Wenn junge Juden und Muslime sich in Auschwitz begegnen
Aber nur die eine Seite darf ihr Narrativ darlegen
Natürlich ist es sehr begrüßenswert, wenn Menschen die früheren Vernichtungslager der Nazis aufsuchen und sich dort darüber informieren, zu was Menschen fähig sind, was Menschen Menschen antun können. Wenn der Anblick solcher Stätten der unsäglichen Barbarei und des Grauens Anstöße zu mehr Humanität (also zum Lernen aus der Geschichte) geben kann, sind Besuche dort gar nicht hoch genug einzuschätzen. Jetzt haben auf Einladung der „Union progressiver Juden“ und des „Zentralrats der Muslime in Deutschland“ junge Mitglieder dieser Religionsgemeinschaften Auschwitz besucht, haben dort gemeinsam Kränze niedergelegt, Gebete gesprochen und appelliert, „Rassismus, Antisemitismus und gruppenspezifische Menschenfeindlichkeit“ zu bekämpfen.
Das klingt auf den ersten Blick sehr gut und muss dennoch kritisch hinterfragt werden. Einmal abgesehen davon, dass zwei Ministerpräsidenten bei dem Besuch dabei waren (Bodo Ramelow und Daniel Günther), was den Verdacht politischer Vereinnahmung nahelegt. Aber man erinnere sich: Als 2015 Hunderttausende syrische Flüchtlinge nach Deutschland kamen und von der Bevölkerung überwiegend freundlich empfangen wurden (Kanzlerin Merkel: „Wir schaffen das!“) kam von der organisierten jüdischen Seite sofort der Vorwurf, da hätte man einige hunderttausend Antisemiten ins Land gelassen. Diese Menschen seien in ihrer Heimat „antisemitisch“ erzogen und sozialisiert worden und deshalb eine Gefahr für das Zusammenleben hierzulande. Und sofort kam aus dem „Zentralrat der Juden in Deutschland“ die Forderung, diese arabischen Menschen in Kursen über den Holocaust „aufzuklären“ und vor allem sie zu Besuchen in Auschwitz zu veranlassen.
Was hier kampagnenmäßig gefordert wurde, ist an Einseitigkeit nicht zu übertreffen, womit grundsätzlich nichts gegen wirkliche Aufklärung über das Megaverbrechen Holocaust gesagt werden soll. Ganz im Gegenteil. Aber wenn Einseitigkeit übersteigert wird und eine gewisse Grenze überschreitet, wird die Absicht erkennbar, dass hier politisch instrumentalisiert und manipuliert werden soll – auch und gerade mit dem Holocaust und Auschwitz, was äußerst verwerflich ist. Die Kampagne der organisierten deutschen Juden war deshalb so verkehrt und falsch (wenn nicht denunziatorisch), weil den Arabern insgesamt und speziell den syrischen Flüchtlingen in ihrer Haltung zu Israel eine „antisemitische“ Haltung unterstellt wurde.
Nun mag es unter Arabern inzwischen antisemitische Stereotypen geben, aber festzuhalten bleibt, der Antisemitismus ist nicht im muslimischen und arabischen Raum entstanden, sondern in Europa. Die Araber, die Jahrhunderte lang friedlich mit den Juden zusammengelebt haben, haben dann aber ihre eigenen Erfahrungen mit einem bestimmten Zweig des Judentums (nicht mit den Juden ganz allgemein) gemacht: dem Zionismus. Und die waren und sind bis heute ziemlich schrecklich. Denn der Zionismus hatte von Anfang an das Ziel und den Anspruch. Inmitten der arabischen Welt und inmitten eines arabischen Volkes (der Palästinenser) seinen exklusiv jüdischen Nationalsaat zu errichten.
Dass dieses Ziel nur mit brutaler Gewalt gegen die einheimische arabische Bevölkerung durchzusetzen war, versteht sich von selbst. Welches Volk würde freiwillig seine Heimat verlassen, um einem anderen einwandernden Volk Platz zu machen? Die Zustimmung und die Zusammenarbeit mit diesem Volk haben die Zionisten nie gesucht. Die Kontinuität dieser siedlerkolonialistischen Politik zeigt sich bis heute: in der brutalen Besatzungspolitik über die Palästinenser, den Raub ihres Landes und damit die Zerstörung ihrer Existenz, um Land für die zionistische Expansion zu schaffen und im gerade vom israelischen Parlament verabschiedeten „Nationalstaatsgesetz des jüdischen Volkes“, das den Juden in Israel die exklusive Vorherrschaft und Dominanz zusichert und alle anderen Volksgruppen (auch die 20 Prozent Palästinenser mit israelischer Staatsangehörigkeit) zu Bürgern zweiter oder sogar dritter Klasse macht. Sich gegen solche inhumanen Verhältnisse aufzulehnen, sie abzulehnen und politisch zu bekämpfen, ist eine humane Selbstverständlichkeit. Dass die syrischen Flüchtlinge in diesem Sinne antizionistisch eingestellt sind, ist deshalb verständlich (Israel hat auch diesem Land mit den Golanhöhen ein Stück Land geraubt), und hat mit Antisemitismus gar nichts zu tun.
Genau das behaupten Israel und seine Anhänger aber, natürlich jede Schuld für das eigene menschenrechts- und völkerrechtswidrige Verhalten von sich weisend. Die zionistische Propaganda stellt den Konflikt mit den Palästinensern und den Arabern insgesamt unter das Vorzeichen des Antisemitismus und bringt den Konflikt so auch direkt mit dem Holocaust in Zusammenhang. Die Israelis vermengen also den kolonialen Konflikt in Palästina mit der Vernichtung der europäischen Juden durch die Nazis. Das heißt aber, dass die Israelis das wahre Geschehen in Palästina, also die wirklichen Ursachen des Konflikts und seine Austragungsformen nicht zur Kenntnis nehmen und verleugnen. Denn die Palästinenser haben mit der Vernichtung der europäischen Juden nichts zu tun. In Palästina handelt es sich um eine koloniale Auseinandersetzung, bei der ein eingewandertes Volk – die Juden – ein anderes Volk – eben die Palästinenser – mit Gewalt aus ihrer Heimat vertrieben und ihre Gesellschaft zerstört haben, um in diesem Land ihre staatliche Existenz aufzubauen.
Die jüdischen Israelis deuten den Konflikt mit den Palästinensern also als Fortsetzung ihrer eigenen Verfolgungsgeschichte außerhalb Palästinas. Wobei es natürlich völlig klar und ganz selbstverständlich war und ist, dass die Angegriffenen – die Palästinenser – sich gegen ihre Vertreibung und Kolonialisierung wehrten und auch heute noch wehren, was aber zu einer paradoxen und absurden Situation führte. Denn die zionistischen Neueinwanderer stellten und stellen sich entsprechend ihrer langen Verfolgungsgeschichte – gipfelnd im Holocaust – als die Angegriffenen und als die Hassobjekte dar, also als die eigentlichen Opfer. Die wirklich Angegriffenen – die Palästinenser – wurden und werden zu den eigentlichen Tätern gemacht.
Die Rollen von Tätern und Opfern wurden also völlig umgekehrt. Diese Verkehrung macht es auch möglich, dass die Israelis ihre Schuld, die Palästinenser im Verlauf des zionistischen Kolonisierungsprozesses vertrieben zu haben, leugnen können. Israel verdrängt die Fakten seines Vorgehens gegen die Palästinenser bis heute. Eine Aufarbeitung des gewaltsamen Vorgehens gegen die Palästinenser – etwa der Nakba 1948– ist für die israelischen Juden deshalb so schwierig, weil damit die Grundlagen des zionistischen Projekts insgesamt in Frage gestellt würden.
Wenn bei dem Treffen der jungen Muslime und Juden in Auschwitz viel von „Verstehen des anderen“, von „Aufeinanderzugehen“ und „Versöhnung“ die Rede war, dann krankte dieses Treffen an seiner Einseitigkeit. Denn die Juden können ihr Narrativ der Verfolgung in Europa an den Schreckensruinen der Vernichtungslager demonstrieren und auch sonst überall vorbringen. Aber die Araber bzw. die Syrer können ihr Narrativ (das unselige Wirken des Zionismus im arabischen Raum) nicht darlegen, wobei hier – das sei deutlich gesagt – beide Verbrechen nicht auf eine Stufe gestellt werden sollen. Aber um ein „Verbrechen gegen die Menschheit“ (der israelische Historiker Ilan Pappe) handelt es sich beim Vorgehen der Zionisten in Palästina allemal. Erst wenn auch die arabische-palästinensische Seite ihr Narrativ öffentlich vortragen kann, ohne dem denunziatorischen Antisemitismus-Vorwurf ausgesetzt zu sein, wird ein wirkliches Aufeinanderzugehen möglich sein.