„Israels Politik ist zynisch, autoritär und reaktionär“
Aussagen eines Psychologen zum Konflikt Israels mit den Palästinensern/ Antisemitismus oder nicht?
Da schreibt ein Psychologe über Israel: „Der grundsätzliche Blick Israels auf die Welt ist – gemessen an westlichen Standards – zynisch, autoritär und reaktionär. Der Vorrang von Gewalt und Herrschaft ist das Kennzeichen der israelischen Identität und Erfahrung geworden. Sie ragt heraus aus der Welt von Thomas Hobbes [englischer Philosoph 1588-1679], in der ein ewiger Krieg wütet – ein Krieg zwischen Herrn und Sklave, den Harten und den Weichen, den Siegern und den Opfern. Die israelische Realität ist das Produkt und die Widerspiegelung des zionistischen Traums und der kolonialistischen Realität.“
Für Beobachter und Kenner der Vorgänge in Israels/Palästina enthält diese Feststellung wenig Neues, für die Verteidiger der Politik des zionistischen Staates ist sie vermutlich schlimmer Antisemitismus. Aber der Verfasser, der in englischer Sprache schreibt (sein Name soll erst später genannte werden), belässt es dabei nicht, sondern er versucht, das Wesen des Zionismus und die Auswirkungen dieser Ideologie auf die israelische Politik zu ergründen. Waren die Zionisten ursprünglich davon ausgegangen, dass Palästina „leer“ und deshalb für die kolonialistische Besiedlung gut geeignet gewesen sei („ein Land ohne Volk für das Volk ohne Land“), so mussten sie nun bei ihrer Ankunft in Palästina am Ende des 19. Jahrhunderts feststellen, dass das Land keineswegs leer, sondern voll besiedelt war.
Für den Zionismus stellte sich die Frage: Was soll mit diesen Menschen – der indigenen arabischen Bevölkerung – geschehen? Die Antwort war klar: Um einen rein jüdischen Staat zu schaffen, mussten sich die Zionisten von dieser „überschüssigen“ Bevölkerung befreien. Ihre Rechte anzuerkennen und mit ihnen zusammenzuleben haben die Zionisten (von ein paar human gesinnten „Kulturzionisten“ abgesehen) gar nicht in Erwägung gezogen. Um den zionistischen Traum zu erfüllen, eben die Gründung eines eigenen Staates, war man entschlossen, hart gegen die „Eingeborenen“ vorzugehen, was nicht schwer war, denn diese waren schwach, rückständig und arm.
Wie also mit diesen arabischen Menschen umgehen? Der Autor schreibt: „Sie waren nicht Teil einer Gleichung. Sie waren für die Zionisten eigentlich gar nicht vorhanden, waren ‚unsichtbar‘ und kamen in den Visionen und Plänen der Zionisten gar nicht vor. Die einheimische Bevölkerung musste ausgesondert und ausgeschieden (eliminated) werden. Der Autor schreibt: „Der Krieg gegen die Eingeborenen (natives) war schlicht und einfach ein Teil der Umwandlung der Natur des Landes, und sie waren ein anderes Element der Natur, man musste sie [die Eingeborenen] erobern und sie bekämpfen wie die Sümpfe, die Hitze und die Malaria.“
In dieser frühen Zeit der Besiedlung Palästinas erschienen die dort lebenden Araber den Zionisten nicht einmal als eine Herausforderung, sondern lediglich als ein Ärgernis, ein Missstand. Wenn sie Widerstand gegen ihre Verdrängung von ihrem Land leisteten, dann betrachteten die Zionisten das schlicht als „kriminelle Gewalt“. Dieser Widerstand war immer „illegal“. Palästinensische Widerstandskämpfer wurden als „Gangster, Räuber und Banditen“ bezeichnet. Oder man prangerte sie als „Invasoren und Aggressoren“ an. Mit Blick auf die Verfolgungen in der jüdischen Geschichte sah man in palästinensischen Widerständlern auch „heidnische Antisemiten“, die Pogrome gegen friedliche Juden begingen, sogar der Vergleich mit der spanischen Inquisition wurde benutzt.
Was eine vollständige Umkehrung der wirklichen Verhältnisse in Palästina war: Denn die Palästinenser waren die Opfer des großen zionistischen Traums, und die Zionisten waren völlig blind für die Tatsache, welch große Ungerechtigkeit sie mit der Umsetzung ihrer Utopie schufen. Der Höhepunkt dieser Auseinandersetzung waren dann die Nakba bzw. der Krieg 1948/49, der – so der Verfasser – in erster Linie ein Krieg gegen die Palästinenser war, erst in zweiter Linie ein Krieg gegen die arabischen Nachbarstaaten. Die Palästinenser sollten in der Nakba vertrieben und enteignet werden, und außerdem sollte unter allen Umständen die Gründung eines palästinensischen Staates verhindert werden. Beide Ziele haben die Zionisten einschließlich der Gründung ihres Staates im Mai 1948 erreicht.
Was sie aber nicht schafften: Die Zionisten hatten gehofft, dass die Welt die palästinensischen Flüchtlinge vergessen würde – durch Aussterben bzw. durch Aufgehen in den arabischen Staaten. Der Name Palästina sollte wie seine einstigen Bewohner nicht mehr erwähnt werden, sie sollten aus dem Gedächtnis und dem Bewusstsein völlig verschwinden. Das Land sollte künftig nur noch „Israel“ heißen. Sollten diese Menschen und ihre Ansprüche doch noch einmal auf der Weltbühne auftauchen, dann würde man sie für „illegitim“ erklären.
Der Autor bezeichnet das zionistische Unternehmen in Palästina als das, was es bis heute ist: als Siedler-Kolonialismus. Die Zionisten scheuen heute dieses Wort wie der Teufel das Weihwasser, dabei war es in der frühen Zeit der Besiedlung durchaus üblich, von Kolonialismus zu sprechen. Im Palästina der Mandatszeit (1923-1948) gab es eine ganze Reihe von zionistischen Organisationen und Institutionen, die das Wort kolonial im Namen führten: etwa die „Jewish Colonization Assoziation“, „The Colonial Bank“ und andere.
Dann wurde der Begriff aber ganz offensichtlich als anrüchig empfunden und von den Zionisten aus ihrem Wortschatz gestrichen. Man sprach nun lediglich von „Besiedlung“. Die Erwähnung des Wortes Kolonialismus ruft heute bei Israelis böse Reaktionen hervor. Der Autor schreibt: „Die harten Reaktionen besagen, dass man einen rohen Nerv getroffen hat, eine offene Wunde, eine schwärende Entzündung, die nicht heilen will. (…) Kolonialismus ist ein hässliches Wort und eine noch hässlichere Realität. Zionismus ist Teil dieser Realität, weil der zionistische Traum in der Praxis ein siedlerkolonialistisches Unternehmen ist.“
Und weiter: „Der zionistische Handlungsplan hat die Entrechtung der einheimischen Bevölkerung zum Inhalt gehabt und hat das auch heute noch. Der Zionismus, wie er vor Generationen in Palästina und heute noch in Israel praktiziert wird, ist Kolonialismus, weil er die Palästinenser als Fremde ansieht und den wirklichen Fremden [den Zionisten] Privilegien zuspricht, die die Palästinenser nicht haben. Um dieses Unternehmen zu rechtfertigen, haben die Zionisten den Mythos erfunden: Nicht sie, die fremden Einwanderer auf einem fremden Territorium, sind die Fremden bzw. die Ausländer, sondern die Palästinenser, denn die Juden sind ja nur nach einem längeren Exil in ihr Land zurückgekehrt – sozusagen in einem Akt der Repatriation.“
Die Israelis schafften es zwischen 1948 und 1967 weitgehend, ihr Ziel zu erreichen, das Palästinenserproblem „unsichtbar“ zu machen. War der zionistische Kolonialismus in diesem Zeitraum also sehr erfolgreich, so war dies nach dem Krieg von 1967, in dem Israel die Golan-Höhen, Ost-Jerusalem, das Westjordanland und den Gazastreifen eroberten, nicht mehr möglich. Seit diesem Zeitpunkt trat die kolonialistische Natur des zionistischen Unternehmens wieder voll an die Oberfläche und konnte nicht mehr geleugnet werden. Denn die Eroberungen des Krieges von 1967 hatten eine größere Unterdrückung der Palästinenser zur Folge, mehr Landraub und mehr Vertreibungen. Das bloße Dasein der Palästinenser auf der Westbank und im Gazastreifen wurde für Israel nun das vorrangige Problem, das es durch weitere Enteignungen und verschärfte Kontrollen in plumper und brutaler Weise zu lösen versuchte. Ein kolonialistischer Kampf zwischen den beiden Völkern, die auf demselben Territorium lebten, setzte ein, bei dem die Israelis die Mehrheit, die Stärkeren und die Ausbeuter waren. Bis 1947 waren die Palästinenser nur „Araber“, seit 1967 sind sie „Palästinenser“ geworden, ein eigenes Volk eben. In den Augen der Israelis standen sie aber nun immer mehr der Verwirklichung des zionistischen Traums im Wege.
Die erste Intifada 1987 war dann eine schwere strategische Niederlage für die Zionisten, sie hat Israels historische Situation dramatisch und vollständig verändert, denn die Intifada war ein Volkskrieg in der besten Tradition anderer antikolonialer Aufstände. Für Israel war dieser Aufstand die größte Herausforderung seiner Geschichte, die sein Image nachdrücklich verändert hat. Denn den Israelis wurde klar: Das einzige wirkliche Problem, das der Zionismus hat, sind die Palästinenser: „Es sind diese Menschen in ihrer andauernden Existenz und in ihrem Widerstand hier, die die Zukunft Israels bestimmen werden. Der Schatten der Palästinenser fällt überall hin und verdunkelt das Morgenrot jedes neuen Tages.“ Die Israelis verstanden aber auch, dass, wenn man diesem Menschen gleiche Rechte einräumt, also Demokratie schafft, dann ist das das Ende des Zionismus.
Der Autor konstatiert weitere bittere Erkenntnisse für die Israelis: „Hinter vorgehaltener Hand und im Flüsterton begann mit zunehmendem Widerstand der Palästinenser nun eine Diskussion über die Moral des Zionismus. Denn den Israelis wurde klar, dass sie sich einer schweren Ungerechtigkeit schuldig gemacht hatten. Ihr geliebtes Heimatland war auf Kosten anderer gebaut worden. Und die Kosten ihrer Herrschaft sind ihre eigene Knechtschaft, die sie durch ihre Unterdrückung ausüben. Das ist die israelische Situation. Die Bedrohung durch Krieg und Terrorismus ist ein praktisches Problem, der Schrei der Opfer ist ein moralisches Problem.“
Der Zionismus stand von nun an vor der Schwierigkeit: Wie kann er die Ungerechtigkeit, die er den Palästinensern angetan hat, rechtfertigen – die Enteignung und das zum Opfer-Machen (victimization) eines ganzen Volkes. Der Autor belegt die Bedeutung dieser Frage mit der sehr anschaulichen Aussage eines jungen Israeli aus dem Kibbuz Sasa, der auf arabischen Grund und Boden entstanden ist: „Warum verbringen wir unsere Ferien in einem arabischen Dorf? Früher war hier ein arabisches Dorf. Die Wolken von Sasa zogen ein Jahr zuvor hoch über andere Menschen hinweg. Die Felder, die wir heute bestellen, wurden ein Jahr zuvor von anderen bestellt. Die Männer arbeiteten auf ihren Äckern und hüteten ihre Herden, während die Frauen damit beschäftig waren, Brot zu backen. Die Schreie und Tränen von Kindern der anderen wurden in Sasa ein Jahr zuvor wahrgenommen. Und als wir kamen, schrie uns die Verwüstung ihres Lebens durch die Ruinen, die sie hinterlassen hatten, entgegen. Schrie zu uns und erreichte unsere Herzen, färbte unser tägliches Leben. So suchten wir nach der Rechtfertigung für das Recht hier zu sein. Es ist nicht schwer sich vorzustellen, wie das Leben hier gewesen sein muss. Hier noch ein Schuh, dort ein Spiegel, hier ein Sack mit Getreide, dort ein Familienporträt, das Spielzeug eines Kindes. Was gibt uns das Recht, die Früchte von den Bäumen zu ernten, die wir nicht gepflanzt haben, Schutz in Häusern zu suchen, die wir nicht gebaut haben? Auf welchem moralischen Grund werden wir stehen, wenn wir vor Gericht stehen werden?“
Jeder Israeli ist sich – so der Autor – mehr oder weniger der grundsätzlichen Immoralität des Vorgehens gegen die Palästinenser bewusst. Zumeist gehen die Israelis solchen moralischen Fragen aber aus dem Weg, weil jede Diskussion über grundsätzliche moralische Prinzipien die gegenwärtige Herrschaftsstruktur aufzudecken oder zu unterminieren droht. Deshalb können gewisse grundsätzliche Fragen in Israel nicht offen debattiert werden. Wenn sie aufgeworfen werden, ist die Antwort Schweigen oder Zynismus. Die hauptsächlichsten Verteidigungsstrategien für die Untaten des Zionismus sind: das angebliche historische Recht, dass die heutigen Juden die Erben der antiken Juden seien und lediglich in ihr Heimatland zurückgekehrt seien. Eine andere Verteidigungsstrategie ist der Antisemitismus, vor dem die Juden sich in einem eigenen Staat schützen müssten. Andererseits wird der Antisemitismus-Vorwurf aber auch benutzt, um jede Kritik am israelischen Vorgehen gegen die Palästinenser abzublocken und zum Schweigen zu bringen.
Der Autor merkt hier an: „Das Ziel dieser Verteidigung ist, den Zionismus mit einer Mauer der Immunität zu umgeben, so dass keine rationale Diskussion seiner Ziele und Implikationen mehr möglich ist. So eine Immunität braucht der Zionismus in der Tat, weil er durch normale politische Standards nicht verteidigt werden kann.“ Da wird dann eben Antisemitismus und Antizionismus gleichgesetzt, um zum gewünschten Ziel des Abwürgens jedes Diskurses über die israelische Politik zu kommen.
Ein anderes Mittel zur Rechtfertigung des Zionismus ist die Dämonisierung der Araber bzw. Palästinenser als „Antisemiten“ oder sogar als „Nazis“. Den Palästinensern wird dann unterstellt, dass sie den Genozid der Nazis an den Juden fortsetzen wollten. Wobei der Autor gar nicht bestreitet, dass es Antisemitismus bei den Arabern gibt, er ist aber aus Europa importiert und nicht zuletzt wegen der zionistischen Verbrechen an den Palästinensern dort auf fruchtbaren Boden gefallen. Und schließlich wird auch der Holocaust instrumentalisiert: „Über den Holocaust zu sprechen, ist der beste Weg, jede kritische Stimme gegen Israel zum Schweigen zu bringen. (…) Dies ist gewöhnlich ein erfolgreicher Versuch, jede rationale Diskussion zu beenden. Der Holocaust ist die Ursünde gegen die Juden, die den Zionismus und Israel aber total und vollständig rechtfertigt.“ Wobei dann auch der Mythos angeführt wird, dass Israel von den Holocaust-Überlebenden gegründet worden sei. Dem widerspricht der Autor vehement, denn die zionistische Besiedlung habe am Ende des 19. Jahrhunderts begonnen, der Zionismus sei nicht im Jahr 1945 erfunden worden.
Zu den Überlebenden schreibt er: „An der Propagandafront spricht Israel von den Opfern und Überlebenden. Die Opfer des Holocaust haben aber den Staat Israel niemals autorisiert, für sie zu sprechen. Auch die Überlebenden haben das nicht, die meisten von ihnen sind dem zionistischen Traum nach Israel nicht gefolgt. Die meisten Holocaust-Opfer waren eindeutig keine Zionisten. Sie waren Orthodoxe oder assimilierte Bundisten oder die schweigende Mehrheit des osteuropäischen Judentums, in welcher die Zionisten eine Minderheit waren.“
Die Zionisten gehen aber noch einen Schritt weiter bei der Rechtfertigung des den Palästinensern angetanen Unrechts. Sie argumentieren: Die Leiden der Juden in der Geschichte einschließlich des Holocaust bedeuten für die Juden, dass die Grenzen der konventionellen Moral für dieses Volk nicht mehr gelten. Angesichts der jüdischen Opfer sei eine solche Moral irrelevant. Die universalistischen Moralstandards hätten sich in Bezug auf die Leiden der Juden als falsch und illusorisch erwiesen, darum brauchten sie sich darum auch nicht weiter zu kümmern – die Opfer-Nation stehe in diesem Sinne sozusagen über oder jenseits des Restes der Menschheit. Die Realität des jüdischen Leidens ist deshalb die ultimative Rechtfertigung für den Zionismus. Daraus zieht diese Ideologie auch die Berechtigung, die Rechte seiner Opfer negieren zu können. Denn angesichts der jüdischen Leiden sei das, was man den Palästinensern antue, geringfügig und ohne Bedeutung.
Der Autor schreibt: „Das Bewusstseins des jüdischen Leidens führt dazu, sich an der ganzen Welt rächen zu wollen, egal an wem. Es wurde Rache genommen an denen, die gar nichts mit dem Horror zu tun hatten, der den Rachewunsch hervorgebracht hat, denn die Palästinenser hatten nichts mit der Lage der Juden, mit dem Antisemitismus oder mit den jüdischen Problemen in Europa zu tun. Sie waren unschuldige Zuschauer der Geschichte, die nun den ungeheuren Preis für die weit entfernten Leiden eines anderen Volkes bezahlen mussten. Die Leiden der Juden sind Teil der europäischen Geschichte, und ein europäisches Problem wurde nun in Palästina gelöst.“
Und weiter: „Die Sünden der Welt gegen die Juden wurden nun auf Palästina abgeladen, denn sich an den Polen oder den Deutschen zu rächen wäre zu schwierig gewesen. Es war ganz einfach und leicht, die Palästinenser für 2000 Jahre Verfolgung verantwortlich zu machen. Die Palästinenser, die nun die Rache der Juden zu spüren bekamen, waren nicht die historischen Unterdrücker der Juden. Sie haben die Juden nicht in Ghettos gesperrt und sie gezwungen, gelbe Sterne zu tragen. Sie haben den Holocaust nicht geplant. Aber sie hatten ein Vergehen begangen: Sie waren schwach und konnten sich in der Konfrontation mit einer militärischen Macht nicht verteidigen, sie waren so die idealen Opfer für eine abstrakte Rache, die ein Objekt für das tief empfundene Unrecht der Geschichte suchte. Die Palästinenser wurden die Repräsentanten für die ganze nicht-jüdische Welt, die den Vorteil boten, schwache Nicht-Juden zu sein, die einzigen ohnmächtigen Nicht-Juden, die unterdrückt und bestraft werden konnten für 2000 Jahre Antisemitismus.“
Der Autor folgert aus dem Gesagten und der heutigen Situation in Israel/Palästina, dass der Zionismus nicht mehr gerechtfertigt werden kann. Nach dem Ende des Kolonialismus in der Welt und dem Aufstieg der Dritten Welt kann man den Zionismus als allgemeines Prinzip nicht mehr akzeptieren. Mit jedem Tag, der vergeht, gibt der Zionismus ein unmoralischeres Erscheinungsbild ab, und er muss immer verzweifeltere Mittel anwenden, um sich zu rechtfertigen.
Der Zionismus hatte ursprünglich das Ziel, die jüdische Frage zu lösen und so mit dem von ihm geschaffenen jüdischen Staat eine normale Nation unter anderen zu werden. Aber Israel ist alles andere als ein normaler Staat. Es kann so lange kein normaler Staat sein, solange er ein Garnisonsstaat ist. Das Problem mit den Palästinensern hat aus Israel einen kolonialistischen Staat gemacht, der sich in einem permanenten Krieg befindet. Der Zionismus hat versucht, sich vom tragischen Verlauf der jüdischen Geschichte durch Absonderung des Jüdisch-Seins von der Menschheit abzusetzen. Diese Mühe der Abtrennung ist nicht gelungen. Die Tragödie der jüdischen Geschichte scheint sich in einer neuen Version in Israel zu wiederholen. Diesmal, gemäß dem jüdischen Plan, sind die Juden nicht die Opfer: Sie sind die Herren ihres Schicksals und machen diesmal andere zu Opfern.
Die Situation der jüdischen Geschichte hat sich also grundsätzlich geändert, denn die Existenz in Palästina als Siedler-Kolonialisten hat wenig zu tun mit dem jüdischen Schicksal in Osteuropa oder den USA. Anderes als die frühere Situation der Juden, als sie verfolgt wurden, weil sie Juden waren, befinden sich die Israelis mit den Arabern bzw. den Palästinensern im Krieg, weil sie die Sünde des Kolonialismus begangen haben – nicht wegen ihrer jüdischen Identität. Die Feindschaft gegen die Juden in Israel hat also einen bestimmten Grund, den es so niemals zuvor in der jüdischen Geschichte gegeben hat.
Der Autor beschließt seine Betrachtungen über den Zionismus mit der Anmerkung, dass die Israelis offenbar von einem Fluch heimgesucht werden: Es ist der Fluch der ursprünglichen (original) Sünde gegen die Palästinenser. Wie kann man über Israel sprechen, fragt er, ohne die Vertreibung, Enteignung sowie den Ausschluss dieser Nicht-Juden zu diskutieren? Das ist die grundlegende Realität Israels und ohne ihre Wahrnehmung kann man diesen Staat nicht verstehen. Die Ursprungssünde sucht die Israelis heim und quält sie. Diese Sünde liegt auf allem und befleckt jeden. Die Erinnerung an diese Sünde vergiftet das Blut und markiert jeden Augenblick der Existenz, schreibt er.
Den einzigen Ausweg aus der vertrackten Situation sieht der Autor in der Versöhnung der Israelis mit den Palästinensern. Nur so könne Israel eine humane und lebenswerte Zukunft gewinnen. Nur ein radikales Umdenken der Israelis und die Sühne für die Sünden des Kolonialismus kann den unendlichen Konflikt zwischen beiden Völkern beenden. Die Israelis müssen um Vergebung bitten, und die Palästinenser müssen dazu bereit sein zu vergeben. Der Autor schätzt die Chancen für eine solche humane Lösung aber sehr gering ein. Denn die Israelis sind nicht in der Lage, das Unrecht, das sie den Palästinensern angetan haben, einzugestehen. Sie werden sich mit allen Mitteln dagegen wehren. Sie haben außerdem Angst vor der Rache der Palästinenser, wenn sie ihre Schuld eingestehen würden. Es kommt ein weiteres gewichtiges Argument hinzu: Einzugestehen, dass der Zionismus eine höchst unmoralische koloniale Bewegung ist, würde ihm die moralische Basis entziehen. Die Israelis müssten Angst haben, dass ein solches Schuldeingeständnis ihnen das Recht nehmen würde, weiter in Israel zu leben.
Und so schließt der Autor mit der paradoxen Feststellung, dass die Schwachen letzten Endes die Starken sind. Denn die Asymmetrie der Macht zwischen Israelis und Palästinensern verhindert eine einfache Lösung des Konflikts. Aber die Macht der Palästinenser ist ihre bloße Existenz, ihr Dasein so nahe an dem der Israelis. Die Palästinenser verfügen über die Vetomacht über Israels Zukunft und über die Macht zu vergeben.
Der Autor der hier wiedergegebenen Ausführungen ist der israelische Psychologie-Professor und Psychoanalytiker Benjamin Beit-Hallahmi, der an der Universität von Haifa gearbeitet hat und jetzt emeritiert ist. Er hat diese Argumente in seinem Buch „Original Sins. Reflections on the History of Zionism and Israel“ niedergelegt, das 1992 in London erschienen ist, aber bis heute nichts von seiner Aktualität verloren hat. Dass es nie in deutscher Übersetzung erschienen ist, ist wohl angesichts des idealisierten deutschen Israel-Bildes nicht verwunderlich. Die Gedanken dieses klugen Intellektuellen und guten Kenners der israelischen Situation sollten gerade in Deutschland so manchen, der sich vorschnell und vorurteilsbelastet zum Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern, zum Zionismus und zum Antisemitismus äußert, zum Nachdenken bringen.