Dem Iran wird wieder mal unterstellt, er wolle das jüdische Volk vernichten

Der Revolutionsführer Khamenei hat in seiner Rede zum Jerusalem-Tag aber nichts davon gesagt

„Der deutsche Mensch braucht eine Fahne“, hat Kurt Tucholsky einmal spöttisch geschrieben. Man muss ergänzen: Er braucht außer der Fahne auch noch ein Feindbild, Fahne und Feindbild gehören ja schließlich eng zusammen. Was für Deutsche gilt, hat vor allem aber auch für Israel und die USA seine Gültigkeit: Die Welt muss in „Gute“ und „Böse“ aufgeteilt sein und man muss Gott-sei-Dank auf der „richtigen“ Seite sein. So waren auch diesmal die Reaktionen auf die Ansage des iranischen Revolutionsführers Khamenei am sogenannten Jerusalem-Tag: „Der Iran will Israel vernichten!“

Nur: Khamenei hat nichts davon gesagt, denn diese Aussage würde ja bedeuten, dass die Mullahs in Teheran wirklich einen Holocaust am jüdischen bzw. israelischen Volk planten. Was hat er aber wirklich gesagt? Sein Statement lautete kurz zusammengefasst so: Die Nakba (die ethnische Säuberung Palästinas 1948) sei ein einzigartiges Verbrechen gewesen; dann benutzte Khamenei das Wort „Endlösung“, sie bedeute Widerstand bis zu einem Referendum; Muslimen, Juden und Christen sollte es dann möglich sein, ihre eigene [gemeinsame] Regierung zu wählen; das sei mit der „Eliminierung“ Israels gemeint und das werde auch geschehen; „Eliminierung“ bedeute nicht die Vernichtung der Juden, sondern lediglich die Eliminierung des Palästina aufgedrängten [zionistischen] Systems; der Iran werde jede Nation und jede Gruppe unterstützen, die gegen das zionistische Regime sei.

Die meisten westlichen Medien haben diese Sätze groß aufgemacht mit der dicken Überschrift: „Khamenei ruft zur Vernichtung Israels auf!“ Da wird gleich die Wannsee-Konferenz zum historischen Vergleich herangezogen, als hätte Khamenei Details des Holocaust bekannt gegeben, die er an den Juden bzw. den Israelis vollziehen wolle. Fast paradox, die sonst so stramm rechtslastige Jerusalem Post formuliert ihre Schlagzeile viel vorsichtiger: „Khamenei: Israel wird nicht überleben“.

Nun ist es kein Geheimnis, dass Orientalen gern ein blumig-pathetische Ausdrucksweise benutzen, die zu Übertreibungen neigt. Man sollte also den Text Khameneis einer gründlichen Sprachanalyse unterziehen und vor allem auch auf die Feinheiten der Übersetzung achten, um zu verstehen, was er wirklich gemeint hat. Etwa beim Wort „Endlösung“. Klar ist, dass er den Begriff hier nicht im Zusammenhang mit einem Völkermord oder Holocaust versteht. Man müsste aber klären: Welchen Begriff hat er in der Landessprache Farsi benutzt und ist dieses Farsi-Wort dann wirklich mit dem historischen Begriff identisch, den das Wort „Endlösung“ im Deutschen hat. Oder bedeutet es einfach eine endgültige Lösung des Palästina-Problems? Also ein Abschluss oder Ende dieses Konflikts? Und eine „Endlösung“ kann es für ihn nur mit der „Eliminierung“ bzw. Abschaffung des zionistischen Systems geben. Denn in einem Referendum sollen ja sowohl Muslime, Juden und Christen über ein neues Regime entscheiden. Und der Iran will jede Nation oder Gruppe unterstützen, die eine solche Lösung anstrebt.

Was ist daran so aufregend? Auch politische Analytiker im Westen oder sogar in Israel bezeichnen Israel längst als Apartheidstaat, weil in seinem Herrschaftsbereich (im Westjordanland und im Gazastreifen) fünf Millionen Menschen hinter Mauern und Zäunen weggesperrt ohne bürgerliche und politische Rechte – der willkürlichen Besatzungsgewalt der israelischen Herren des Landes schutzlos ausgeliefert – leben müssen. Der israelische Journalist Gideon Levy hat gerade erst geschrieben, dass die Realisierung des Trump-Plans für Palästina („Deal des Jahrhunderts“) das Ende des Zionismus sein werde, weil damit eine Apartheiddiktatur geschaffen werde, in der es dann nicht mehr wie bisher um die Zwei-Staaten-Lösung gehen werde, sondern politisch nur noch um die Realisierung eines großen Staates gerungen werde, in dem Muslime (Palästinenser), Juden und Christen gleichberechtigt nebeneinander leben würden (one man/woman one vote) – und dieser Staat werde nicht mehr zionistisch oder jüdisch sein, sondern eine Demokratie für alle dort lebenden Menschen. Diese Entwicklung wird kommen, sie nimmt ihren Lauf – nicht, weil der Iran es so will, sondern weil Israel sich durch seine Friedensverweigerung in eine solche Sackgasse manövriert hat, aus dem es nun keinen anderen Ausweg mehr gibt. Der Israeli Moshe Zuckermann hat diesen Prozess in seinem Buch Israels Schicksal. Wie der Zionismus seinen Untergang betreibt im Detail schon beschrieben.

Khamenei hat diese ausweglose Situation Israels offensichtlich sehr gut verstanden und darauf spielt er an und nicht auf einen Holocaust am jüdischen oder israelischen Volk, den sein Regime plane. Solch einen Unsinn können sich nur kranke westliche Gehirne mit ihrer verzerrten Wahrnehmung der Realitäten im Nahen und Mittleren Osten ausdenken. Khamenei hat kein Wort davon gesagt und er wird sehr genau das militärischen Stärkeverhältnis zwischen seinem Land und Israel kennen, um zu wissen, dass jeder Angriff auf Israel angesichts von dessen Nuklearmacht die Vernichtung des eigenen Landes bedeuten würde. Die Iraner für so dumm zu halten, dass sie ein solches Risiko eingehen würden, ist schon sträflich.

Der Vorgang erinnert an die Äußerungen des früheren iranischen Präsidenten Ahmadinedschad, die er am 26. Mai 2005 vor (auch westlichen) Pressevertretern gemacht hatte. Nach der Rede gaben die westlichen Journalisten die Nachricht an ihre Redaktionen durch, auf die sie offenbar sehnsüchtig gewartet hatten: Der iranische Präsident habe gesagt, dass Israel von der Landkarte radiert werden müsse. Sie benutzten die englischen Worte „map“ und „wipe off“. Nur: Ahmadinedschad hatte diese Worte gar nicht benutzt. Die westlichen Journalisten lagen mit ihren Vernichtungsphantasien, die sie dem Iran unterstellten, völlig daneben, wie eine genaue Übersetzung aus dem Farsi ergab. Denn der iranische Präsident hatte wörtlich gesagt: „Dieses [zionistische] Besatzungsregime muss aus den Seiten der Geschichte verschwinden.“ Oder auch anders übersetzt: „Das Besatzungsregime muss Geschichte werden!“

Man muss die Aussage von Ahmadinedschad zudem im Kontext verstehen: Es handelte sich dabei um ein Zitat des verstorbenen Revolutionsführers Khomeini, in dem dieser andere Regime genannt hatte, die Völker unterdrückt hatten (vor allem das Schah-Regime im Iran) und auch „aus den Seiten der Geschichte verschwunden“ waren. Ahmadinedschad und Khomeini hatten also ganz allgemein vom Untergang von Regimen in der Geschichte gesprochen, hatten das Wort „eliminieren“ als zielgerichtetes Verbum des politischen oder militärischen Handelns des Iran gar nicht benutzt, sondern von „verschwinden“ gesprochen, also von einer eher passiven historischen Entwicklung.

Was den damaligen israelischen Regierungschef Ehud Olmert aber nicht daran hinderte, davon zu sprechen, der Iran plane die völlige Zerstörung und Vernichtung des jüdischen Volkes. Die Journalisten, die – wie auch dieses Mal – eine falsche Übersetzung in die Welt setzen, treiben ein gefährliches Spiel, weil so die wirklichen Optionen eines Staates völlig falsch eingeschätzt werden und daraus fatale politische Schlussfolgerungen abgeleitet werden können. Das kann sogar ein Kriegsgrund sein. Bei Israels Regierungschef Netanjahu ist das einfacher, da gibt es kein Übersetzungsproblem: Er hat dem Iran schon mehrmals direkt die Vernichtung angedroht. Das wäre dann natürlich reine „Selbstverteidigung“. Eine solche Äußerung des Regierungschefs einer Atommacht ist den westlichen Medien aber nicht einmal eine Schlagzeile wert.

24.5.2020