Zum Holocaustgedenktag: Israel hat die Erinnerung zu einer ethnisch-nationalistischen Ideologie gemacht
Die Palästinenser als sekundäre Opfer des Holocaust werden vollständig ausgespart
Vor genau einem Jahr hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung des NS-Vernichtungslagers Auschwitz in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem eine Rede gehalten. Zu der Veranstaltung waren Regierungschefs aus der ganzen Welt gekommen. Steinmeier sagte das Übliche, das deutsche Politiker bei solchen Gelegenheiten in Israel zu sagen pflegen.
Er führte aus, dass es Deutsche waren, die den Holocaust – das „größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte“ – begangen hätten, bei dem sechs Millionen Juden und Jüdinnen dem „industriellen Massenmord“ zum Opfer gefallen seien. Er sprach dann von der „deutschen Schuld“, und wie dankbar er für die ausgestreckte Hand Israels zur Versöhnung mit Deutschland sei. Der Geist der Versöhnung habe Deutschland und Israel, aber auch Deutschland, Europa und den Staaten der Welt einen neuen friedlichen Weg gewiesen.
Steinmeier sagte dann wörtlich: „Weil ich dankbar bin für das Wunder der Versöhnung, stehe ich vor Ihnen und wünschte sagen zu können: Unser Erinnern hat uns gegen das Böse immun gemacht. Ja, wir Deutsche erinnern uns. Aber manchmal scheint es mir, als verstünden wir die Vergangenheit besser als die Gegenwart. Die bösen Geister zeigen sich heute in neuem Gewand. Mehr noch: Sie präsentieren ihr antisemitisches, ihr völkisches, ihr autoritäres Denken als Antwort für die Zukunft, als neue Lösung für die Probleme unserer Zeit. Ich wünschte sagen zu können: Wir Deutsche haben für immer aus der Geschichte gelernt.“ Als Beispiel für Nicht-Lernen aus der Geschichte bezeichnete er dann auch Kritik an Israel, „wenn unter dem Deckmantel angeblicher Kritik an der israelischen Politik kruder Antisemitismus hervorbricht.“
Er sagte dann wörtlich bezogen auf Antisemiten und rechtsradikale Täter: „Natürlich. Unsere Zeit ist nicht dieselbe Zeit. Es sind nicht dieselben Worte. Es sind nicht dieselben Täter. Aber es ist dasselbe Böse. Und es bleibt die eine Antwort: Nie wieder! Deshalb darf es keinen Schlussstrich unter das Erinnern geben. Diese Verantwortung ist der Bundesrepublik Deutschland vom ersten Tage an eingeschrieben. Aber sie prüft uns – hier und heute! Dieses Deutschland wird sich selbst nur dann gerecht, wenn es seiner historischen Verantwortung gerecht wird: Wir bekämpfen den Antisemitismus! Wir trotzen dem Gift des Nationalismus! Wir schützen jüdisches Leben! Wir stehen an der Seite Israels! Dieses Versprechen erneuere ich hier in Yad Vashem vor den Augen der Welt. Und ich weiß, ich bin nicht allein. Hier in Yad Vashem sagen wir heute gemeinsam: Nein zu Judenhass! Nein zu Menschenhass!“
Der israelische Journalist Gideon Levy von der Tageszeitung Haaretz hatte zu der Veranstaltung am Holocaust-Gedenktag einen Voraus-Artikel geschrieben. Er fand die richtigen Worte. Levy betonte, wie wichtig es sei, an die Vergangenheit zu erinnern, dabei dürfe man aber die Augen nicht vor der Gegenwart verschließen. Genau das warf er aber den in Yad Vashem versammelten Regierungschefs vor, also auch Steinmeier. Mit ihrem Schweigen, mit ihrer Missachtung der gegenwärtigen Realität und dem bedingungslosen Bekenntnis zu Israel würden sie die Erinnerung an die Vergangenheit verraten, in deren Namen sie nach Jerusalem gekommen seien. Wie könnten sie Gäste Israels sein, ohne die Verbrechen dieses Staates zu erwähnen; des Holocaust zu gedenken und gleichzeitig seine Lehren zu ignorieren; Jerusalem zu besuchen, ohne am Internationalen-Holocaust-Gedenktag in das Ghetto von Gaza zu reisen – könne man sich eine größere Heuchelei vorstellen? Es sei bedauerlich, dass die Regierungschefs es überhaupt nicht zur Kenntnis nähmen, was die Opfer des Holocaust einer anderen Nation zufügten.
Levy kritisierte dann, dass der israelische Regierungschef Benjamin Netanjahu ausgerechnet zum Zeitpunkt des Holocaust-Gedenktages Sanktionen gegen den Internationalen Strafgerichtshof (IGH) in Den Haag gefordert habe, weil dieser die Verbrechen Israels gegen die Palästinenser untersuchen wolle. Es muss in diesem Zusammenhang erwähnt werden, dass der IGH der Nachfolger der Gerichte ist, die zur Aburteilung der Verbrechen des Zweiten Weltkrieges – einschließlich des Holocaust – eingerichtet wurden.
Levy fuhr dann fort: „An diesem Gedenktag kommen führende Politiker der Welt zu einem Premierminister, der versucht, sie gegen den Gerichtshof in Den Haag aufzuhetzen. Es ist kaum vorstellbar, dass der Holocaust noch schlimmer genutzt wird, es ist kaum vorstellbar, dass ein größerer Verrat an seinem Andenken begangen wird als der Versuch, das Gericht in Den Haag zu untergraben, nur weil es seine Rolle erfüllen und Jerusalems Politik untersuchen will. Aber auch zu diesem Thema werden die Gäste ihr Schweigen bewahren. Einige von ihnen werden sich vielleicht davon überzeugen lassen, dass das Problem in Den Haag und nicht in Jerusalem liegt. Sanktionen gegen den Gerichtshof statt gegen den Besatzungsstaat. Man darf natürlich nie den Holocaust vergessen. Man darf auch nicht die Tatsache verschleiern, dass er sich gegen das jüdische Volk gerichtet hat. Aber genau aus diesem Grund darf man das Verhalten seiner Opfer gegenüber den sekundären Opfern des Holocaust der Juden, dem palästinensischen Volk, nicht ignorieren. Ohne den Holocaust hätten sie [die Palästinenser] ihr Land nicht verloren und wären heute nicht in einem gigantischen Konzentrationslager in Gaza gefangen oder würden unter einer brutalen militärischen Besatzung im Westjordanland leben.“
Levy ging dann auf den im Zusammenhang mit dem Holocaust immer wieder „bis zum Erbrechen“ zitierten Appell des „Nie wieder!“ ein und forderte die in Yad Vashem versammelten politische Prominenz auf, ehrlich die Augen nach Süden und Osten zu richten, nur wenige Kilometer von Yad Vashem entfernt: „Dort gibt es keinen Holocaust, nur Apartheid. Keine Vernichtung, sondern eine systematische Verrohung einer Nation. Nicht Auschwitz, sondern Gaza. Wie kann man das am Internationalen Holocaust-Gedenktag ignorieren? Es ist schwer zu glauben, dass es nicht einmal einem Weltführer in den Sinn gekommen ist, der wegen der Zeremonie nach Jerusalem kam, nach Gaza zu reisen. Wenn einer von ihnen den Mut dazu hätte, würde er oder sie das Gedenken an den Holocaust nicht weniger ehren als mit einem Besuch in Yad Vashem. Es gibt nicht viele Orte auf der Welt, an denen die Worte ‚nie wieder!‘ so nachhallen sollten wie in den Grenzen dieses riesigen Ghettos, das durch den Staat der Holocaust-Überlebenden entstanden ist. Nicht nach Gaza zu gehen und zu sehen, was dort geschieht? Sich nicht mit dem Schicksal von zwei Millionen Menschen zu identifizieren, die seit 14 Jahren in einem Konzentrationslager, eine Stunde von Jerusalem entfernt, eingesperrt sind? Wie ist das möglich? Nicht in Gaza ‚nie wieder!‘ zu weinen? Wie kann man das nicht?“
Levy schloss dann: „Man musste heute nach Israel kommen, um die Welt an den Holocaust zu erinnern, aber auch an das Schweigen. Gegen dieses Schweigen sollte man aufschreien: ‚Nie wieder!‘ Der Holocaust darf sich nie wiederholen, aber das peinliche Schweigen dauert an, auch an diesem Gedenktag in Jerusalem.“
An diesen Aussagen von Steinmeier und Levy lässt sich das ganze Dilemma der deutschen Erinnerungspolitik ablesen. Denn sie ist völlig einseitig auf Israel ausgerichtet, auf das partikulare nationalistische Gedenkinteresse dieses Staates. Wenn der Holocaust – ein Verbrechen gewaltigen Ausmaßes – ein Menschheitsverbrechen, ein „Zivilisationsbruch“ war, dann muss es die gesamte Menschheit angehen und nicht nur Israel. Das heißt, das Gedenken muss universalistischen Charakter haben. Statt des israelischen Credos „Das darf uns Juden nicht mehr passieren!“ muss es heißen „Das darf keinem Menschen auf dieser Welt mehr passieren!“ Diese Schlussfolgerung aus dem Holocaust zieht die deutsche Erinnerungspolitik aber nicht, sondern sie unterwirft sich dem israelischen Anspruch, das Monopol über das Holocaust-Gedenken zu haben.
Niemand hat das israelische Gedenken schärfer kritisiert als der Israeli Moshe Zuckermann. Sein Credo eines richtigen, also authentischen Erinnerns lautet: „Man erinnert die Opfer [des Holocaust oder anderer solcher Genozide] nur dann, wenn man des Wesens der historischen Situation gedenkt, die wehrlose Opfer hat entstehen lassen, um daraus zu folgern, dass es solche Situationen niemals mehr geben darf, und das heißt: dass Gegengewalt überflüssig geworden ist wie Gewalt selbst.“ Um diese Aussage kreist Zuckermanns Denken, und er führt sie in seinen Schriften in immer neuen und erweiterten Begriffen aus.
Zuckermann geht davon aus, dass die gegenwärtige Erinnerung sich dem zu Erinnernden [den Opfern des Holocaust] stets wesenhaft entfremdet, das heißt: für fremdbestimmte Zwecke instrumentalisiert wird und deshalb nicht als legitim angesehen werden kann. Ein solcher Umgang mit der Vergangenheit ist dann schlicht unzulässig. Erinnerung kann nur dann als legitim bezeichnet werden, wenn sie Opfer im Stande ihres Opfer-Seins und die Täter im Stande ihres Täter-Seins erinnert. Das bedeutet aber, jene historischen Zusammenhänge zu ergründen, welche Menschen letztlich Täter bzw. Opfer hat werden lassen.
Erinnern in diesem Sinn muss immer einen emanzipatorischen Charakter haben: Es muss die Strukturen aufdecken, die unter bestimmten historischen Bedingungen zu dem Genozid geführt haben. Und diese Strukturen, davon ist Zuckermann überzeugt, sind noch keineswegs aus der Welt geräumt, sodass eine Wiederholung des staatlich angeordneten Massenmordes jederzeit möglich ist. Bei dem adäquaten Erinnerungsakt kann es sich also um nichts anderes handeln als um eine jene Strukturen radikal bekämpfende, sie aus der Welt zu räumen bestrebte politische, soziale und kulturelle Praxis.
Den Gipfel des „perfiden Shoa-Gedenkens“ sieht Zuckermann gegeben, wenn die israelische Politik sogar die barbarische Unterdrückung der Palästinenser und die fortwährenden Menschenrechtsverletzungen gegenüber diesem Volk mit dem Holocaust legitimiert: „Sich selbst als Opfer wähnen, während man sich historisch zum Täter gewandelt hat, ist letztlich nichts weiter als moralischer Verrat an den historischen Opfern des eigenen Kollektivs, deren (beziehungsweise deren ‚Andenken‘) man sich perverserweise bedient, um die eigene gewaltdurchwirkte, immer neue Opfer erzeugende Politik zu rechtfertigen.“
An anderer Stelle sagt Zuckermann es in Bezug auf die Palästinenser noch deutlicher: „Das jüdische Kollektiv im Staat Israel ist es, welches der Konfrontation mit der entsetzlichen Wahrheit nicht entkommen kann, dass jede ‚Abnormität‘ im Gazastreifen, jedes Opfer eines ‚Schusses in die Luft‘ in der Westbank, jeder Akt brutaler Repression, der sich direkt oder indirekt aus dem Tatbestand der israelischen Okkupation ableitet, es – das jüdische Kollektiv in Israel – von der sittlich-humanen, ihm von den Holocaust-Opfern als verpflichtendes Erbe auferlegten Identität entfernt, um es in zunehmende Maße an eine der Mörder-Identität verschwisterte Mentalität zu ketten.“
Ein authentisches, also zweckfreies Erinnern in diesem Sinne praktizieren also weder Deutschland noch Israel. Die Gefahr ist deshalb groß, dass das Erinnern nicht nur in inhaltsleere Routine und hohle Lippenbekenntnisse umschlägt, sondern dass es auch zur Ideologie werden kann und damit zweckbestimmt wird. Beide Staaten sind dieser Gefahr in ihrer Erinnerungspraxis erlegen. Zuckermann wirft Israel vor, dass dieser Staat vom Anfang seines Bestehens an den Holocaust für seine Zwecke und Ziele instrumentalisiert hat. Denn man gedenke dort gar nicht mehr der historischen Opfer im Stande ihres Opferseins, sondern der Staat maße sich selbst den Status als „Opfer“ an, um daraus in jeder Weise politisches, wirtschaftliches und diplomatisches Kapital zu schlagen. Durch diese Praxis werde der Begriff des Opfer-Täter-Verhältnisses aufs Schändlichste entleert und nachgerade verkehrt.
Das israelische Erinnern ist also sehr kritikwürdig und sollte dem deutschen Erinnern zu denken geben. Denn Israel hat mit seinem Gedenken in eher neurotischer Art und Weise eine Entschuldungsideologie für sein gewalttätiges Vorgehen gegen die Palästinenser und für seine Politik des „Uns ist alles erlaubt!“ entwickelt. Diese Ideologie verdrängt die Realität in Palästina – eben den siedlerkolonialistischen Konflikt mit den Palästinensern, indem sie den Holocaust auf die Palästinenser projiziert, die damit gar nichts zu tun hatten, und sie zu den „neuen Nazis“ macht.
Der deutsch-jüdische Historiker Dan Diner hat diesen Verdrängungsprozess untersucht und beschreibt ihn so: „Das Grundmuster in der Konfliktwahrnehmung der überwiegenden Mehrheit der israelischen Juden ist im Wesentlichen Verleugnung des Geschehens – der Mittel und Maßnahmen des Kolonisationsprozesses, wie er gegen die arabisch-palästinensische Bevölkerung des Landes zur Herbeiführung eines jüdisch-nationalen Staatswesens durchgesetzt wurde; schließlich Verleugnung einer palästinensischen Existenz überhaupt. Ersetzt wird diese verleugnete Wirklichkeit in Palästina durch Deutungen, die mit den schrecklichen und wirklichen Erfahrungen der Juden, ihrer Verfolgung bis hin zum Versuch ihrer totalen Vernichtung in der Diaspora in Verbindung stehen. Sie wirken sich hinsichtlich der Wahrnehmung der Realität wie eine Plombe aus: sie dichten ab.“
Die jüdisch-zionistische Seite leugnet also die kolonialen Ursprünge und Verlaufsformen der von ihr begangenen Gewalt in Palästina und deutet den Konflikt als Fortsetzung der Geschichte außerhalb Palästinas. Der wirkliche Konflikt dort wird so seiner Bedeutung enthoben. Er wird instrumentalisiert, um seine Sinngebung aus dem Nahen Osten nach Europa zu verlagern. Die israelische Gegenwart wird auf diese Weise nicht aus den politischen Realitäten in der nahöstlichen Region heraus gedeutet, sondern mittels Metaphern aus der entsetzlichen Vergangenheit in Europa, also vor allem dem Holocaust. Das Mega-Verbrechen an den Juden durch die Nazis bestimmt ganz maßgeblich das Verständnis der Auseinandersetzung mit den Palästinensern und hilft dabei, die realen Ursachen des Konflikts und seine Austragungsformen zu verleugnen.
Es fand also eine historische Umkehrung statt. Die arabische Bevölkerung, die die Angegriffenen, die Verdrängten, Vertriebenen, Enteigneten und Kolonisierten waren und sind, wurden von der siedlerkolonialistischen zionistischen Seite in die Rolle der Angreifer versetzt. Die israelischen Juden nahmen sich selbst – entsprechend der langen Verfolgungsgeschichte der jüdischen Diaspora in Europa – als die Opfer wahr. Diese seelische Verschiebung oder Verkehrung von Tätern und Opfern macht es möglich, dass die jüdisch-zionistische Seite sich auch von jeder Schuld für die Verbrechen, die sie an den Palästinensern begangen hat und begeht, freisprechen kann, die eigene Schuld wird schlicht verleugnet. Die Vertreibung der Palästinenser wird mit Ereignissen in Verbindung gebracht, die ihren Grund in Europa haben. So kann Israel auch die politische Moral in Frage stellen, aus der heraus Kritik an seiner Politik geübt wird. Hier liegt bei den israelischen Juden das in der Psychoanalyse so bekannte Phänomen der Wiederkehr des Verdrängten vor: Geschichts- und Gegenwartsverfälschung hängen zusammen, weil alles, was in der Vergangenheit verdrängt wurde, in der Gegenwart nicht gesehen und wiederholt wird.
Diese Fakten sind ein Beleg dafür, dass die deutsche Politik das reale Israel gar nicht zur Kenntnis nimmt, sondern ein abstraktes Idealbild von diesem Staat hat – eine Projektion, die aus dem nach 1945 aus Schuldgefühlen hervorgegangenem Philosemitismus herkommt. Letztlich hat diese verstellte Sicht auch damit zu tun, dass die deutsche Politik und auch das deutsche Erinnern nicht zwischen Judentum, Zionismus und Israel unterscheidet. Falsche Schlussfolgerungen ergeben sich daraus automatisch.
Diese falschen Schlussfolgerungen prägen den deutschen politischen Alltag – vom devoten Verhältnis zu Israel als Ausgangspunkt: die Akzeptanz der eher zweifelhaften IHRA-Antisemitismus-Definition, der BDS-Beschluss des Bundestages, das Ausscheiden von Peter Schäfer aus dem Jüdischen Museum in Berlin, der „Fall“ Mbembe und die Hexenjagt auf vermeintliche Antisemiten. Letztere hat ein so vergiftetes politisches Klima geschaffen, dass die amerikanisch-jüdische Philosophin Susan Neiman sagen konnte: Eine Hannah Arendt und ein Albert Einstein dürften in Deutschland aus Angst vor dem Antisemitismus-Vorwurf nicht mehr in der Öffentlichkeit sprechen.
Diese äußerst negativen Erscheinungen hängen alle mit der großenteils missglückten Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit zusammen, die sich ausschließlich am Vorbild Israel orientiert. Die offizielle deutsche Erinnerungspolitik hat ein regelrechtes Holocaust-Dogma entwickelt, das die Einzigartigkeit dieses Genozids behauptet und zugleich unter Tabu stellt. Der Holocaust darf nicht mit anderen großen Verbrechen verglichen werden, obwohl Vergleichen nicht Gleichsetzen heißt. Zum Dogma gehört auch, dass Kritik an der israelischen Politik antisemitisch ist, womit ja letzten Endes das inhumane Vorgehen Israels gegen die Palästinenser gerechtfertigt wird.
Die Reaktionen auf den „Fall“ des afrikanischen Philosophen Achille Mbembe, dem man Relativierung des Holocaust vorwarf, weil er den Mord an den europäischen Juden von einem neokolonialen Standpunkt aus und damit in einem größeren Zusammenhang aus betrachtet und Parallelen zwischen der Apartheid in Südafrika und den Zuständen in Israel/Palästina gesehen hatte, belegte, wie engstirnig und brüchig dieses deutsche Dogma ist. Hier stieß die partikulare und provinzielle deutsche Israel-Ideologie mit dem universalistischen Denken eines großen Humanisten zusammen. Der beamtete deutsche Wächter über den Antisemitismus, der Antisemitismusbeauftragte Dr. Felix Klein, rechtfertigte sich mit dem Satz: „Etwas aus deutscher Sicht Falsches wird nicht dadurch richtig, dass es von außen kommt“. Mit anderen Worten: Klein setzt die deutsche Sicht auf den Holocaust als absoluten Maßstab an, der die ganze Welt verpflichten soll.
Die Publizistin Charlotte Wiedemann stellte angesichts einer solchen Hybris die einzig richtige Frage: „Warum fällt es so schwer zu dulden, dass Menschen, die nicht unsere Tätergeschichte haben, einen anderen Blick auf Israel haben?“, und fügte hinzu: „Heute steht das Erinnern an einer Gabelung zwischen einem verengten Denken, das alles auf den Fixpunkt Israel setzt, und einer neuen Weise, die Shoa in Beziehung zu setzen zu anderen epochalen Verlusten an Humanität.“
Der Rechtsprofessor Ralf Michaels verteidigte den afrikanischen Philosophen und seine Position. Er argumentiert, Mbembe habe nichts anderes gemacht, als den Holocaust in eine umfassende Verantwortung einzuordnen. Denn so leicht entlasse uns die postkoloniale Theorie nicht aus der Verantwortung für unsere Vergangenheit, und so leicht sollten wir es uns mit ihrer Ablehnung auch nicht machen. Wenn unsere deutsche Identität es uns unmöglich mache, den Dialog mit der postkolonialen Theorie zu führen, müssten wir uns fragen, ob wir die Lehre aus dem Holocaust wirklich gezogen hätten.
Michaels fügt dann hinzu: „Deutsche Diskutanten verlangen von anderen, die ‚Errungenschaft‘ einer spezifisch deutschen ‚Erinnerungskultur‘ nicht nur anzuerkennen, sondern zur Grundlage ihres eigenen Denkens und Sprechens zu machen. Da wir Deutschen für den Holocaust verantwortlich sind, nehmen wir uns das moralische Recht, anderen vorzuschreiben, was sie dazu zu sagen haben. ‚Eine Verabsolutierung der eigenen Erfahrung führt immer zur Relativierung der Erfahrung der anderen‘, schreibt ein Kritiker Mbembes und erkennt offenbar nicht, dass das weniger auf Mbembe und mehr auf ihn selbst zutrifft.“ Ein fruchtbarer Dialog mit denen, die von einem anderen Horizont aus argumentieren, ist so nicht möglich.
Den Vertretern und Verteidigern dieses deutschen partikularen Holocaust-Narrativs sind vermutlich die Schwächen und die Grenzen ihrer Argumentation bewusst und erklären deshalb ihr Holocaust-Narrativ einfach als universalistisch gültig, um sich gegen Kritik abzusichern. Was es aber gar nicht sein kann, weil es durch seine enge Anlehnung an Israel zum Beispiel die Palästinenser als sekundäre Opfer des Holocaust gar nicht mit einbezieht. Der Palästinenser Edward Said hat dieses Dilemma schon vor Jahren registriert und dazu angemerkt: „Aber für die heutigen Europäer und Amerikaner, die Israel wegen des Unrechts unterstützen, das den Juden angetan wurde, ziemt es sich nicht weniger, sich klar zu machen, dass sie mit dieser Unterstützung Israels gleichzeitig die Vertreibung und Enteignung des palästinensischen Volkes unterstützt haben und auch immer noch unterstützen.“
Deutschland trägt mit seiner symbiotischen Politik gegenüber Israel und mit der Akzeptanz und Übernahme des zionistischen Geschichts- und Erinnerungsbildes maßgeblich dazu bei, die inhumane Politik dieses Staates zu unterstützen, was ja letzten Endes, wie Gideon Levy und Moshe Zuckermann sagen, ein Verrat an den Opfern des Holocaust ist. Solange Israel den Holocaust nur für seine eigennützigen Zwecke instrumentalisiert (daraus eine nationalistische Ideologie gemacht hat), und nicht bereit ist, seine Geschichte mit den Palästinensern aufzuarbeiten, wird sich wegen der engen ideologischen Abhängigkeit Deutschlands von Israel das offizielle deutsche Erinnern nicht bewegen. Es wird partikularistisch einseitig bleiben. Aber das ist keine Lösung. Wie die Israelin Eva Illouz geschrieben hat: „Der Universalismus muss für die Zukunft der moralische Horizont sein,“ das heißt aber für Deutschland, das enge partikulare Denken zu überwinden und wieder an das große Erbe der deutschen Juden anzuknüpfen, die für Aufklärung und Universalismus standen.
Arn Strohmeyer hat zum Thema deutsche Erinnerungspolitik ein Buch geschrieben mit dem Titel: Die Tragödie Palästinas und der Antisemitismus. Das Dilemma der deutschen Erinnerungspolitik. Es erscheint in Kürze im Gabriele Schäfer Verlag in Herne.
25.01.2021