahndet werden.“
Es ist sehr aufschlussreich, wie Israel sich gegen die Vorwürfe des Völkermords vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) verteidigt: Alle zivilen Objekte und auch die Zivilisten selbst im Gazastreifen sind in Wirklichkeit „menschliche Schutzschilde“. Jedes Haus dort ist ein mutmaßliches Versteck der Hamas, jedes Krankenhaus ein mutmaßliches Waffendepot, jede Moschee ein Tunnelpfeiler, jede Schule eine Raketenabschussrampe, und deswegen sind sie zum Töten bzw. und zur Zerstörung freigegeben. Was heißt: alles, was sich über der Erde dort befindet, ist ein potentielles Schutzschild der Hamas. Der britische Politologe Nicola Perugini und der israelische Rechtswissenschaftler Neve Gordon, die der Autor zitiert, beurteilen diese Argumentation so: „Wenn der internationale Rechtsapparat dazu benutzt werden kann, Handlungen zu rechtfertigen, die ein Volk ‚ganz oder teilweise‘ vernichten können, dann wird die regelbasierte Ordnung, die nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen wurde, um den Krieg nach humanitären Grundsätzen zu regeln, zu einem Werkzeug zu ihrem eigenen Verderben.“
Wer es immer noch nicht wahrhaben will, dass in Gaza ein Völkermord geschehen ist und weiter geschieht, und der Israels genozidales Vorgehen für angemessen und gerecht hält, sollte dieses Buch in die Hand nehmen, das auf 327 Seiten und einem wissenschaftlichem Apparat von 71 Seiten unwiderlegbar nachweist, wie Israel im Gazastreifen dabei ist, nicht nur Rache für das Hamas-Massaker zu nehmen (nach dem Völkerrecht müsste die Selbstverteidigung Israels durch das Prinzip der Verhältnismäßigkeit gedeckt sein!), sondern ein ganzes Volk zu vernichten bzw. seine überlebenden Reste im wahrsten Sinne des Wortes in die Wüste zu jagen. Arne Hoffmann belegt mit seinem wichtigen Buch die alte Weisheit, dass wer aus Rache auszieht, das Böse zu vernichten, selbst zum Bösen wird.
Arne Hoffmann: Gaza: Völkermord als Staatsräson. Eine Betrachtung aus menschenrechtlicher Perspektive, Idgada-Verlag, Vertrieb Amazon, 15,94 Euro