Das Vernichtungslager Auschwitz ist ein Schreckensort, der zeigt, wozu der Mensch in der Lage ist, seinesgleichen anzutun. Er ist aber auch eine universalistische Mahnung, dass dergleichen nie wieder passieren darf. Ein Ort, der lehrt, dass man allem Bösen, zu dem Menschen fähig sind, eine totale Absage erteilen muss: also Hass und Verachtung der Mitmenschen, die zu Gewalt und im Extrem zu Kriegen und genozidalem Mord führen können.
Darüber sollte als Schussfolgerung aus dem Holocaust global eigentlich Konsens bestehen. Aber das ist keineswegs der Fall. Gerade Angehörige des Volkes, das in Auschwitz am meisten gelitten hat, kommen dorthin, nicht um vom Besuch dieser ehemaligen Todesfabrik die Botschaft von Humanität, Gerechtigkeit, Brüderlichkeit und Toleranz mit nach Hause zu nehmen, sondern sich ausgerechnet an diesem Ort mit nationalistischem Hass aufzuladen.
Der israelische Historiker Tom Segev und seine Kollegin Idith Zertal haben beschrieben, was in jedem Jahr am 27. Januar im Gedenken an die Befreiung des Lagers in Auschwitz geschieht. Der israelische Staat schickt aus diesem Anlass Gruppen von Schülern zu einer Pilgerreise dorthin. In violetten Sweat-Shirts mit einem großen stilisierten Davidstern und dem Wort Israel (in lateinischer Schrift) auf dem Rücken marschieren sie – die israelische Fahne schwenkend – in fast militärischer Ordnung ins Lager.
Die Botschaft, die die Schüler dort lernen sollen, ist: Israel hat sich erschaffen und definiert als das absolut Gute im Angesicht des absolut Bösen des Holocaust. Die Reise nach Auschwitz soll die jungen Leute lehren – so will es die staatliche Regie hinter dem Unternehmen – , dass sie dort ihren zionistischen Nationalismus stärken und dann als im eigenen Nationalbewusstsein bestätigte Juden und Israelis zurückkehren: “Immunisiert in ihrer Bereitschaft zu eigenen schlechten Taten, die sie begehen werden müssen, um den Staat vor einem zweiten Holocaust zu schützen oder auch nur vor allen angeblichen Vorboten eines solchen.“ (Idith Zertal) Da taucht unwillkürlich die Frage auf: Wie viele von den jungen Israelis, die diese Botschaft in ihrer Erziehung in Israel und dann bei ihrem Besuch in Auschwitz aufgenommen haben, waren und sind jetzt und beim Genozid im Gazastreifen dabei und haben dort ihre „Pflicht“ getan?
Tom Segev beschreibt, wie die Indoktrination in Auschwitz immer wieder abläuft: „Die Schüler hörten dort nicht, dass das Recht auf Selbstbestimmung ein Grundrecht jedes Volkes ist. Immer aufs Neue schärfte man ihnen ein, was der Holocaust für sie zu bedeuten hat: in Israel zu bleiben. Man führte ihnen nicht vor Augen, dass sie der Holocaust dazu verpflichte, die Demokratie zu stärken, Rassismus zu bekämpfen, Minderheiten und Bürgerrechte zu schützen und rechtswidrigen Befehlen den Gehorsam zu verweigern.“
Die Holocaust-Überlebende Miriam Jahav, die die Schüler bei einem Besuch begleitete, erzählte ihnen, dass es das Beste wäre, die Araber aus dem Land zu jagen – auf Lastwagen, wenn sie wollten oder sonst wie. Hauptsache, sie verschwänden. Tom Segev bilanziert, was die Schüler in Auschwitz gelernt hatten: „Sie brachten aus Polen nur das zurück, was Moshe Dayan 1956 am Grab eines Soldaten gesagt hatte, der bei einem Zusammenstoß mit Arabern in der Nähe des Gazastreifens getötet worden war: ‚Millionen Juden, die getötet wurden, weil sie kein Land hatten, blicken nun aus dem Staub der israelischen Geschichte auf uns und befehlen uns, ein weiteres Mal ein Land für unser Volk zu besiedeln und zu bebauen.‘“ Was heißt: Die Toten des Holocaust „befehlen“ den Israelis, palästinensisches Land zu rauben und es zu besiedeln! Dayan hatte hinzugefügt, Leben in Israel sei nur mit Stahlhelm, Geschützen, Stacheldraht und Maschinengewehren möglich. Die Israelis müssten gefasst und bewaffnet sein, stark und unnachgiebig. Sollte das Schwert aus ihren Händen gleiten, werde „unser Leben“ ausgelöscht. Begriffe wie Versöhnung, Interessenausgleich und Frieden kamen in seiner Rede nicht vor.
Idith Zertal beschreibt, wie sehr Dayan hier die Opfer des Holocaust für die israelische Politik instrumentalisiert: „Dayans Schlussfolgerung bestand in der deterministischen, ahistorischen Feststellung, es sei die ‚Bestimmung‘ und Schicksal einer ganzen Generation, das Schwert zu tragen und ‚stark und unbeugsam‘ zu sein. Dayan mache die Holocaustopfer so kraft der Einmaligkeit des historischen Ereignisses ihrer Ermordung durch die Nazis zum höchsten und ehernen Legitimierungsgrund für die Existenz Israels. Und gleichzeitig würden die Opfer des Holocaust rekrutiert, um Mitwirkende an der israelischen Politik zu sein. Sie würden „befehlen“, dies oder jenes zu tun, ganz nach dem Gutdünken desjenigen, der sich ihrer bediene, womit sie zu austauschbaren Instrumenten würden, verfügbar und einsetzbar für jeden Zweck und jede Bestimmung.
Kann das die Botschaft des Holocaust sein? Die jährlichen Visiten der israelischen Schüler sind also kein stilles Gedenken der Millionen Toten des monströsen Nazi-Verbrechens mit entsprechenden humanen Schlussfolgerungen, sondern ein nationaler zionistischer Aufmarsch, bei dem zu Hass und Verachtung anderer Menschengruppen aufgerufen wird. Einer, der schon oft daran teilgenommen hat, kann diesmal allerdings nicht dabei sein: Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Denn der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag (IGH) hat im November 2024 Haftbefehl gegen ihn und seinen früheren Verteidigungsminister Yoav Gallant erlassen. Sie werden beschuldigt, im Gazastreifen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben und müssen bei Auslandsreisen mit ihrer Festnahme rechnen.
Was für eine historische und moralische Paradoxie! Der Regierungschef des Staates, der seine Existenz auf das Vermächtnis des Holocaust zurückführt, der die Einzigartigkeit dieses Verbrechens behauptet und seine Staatsräson daraus ableitet – der Staat, der 1950 die Völkerrechtskonvention unterzeichnet und sich stets dafür eingesetzt hat, dass der Begriff Völkermord in das Völkerrecht aufgenommen wird, hat nun selbst einen Genozid begangen – daran lassen internationale Menschenrechtsorganisationen, Völkerrechtler und sogar israelische Holocaust-Historiker (Omer Bartov, Amos Goldberg und Raz Segal) keinen Zweifel, wenn man nicht schon die Nakba von 1948 als Genozid bezeichnet. Nicht nur das. Der Genozid im Gazastreifen wird sogar mit der Berufung auf den Holocaust gerechtfertigt. Denn Israel gibt ja an, dort gegen „Nazis“ zu kämpfen, womit natürlich die Hamas gemeint ist. Der italienische Historiker Enzo Traverso merkt dazu empört an: „Die Erinnerung an einen Genozid zu mobilisieren, um einen anderen Genozid in der Gegenwart zu billigen, ist etwas Neues und historisch noch nie Dagewesenes.“
Was für eine Wende in der historischen und moralischen Sicht auf den Holocaust! Auch wenn man den Völkermord im Gazastreifen nicht mit dem Holocaust gleichsetzen kann, die Tatsache, dass Israel selbst nun einen Völkermord begangen hat, nimmt dem zionistischen Staat aber dennoch das Privileg, die Einzigartigkeit des Holocaust zu behaupten, und dieses Faktum stellt die Opferrolle, die Israel stets für sich in Anspruch genommen hat, in Frage. Israel kann nicht mehr behaupten, das einzige Opfer eines Völkermordes zu sein! Soll heißen: Dieser Staat ist nicht Opfer, sondern Täter! Die ganze Gedenk-Ideologie, die er aus dem Holocaust abgeleitet hat, gerät damit ins Wanken, auch der Anspruch, das Monopol auf Völkermord zu besitzen.
Israels Genozid bringt auch einen ideologischen Schutzwall zum Einbruch, der für Israel eine äußerst wichtige Strategie darstellt: Mit Berufung auf den Holocaust konnten die Israelis jede Kritik an ihren seit Jahrzehnten begangenen völkerrechts- und menschenrechtswidrigen Verbrechen an den Palästinensern abwehren, indem man stets zum Antisemitismus-Vorwurf als politische Waffe griff. Dieses Schwert ist durch Israels Genozid in Gaza sehr stumpf geworden. Kritik an Israels Politik und seinem militärischen Vorgehen war – wenn sie sich nicht auf antisemitische Stereotypen stützte – nie antisemitisch. Sie klagte immer nur die Einhaltung von Recht und Moral ein. Daraus Antisemitismus zu konstruieren, war und ist infam und stellt die Realität auf den Kopf, indem sie zynisch Gut und Böse vertauscht.
Der Holocaust war für Israel auch immer das entscheidende Moment, das ihm Straffreiheit bei bei allen seinen Verbrechen verschaffte. Auch diese Strategie wird künftig nicht mehr aufrechtzuerhalten sein. Unter Berufung auf den Holocaust zu behaupten, dass diesem Staat „alles erlaubt!“ sei, war immer ein moralischer Hohn, jetzt hat dieser Anspruch jede Glaubwürdigkeit verloren. Zieht man eine Bilanz nach Israels barbarischem Wüten im Gazastreifen, kann sie nur lauten: Israel mag den Krieg dort militärisch gewonnen haben, moralisch hat es ihn verloren, er war eine schreckliche Niederlage für diesen Staat, auch wenn diese Erkenntnis noch einige Zeit braucht, sich international und besonders in Israel und Deutschland durchzusetzen.
Auch für die Sicht auf den konkreten Schreckensort Auschwitz hat das moralische Fiasko, das der Gaza-Krieg Israel eingebracht hat, beträchtliche Folgen: Die israelischen Schüler können dort nicht mehr als Angehörige eines Opfervolkes auftreten. Tun sie es dennoch, wäre es Hybris und blanker Zynismus. Nach Israels Völkermord im Gazastreifen wird es Zeit, sich wieder an die eigentliche Botschaft des Symbols Auschwitz zu erinnern: die Opfer dieses Genozids nicht als beliebige Statisten für alle möglichen politisch-ideologischen Strategien – auch äußerst unmenschliche – zu missbrauchen, sondern der Opfer um ihrer selbst willen ohne irgendwelche Absichten und Ziele trauernd zu gedenken, ihr humanes Vermächtnis zu verstehen und zu verbreiten und sie in Frieden ruhen zu lassen.
Aber auch für die deutsche Sicht auf den Holocaust hat Israels Völkermord beträchtliche Konsequenzen, die sich aus der überaus engen deutschen Identifizierung mit diesem Staat ergeben. Die deutsche Politik hat sich ja deshalb so eng an Israel angelehnt, weil sie Sühne für den Holocaust erlangen wollte. Diese „Anlehnung“ geht bis zur völligen Identifizierung mit dem zionistischen Staat. Moshe Zuckermann stellte fest: „Wenn man selbst Jude sein darf, ist man nicht mehr ‚Täter‘, sondern ‚Opfer‘, hat somit etwas nagend Quälendes an sich ‚wiedergutgemacht.‘“ Der indische Philosoph Mishra Pankaj geht sogar so weit zu sagen, dass Deutschland seinen Nationalismus auf dem Weg der Überidentifizierung auf den israelischen Nationalismus übertragen habe.
Deutschland ist durch seine moralische Zustimmung zu Israels Vernichtungsfeldzug im Gazastreifen sowie die Waffenlieferungen zum Mittäter am Völkermord geworden. Wenn Israels Anspruch auf seine Opferrolle, die es aus dem Holocaust ableitet, durch den Genozid der Boden entzogen wurde, gilt dasselbe für Deutschland wegen der totalen Identifizierung mit diesem Staat. Dem ganzen Konstrukt der deutschen Holocaust-Erinnerung ist nicht zu reparierender Schaden zugefügt worden, wenn sie nicht sogar total unglaubhaft geworden ist. Und das Verhältnis zu Israel bedarf nach Gaza unbedingt einer völligen Neuorientierung.
Der israelische Historiker Alon Confino hatte das deutsche Fiasko schon vor dem 7. Oktober 2023 festgestellt: „Die offizielle deutsche Erinnerung an den Holocaust und ihr Umgang mit Antisemitismus, Israel und Palästina, wie sie sich heute darstellen, sind auf dem Weg ins Nichts. Es mangelt an Menschlichkeit für die Opfer, egal wer sie sind. Es kann in unserer Welt keine Rechtfertigung dafür geben, einer bestimmten Gruppe von Menschen gleiche Rechte zu verweigern. Die Verweigerung dieser Rechte implizit und explizit mit der Erinnerung an den Holocaust zu rechtfertigen, ist eine kreischende Dissonanz.“