Die politisch Verantwortlichen in Berlin schweigen nicht nur zu dem genozidalen Unrecht, das Israel mit seiner Armee im Gazastreifen begeht, Deutschland nimmt indirekt durch die moralische und materielle Unterstützung an dem Morden und Vernichten dort längst teil. Nach dem blutigen Überfall der Hamas auf Israel konnte man die von deutscher Seite geäußerte Anteilnahme am Tod von unschuldigen Menschen noch verstehen. Aber sofort nach Beginn des israelischen Rachefeldzuges folgte eine Kette von eskalierenden politischen Äußerungen und Schritten, die kaum nachzuvollziehen waren. Man versicherte Israel immer wieder die volle Solidarität bei allen seinen brutalen, gewaltsamen Maßnahmen.
Bundeskanzler Olaf Scholz erklärte, dass Israel eine Demokratie sei und sich natürlich an das Völkerrecht bei seinem militärischen Vorgehen halte. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte auch kein Problem mit der israelischen Gewalt, weil er Israels Existenz bedroht sah. Außenministerin Annalena Baerbock gab kund, dass „wir nun alle Israelis“ seien. Die Reihe der Solidaritätsbekundungen ließe sich beliebig fortsetzen. Kritische Gegenstimmen gab es, wenn es um Israel geht, wie immer keine. Auf eine Initiative für das Zustandekommen eines sofortigen Waffenstillstands oder sogar für die Aufnahme von Friedenverhandlungen aus Berlin wartete man vergeblich. Ganz im Gegenteil: Deutschland bot sich sogar an, in dem von Südafrika angestrengten Verfahren gegen Israels „Völkermord“ im Gazastreifen als Verteidiger des zionistischen Staates aufzutreten.
Nun ein neuer Höhepunkt in der „solidarischen Haltung“ zu Israel: Deutschland will auf israelischen Wunsch hin der „moralischsten Armee der Welt“ „präzisionsgenaue Artilleriemunition“ (hergestellt von Rheinmetall) liefern. Es seien noch Detailfragen zu klären, hieß es aus Regierungskreisen. Nach Aussagen von UN-Beobachtern, die sich noch im Gazastreifen aufhalten, sind dort inzwischen 85 Prozent der bewohnbaren Häuser zerstört, 1,8 Millionen Menschen sind vertrieben worden und vegetieren bei winterlichen Temperaturen in Zelten im Süden des Streifens. Die gesamte Infrastruktur ist ein Opfer der Bomben geworden. Und die Versorgung mit Lebensmitteln, Wasser und medizinischen Gütern ist völlig zusammengebrochen – was Israels Kriegsziele sicher unterstützt, denn so kommt man einer Kapitulation der Palästinenser dort schnell näher. Menschenleben spielen dabei ohne ohnehin keine Rolle. Zu diesem Elendsszenario will Deutschland nun offenbar einen noch größeren Beitrag leisten: die 15 Prozent der noch nicht zerstörten Gebäude dort in Schutt und Asche zu legen und die Zahl der Toten, die jetzt bei über 24 000 liegt, noch kräftig zu erhöhen, von den Zehntausenden Verletzten ganz zu schweigen.
Da ist unbedingt die Frage angebracht: Was sind die Gründe und Motive, die die Regierung in Berlin verpflichten, eine solche Wahnsinnspolitik zu betreiben? Deutschland hat schon immer einen wichtigen Beitrag – auch mit Waffenlieferungen – zur Schaffung und Aufrechterhaltung der israelischen Besatzung über die Palästinenser geleistet. Wobei man sich moralisch stets auf die aus dem Holocaust resultierenden Verpflichtungen gegenüber Israel berief. Dieses Argument stützt sich aber auf eine Pseudomoral. Denn eigentlich hätte es für die deutsche Politik nur eine Schlussfolgerung aus dem Holocaust geben können: bedingungslos für die Menschenrechte einzutreten, um dem „Nie wieder!“ für alle Menschen universal und global Rechnung zu tragen. Aber die deutsche Politik wählte einen anderen Weg und erhoffte sich Sühne und Vergebung für die Verbrechen der Nazis durch die Konzentration auf den siedlerkolonialistischen, zionistischen Staat Israel.
Die deutsche politische Elite teilt mit Israel ohne Wenn und Aber auch die Erinnerung an den Holocaust, die der zionistische Staat für sich monopolisierte. Die Identifizierung mit Israel, ja die Überidentifizierung mit diesem Staat – gipfelnd im Dogma der „Staatsräson“, für Israels Existenz und Sicherheit verantwortlich zu sein – hat die deutsche Politik in den letzten Jahrzehnten geprägt. „Wenn man selbst Jude sein darf, ist man nicht mehr ‚Täter‘, sondern ‚Opfer‘, hat somit etwas nagend Quälendes an sich ‚wiedergutgemacht‘“, schreibt der Israeli Moshe Zuckermann.
Wobei man diese Aussage richtig verstehen muss, denn die deutsche Identifizierung mit Juden bezieht sich nur auf die „richtigen“ Angehörigen dieses Volkes, nur auf systemtreue, zionistisch gesinnte Juden – selbst wenn sie rechtsradikal und religiös-fundamentalistisch sind, wie das die deutsche Politik in der jüngsten Zeit, als in Israel profaschistische Kräfte an die Macht kamen, mit ihren durch nichts zu erschütternden Treuebekundungen zu diesem Staat bewiesen hat. Juden, die dem Zionismus und seiner Politik kritisch gegenüberstehen, also nicht partikularistisch-nationalistisch denken, sondern in bester jüdischer Tradition weltbürgerlich-universalistisch eingestellt sind, werden in Israel als „Verräter“ und in Deutschland als „Antisemiten“ diffamiert. Es gibt den guten und sehr wahren Ausspruch der deutsch-jüdischen Schriftstellerin Deborah Feldman: „Deutschland ist ein guter Ort, um jüdisch zu sein. Es sei denn, man ist ein Jude, der Israel kritisiert.“
Diese enge und totale Identifizierung mit Israel zwecks Schuldentlastung hat auch zur Formulierung der deutschen Staatsräson geführt, die besagt, dass Deutschland für Israels Existenz und Sicherheit verantwortlich sei. Die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte das in einer Rede im März 2008 in der Knesset in Jerusalem so formuliert. Nun stammt der Begriff Staaträson noch aus obrigkeitsstaatlichen Zeiten und ist für eine Demokratie völlig unangemessen, weil er bedeutet, dass staatliche Interessen den Rechten des Individuums übergeordnet sind. Das heißt, die Staatsräson ist nicht nur eine politische Option, über die im demokratischen Diskurs debattiert werden kann, sondern sie ist ein nicht hinterfragbarer, alternativloser Grundsatz der deutschen Politik.
Der deutsche Jurist und Diplomat Gerhard Fulda hat zu dem Begriff Staatsräson einige bedenkenswerte Anmerkungen gemacht. Er hat das Wort bei dem italienischen Schriftsteller und Diplomaten Niccolo Machiavell (1469-1527) gefunden, der in seinem Werk Der Fürst die Macht der adeligen Machthaber der damaligen Zeit rechtfertigte. Diese Fürsten übten willkürlich unumschränkte Gewalt aus, um den Staat und seine Macht zu erhalten. Sie durften lügen und betrügen, einsperren und töten. Recht und Moral und der Wille der Bürger spielten keine Rolle, wenn man sich gegen andere Staaten behaupten musste. Der Zweck des Staates – eben seine Staaträson – war sein Fortbestand, der mit allen Mitteln gegen jegliche Gefährdung durchgesetzt werden sollte.
Fulda lehnt die Staatsräson aus folgenden Gründen ab: „Man kann mit guten Gründen die Meinung vertreten, dass eine Staatsräson mit dem Grundgesetz nicht vereinbar ist. Ihr ‚Basta‘-Charakter verletzt die Meinungsfreiheit und die Menschenwürde. Ihre Verwendung beamt uns im Verständnis unserer Staatslehre um 400 Jahre zurück. Dann könnten wir auch gleich wieder glauben, die Sonne drehe sich um die Erde.“
Dazu kommt, dass Existenz und Sicherheit im Zusammenhang mit Israel sehr schwammige und vage Begriffe sind, die sehr leicht missbraucht werden können. Den Begriff Existenz gibt es im Völkerrecht überhaupt nicht. Wenn ein Staat einen anderen Staat anerkennt, erkennt er natürlich auch seine Existenz an. Ein Staat ist zudem durch seine Grenzen bestimmt. Israel hat auch nach über 70 Jahren Existenz noch keine festen Grenzen, weil dieser Staat auf Expansion seiner Grenzen angelegt ist. Auf welche Grenzen bezieht sich also sein Existenzrecht? Ähnlich unklar verhält es sich mit dem Begriff Staatsräson.
Merkels Festlegung auf die Singularität des Holocaust und die daraus sich ergebende Ableitung der Staatsräson hatte und hat beträchtliche Konsequenzen: Sie verpflichtet die deutsche Politik einseitig auf Israel, begründet die bedingungslose Solidarität mit diesem Staat und macht die Einzigartigkeit des Holocaust zum Kernelement der historischen Identität Deutschlands. Einzigartigkeit bedeutet aber auch, dass das historische Ereignis des Holocaust in der Erinnerung herausgehoben und außerhalb der geschichtlichen Forschung gestellt wird, es wird also als unvergleichbares Ereignis geschichtslos gemacht, also enthistorisiert.
Der deutsche Historiker Jürgen Zimmerer zieht aus Merkels Dogmatisierung der Staatsräson folgende Bilanz: „Sie hat durch ihre Knesset-Rede dem offenen Diskurs einen Bärendienst erwiesen. Denn durch die Herleitung des Bekenntnisses zu Israel aus der geschichtlichen Verantwortung, die in der Merkelschen Staatsräson zum Ausdruck kam, wird im Umkehrschluss jede Debatte über den historischen Ort des Holocaust, über dessen Singularität, zu einer Debatte über die Positionierung zu Israel und zum israelisch-palästinensischen Konflikt. Zugleich wird die Positionierung zu Israel zum Lackmustest für die Bereitschaft zur Aufarbeitung des Holocaust. Leidtragende sind die offene Gesellschaft sowie die Wissenschaft und die Kunstfreiheit.“ Und die Presse- und Informationsfreiheit, muss man ergänzen.
Die Merkelsche Staatsräson gegenüber Israel, die inzwischen so gut wie Verfassungsrang hat und Deutschland regelrecht an den zionistischen Staat kettet, ist auch der Grund dafür, dass Deutschland nun „präzisionsgenaue Artilleriemunition“ an Israel liefern will. Es gibt ein berühmtes Beispiel, das ähnliche Dimensionen hatte. Als in der Regierungszeit von Helmut Kohl in Berlin die Lieferung von weiteren atomar ausrüstbaren U-Booten an Israel zur Diskussion stand, warnte der General Klaus Naumann vor dieser „Schenkung“ aus Steuergeldern an Israel, weil die Israelis damit eine atomare Zweitschlagskapazität bekommen würden. Naumann erinnerte sich später, dass Bundeskanzler Helmut Kohl diese Bedenken nicht gelten ließ: „Kohl wischte das beiseite.“ Der Bundeskanzler begründete seine Entscheidung so: „Wenn die Israelis das fordern, dann werden wir das machen.“ Basta! Die israelische Delegation sei bei den Verhandlungen über die U-Boote ziemlich „unverschämt“ aufgetreten, erinnerte sich Naumann später, aber die Israelis bekamen, was sie wollten.
Bundekanzler Scholz hatte seine Zustimmung zu Israels Rachefeldzug gegen den Gazastreifen auch mit der Berufung auf den Holocaust gerechtfertigt: „Unsere eigene Geschichte, unsere Verantwortung, die aus dem Holocaust erwächst, macht es zur immerwährenden Aufgabe für uns, für die Existenz und die Sicherheit Israels einzutreten.“ Daraufhin warf die israelische Journalistin Amira Hass Scholz und den Deutschen vor, mit ihrem Engagement für einen Staat einzutreten, der besetze, kolonisiere, den Menschen Wasser wegnehme, Land stehle, zwei Millionen Menschen im Gazastreifen in einem überfüllten Käfig gefangen halte, Häuser abreiße, Menschen vertreibe und Siedler fördere, längst den Holocaust verraten zu haben.
Es ist eine Ironie der Geschichte – wenn eine auch mit sehr tragischen Zügen – , wenn nun universalistisch und nicht zionistisch denkende Juden die politische Elite in diesem Land darauf hinweisen, wie falsch und verwerflich die deutschen Schlussfolgerungen aus dem Holocaust sind, und dass die blinde und totale Unterstützung des israelischen Apartheidstaates, der permanent das Völkerrecht missachtet und Kriegsverbrechen begeht, mit der Befolgung von Werten und der Einhaltung von Moral nichts zu tun hat. Angesichts einer solchen blinden Realitätsferne der deutschen Israel-Politik kann man nur noch Scham empfinden.