Es kommen zurzeit nicht viele gute Nachrichten aus dem Nahen Osten, aber dass der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag Haftbefehle gegen den israelischen Regierungschef Netanjahu und seinen Ex-Verteidigungsminister Gallant erlassen hat, ist eine. Der zugleich erlassene Haftbefehl gegen den Hamas-Führer Ibrahim al-Masri steht nur auf dem Papier, denn er lebt offenbar nicht mehr. Die Vorwürfe gegen die beiden israelischen Spitzenpolitiker sind mehr als erwiesen: gezielte Tötungen, Hunger als Kriegswaffe sowie Vernichtung/ Mord – auch von Zivilisten. Denn aus dem Rachefeldzug gegen den Gazastreifen wegen des Hamas-Massakers, den Israel als „Selbstverteidigung“ ausgibt, ist längst in der Tat ein Vernichtungsfeldzug gegen ein ganzes Volk geworden.
Diese Vorwürfe des IStGH sind fast noch zu milde formuliert. Denn der Vorwurf des gezielten Völkermordes beherrscht den internationalen Diskurs. Die meisten Völkerrechtler sind sich über diesen Tatbestand auch einig. Und sogar israelische Holocaust- und Genozidforscher wie Omer Bartov, Amos Goldberg und Raz Segal sehen die Kriterien für einen Völkermord erfüllt. So sieht Bartov in der Attacke auf den Gazastreifen einen klaren Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht. Israel müsse sich „Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ vorwerfen lassen. Seine Armee habe „keinen Freibrief für die massive Tötung von Zivilisten, sei es direkt oder durch den Entzug von Nahrung und Wasser.“
Das endgültige Urteil des IGH steht noch aus, wird aber sicher in diese Richtung gehen. (Der IStGH ist vom Internationalen Gerichtshof (IGH) – auch in Den Haag – zu unterscheiden. Ersterer verfolgt Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Verbrechen der Aggression und Kriegsverbrechen. Der IGH ist das wichtigste Rechtsprechungsorgan der UNO. Er verhandelt zwischenstaatliche Streitigkeiten und erstellt Rechtsgutachten zu völkerrechtlichen Fragen.)
Und Netanjahu, Gallant und andere israelische Spitzen-Politiker und Militärs hatten ja vor ihrem Gaza-Feldzug schon klar ausgesprochen, was sie vorhatten: Da war die Rede vom „Kampf gegen Tiere“; dem Entzug von Strom, Wasser und Lebensmitteln; von der Absicht, „Gaza dem Erdboden gleichzumachen“ und den „Bewohnern dort das Rückgrat zu brechen“; der Region sollte „die Hölle bereitet werden“; man erwog den Einsatz von Epidemien gegen die Palästinenser dort; sprach vom Abwerfen von hunderten Tonnen Bomben auf Gaza, wobei der „Fokus auf Zerstörung und nicht auf Genauigkeit“ liege; Netanjahu verglich den bevorstehenden Feldzug mit dem „Krieg gegen Amalek“, einen biblischen Feind, dessen Männer, Frauen und Kinder die antiken Israelis auf Geheiß ihres Gottes vernichten sollten. Allein diese Sätze kündigen schon die Absicht von Kriegsverbrechen und Völkermord an. Die israelische Armee – die „moralischste der Welt“, wie sie sich selbst bezeichnet – hat diese Ankündigungen dann auch in die Tat umgesetzt.
Israel ist nicht Mitglied des IStGH und hat die diesem Gericht zugrunde liegenden Römischen Verträge nicht unterzeichnet. Aber das wird Netanjahu und Gallant nicht helfen, sie werden sich in nicht mehr vielen Staaten der Welt aufhalten können, wenn sie einer Verhaftung entgehen wollen. Und Israel steht jetzt an dem Pranger, an den es schon lange gehört: ein Staat der Kriegsverbrechen und des Völkermords, auch wenn letzterer Vorwurf vom IGH erst noch bestätigt werden muss. Den Staat Israel wird der Strafbefehl aus Den Haag weiter internationale isolieren. Die Reaktion der zionistischen Elite auf den Gerichtsspruch war vorauszusehen: eine infame Verleumdung und Verschwörung von Israels Feinden, „die ganze Welt ist gegen uns!“ und „da sind üble Antisemiten in Den Haag am Werk!“.
Aber das Argument, dass Israel mit seinem Krieg gegen den Gazastreifen sich nur „selbst verteidigt“, nimmt heute kaum noch jemand ernst. Fast 50 000 Tote dort, etwa 100 000 Verletzte, eine völlig zerstörte, nicht mehr bewohnbare Region und eine Bevölkerung, die ohne Dächer über den Köpfen in Elend und Hunger dahinvegetieren muss, sprechen eine deutliche Sprache.
Das Erlassen des Verhaftungsbefehls des IStGH ist auch eine schwere Niederlage für die deutsche Politik. Der Horror, den Israel in Gaza angerichtet hat, hat sie nicht zur Kenntnis genommen, man stand weiter loyal und in Treue fest zu Israel. Aber die Ampel-Regierung kann sich nicht rausreden: Sie hat durch die moralische Unterstützung und die Waffenlieferungen an den zionistischen Staat ihren Teil zu den Kriegsverbrechen dort beigetragen, die Netanjahu und Gallant jetzt vorgeworfen werden. Deutschland ist Mittäter in diesem furchtbaren Morden. Seine „Staatsräson“ gegenüber Israel verpflichtet es dazu. Durch den Haftbefehl gehen der Regierung und den Behörden auch die Argumente für ihre Repression gegen demonstrierende Palästina-Sympathisanten aus. Denn wer kann ernsthaft gegen Proteste gegen gesuchte Kriegsverbrecher sein?
Es ist der erste Gau für die deutschen Israel-Politik, der zweite Supergau wird folgen, wenn der Internationale Gerichtshof (IGH) bestätigen wird, dass Israel Völkermord in Gaza begangen hat und auch noch begeht – dieses Urteil ist nach dem jetzigen Spruch des IStGH höchst wahrscheinlich. Kanzler Scholz‘ Versicherung, dass Israel eine Demokratie sei und sich in Gaza an das Völkerrecht und die Menschenrechte halte, klingt da wie blanker Hohn.
Entlarvt wird mit dem Haftbefehl aus Den Haag aber auch die Doppelmoral des Westens. Denn groß war der Jubel als das Gericht einen Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Putin wegen seines Ukraine-Krieges erließ. Zu Israels Verbrechen schwieg man nicht nur, man duldete sie und unterstützte sie sogar mit Waffen. Dieser Heuchelei hat der IStGH mit seinem Spruch nun ein verdientes Ende gesetzt.
21.11.2024