Wer eine Umfrage in Auftrag gibt und auch gut dafür bezahlt, bekommt in der Regel auch das gewünschte Ergebnis. So verhält es sich sicher auch mit der Umfrage, die das American Jewish Committee (AJC) in Berlin beim Institut für Demoskopie in Allensbach bestellt hat. Danach sind 60 Prozent der Deutschen der Ansicht, dass Antisemitismus in diesem Land stark zugenommen hat; 73 Prozent stimmten der Aussage zu, dass es sich dabei um ein Problem für die Gesellschaft als Ganzes handele; 52 Prozent der Teilnehmenden erklärten, dass hierzulande in angemessenem Umfang über das Phänomen gesprochen werde; 31 Prozent meinten, dass zu wenig darüber gesprochen werde; 17 Prozenterklärten, dass das Thema zu häufig diskutiert werde.
Über ein solches Ergebnis können sich der auftraggebende AJC und der deutsche Antisemitismus-Beauftragte Felix Klein natürlich freuen, ihre propagandistische Arbeit hat offensichtlich Früchte getragen. Ihre Warnungen vor zunehmendem Antisemitismus haben sich bestätigt. Ein anderes Ergebnis wäre auch erstaunlich gewesen, da die gesamten deutschen Leitmedien kritiklos dem Antisemitismus-Begriff des AJC, der mit dem Israels identisch ist, unhinterfragt übernommen haben, ihn vertreten und auch nicht auf einer klaren und differenzierten Definition bestehen, was Antisemitismus überhaupt ist.
Denn natürlich gibt es noch den „alten“ und „klassischen“ Antisemitismus, der Juden schlicht aus dem Grund hasst, weil sie Juden sind. Diese Form des Judenhasses existiert besonders in der rechtsextremen Szene weiter. Hier liegt die Umfrage sicher richtig, wenn sie diesen Antisemitismus vor allem bei der AfD verortet. Es gibt aber auch eine neue Art des Antisemitismus, die man sehr kritisch hinterfragen muss: den sogenannten „israelbezogenen Antisemitismus“. Dieser sieht so gut wie jede Kritik an der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern (auch wenn diese noch so sehr gegen Völkerrecht und Menschenrechte verstößt) als „antisemitisch“ an, obwohl hier zu fragen wäre, wann hier wirklich auf Israel angewandte antisemitische Stereotypen vorliegen und wann eine berechtigte Kritik am brutalen zionistischen Vorgehen gegen ein ganzes Volk geübt wird. Diese Differenzierung wird in Deutschland aber – vermutlich aus dem tiefen Schuldgefühl Juden gegenüber – nicht getroffen. Sie wäre in der Sicht des AJC und des Antisemitismus-Beauftragten auch schon Antisemitismus.
Es gibt aber noch eine andere Sicht auf den Antisemitismus – den funktionalen Antisemitismus, der in Deutschland völlig tabu ist, obwohl er von jüdischen bzw. israelischen Intellektuellen vertreten wird. Vor allem der israelische Holocaustforscher Daniel Blatman hat diesen Begriff in die Diskussion eingeführt. Blatman stellt den Unterschied zwischen dem traditionellen Antisemitismus und den funktionalen Antisemitismus heraus. „Der traditionelle, vertraute Antisemitismus war gekennzeichnet durch eine vielfältige Feindseligkeit gegenüber Juden und Judentum, die Dämonisierung der Juden, die Beschäftigung mit ihren kollektiven Eigenschaften und ihren Geschäftsbeziehungen sowie Mythen und Stereotypen, die den Juden als den inkarnierten Teufel darstellten. Der neue Antisemitismus der heutigen europäischen nationalistischen Populisten – deren Definitionen Deutschland übernommen hat – könnte als funktionaler Antisemitismus definiert werden. Es basiert auf dem Prinzip, dass jeder, den bestimmte Juden als antisemitisch definieren wollen, als solcher definiert wird.
Mit anderen Worten, es handelt sich nicht mehr um einen Antisemitismus, der zwischen Juden und Nichtjuden nach Kriterien wie Religion, Kultur, Nationalität oder Rasse unterscheidet, sondern um einen, der zwischen Antisemiten und Nicht-Antisemiten unterscheidet, nach Kriterien, die von der israelischen Regierung und von Juden und Nichtjuden, die ihn unterstützen, in Deutschland und anderen Ländern aufgestellt werden.
Was hier geschieht, ist nicht weniger als eine historische Revolution im Verständnis des Antisemitismus: Antisemitische Deutsche definieren nicht mehr, wer ein Jude ist, der aus der Gesellschaft verbannt werden muss, sondern bestimmte Juden definieren, wer ein Antisemit oder ein Philo-Semit ist, und die Deutschen nehmen ihre Meinung an. Funktionaler Antisemitismus definiert Juden und Nichtjuden gleichermaßen als Antisemiten, basierend auf einer Reihe von Spezifikationen und Eigenschaften, die dem aktuellen Nationalismus Israels entsprechen.“
Hinter der Gleichsetzung von Antisemitismus und Antizionismus steckt Blatman zufolge also eine wohl bedachte politische Strategie, die aber natürlich nicht öffentlich, weil tabuisiert, debattiert werden darf. Der ständig propagierte Kampf gegen den Antisemitismus und Antizionismus wird aber „zum absurden Schattenboxen, wenn Israel gar kein Interesse an der Bekämpfung des Antisemitismus hat, sondern ihn sogar fördert, weil es von ihm beträchtlichen Nutzen hat.“ Blatman sagt hier nicht mehr und nicht weniger, als dass es einen Antisemitismus-Begriff gibt, an dessen Verbreitung Israel durchaus Interesse hat, weil diese Spielart den zionistischen Staat gegen jede Kritik an seiner unmenschlichen Politik abschirmen soll. Dass aber gerade Israels Politik ein ganz wesentlicher Grund für Antisemitismus in der Welt ist, kommt in dem Ergebnis der Umfrage natürlich auch nicht vor.
Mir ist kein deutsches Mainstreammedium bekannt, das schon einmal auf Blatmans Argumentation eingegangen wäre. Der Hinweis auf die in Deutschland nicht stattfindende Differenzierung zwischen Antisemitismus und Antizionismus, die Blatman anspricht, kommt aber auch in der Umfrage zum Ausdruck. Da heißt es, dass Muslime hohe Zustimmungswerte zum Antisemitismus hätten. Dieses Argument würde aber in sich zusammenfallen, wenn zwischen Judentum und Zionismus unterschieden würde. Das würde bedeuten, dass die Muslime vielleicht gar keine Antisemiten sind, sondern berechtigte Kritik an der zionistischen Politik üben.
Und sollten die Muslime die beiden Ismen – Antisemitismus und Antizionismus – auch nicht unterscheiden können, dann liegt das vor allem daran, dass der zionistische Staat Israel ja für sich in Anspruch nimmt, für alle Juden in der Welt zu sprechen. Für Israel sind Judentum und Zionismus also durchaus dasselbe. Es ist ein Verrat an den westlichen Werten von Meinungs- und Informationsfreiheit, dass Muslime – besonders aber Palästinenser – in Deutschland ihr Narrativ nicht erzählen dürfen, weil das eben „antisemitisch“ sein soll. Man will diese Menschen also zwingen, die zionistische Sicht der Welt zu übernehmen und ihre eigenen Erfahrungen mit dieser Ideologie und ihrer Politik zu verleugnen. Dass man damit einen antipalästinensischen Rassismus ins Leben ruft, wird in Kauf genommen, allen Bekenntnissen zum Trotz, dass man aus dem Holocaust gelernt haben will.
Wenn der AJC und der Antisemitismusbeauftragte mit dem Ergebnis der Umfrage zufrieden sein können, dann hat das auch etwas mit der permanenten ideologischen Manipulation im Sinne Israels und dem Vorenthalten von ganz wesentlichen Fakten über diesen Staat und seine Politik zu tun. Deshalb darf man sich über das Umfrageergebnis auch nicht wundern. Von der ständigen einseitigen Berieselung muss schließlich ja etwas hängen bleiben.
10.05.2022