Kann man, wenn eine übermächtige Militärmacht ein ganzes Gebiet (der Gazastreifen ist kein Staat) in Grund und Boden bombt, die Infrastruktur zerstört, Tausende von Zivilisten umbringt und über eine Million Menschen vertreibt, noch von einem „Verteidigungskrieg“ sprechen? Deutsche Politik und Medien tun das und Kanzler Scholz hält es sogar für nötig anzumerken: „Israel ist ein demokratischer Staat mit sehr humanitären Prinzipien, die ihn leiten. Man kann sicher sein, dass die israelische Armee auch bei dem, was sie macht, die Regeln beachten wird, die sich aus dem Völkerrecht ergeben. Da habe ich keinen Zweifel." Hat der Mann völlig den Kontakt zur Realität verloren?
Die Frage ist doch: Ist das brutale Vorgehen Israels gegen den Gazastreifen noch eine angemessene und verhältnismäßige Reaktion auf das Massaker der Hamas, oder nutzt der zionistische Staat dieses Massaker um ein für alle Mal das „palästinensische Problem“ in seinem Sinn zu lösen – mit einer neuen Nakba oder sogar einem Genozid?
Es sind keine Antisemiten, die ein solche Vorgehen Israels schon vor Jahren vorausgesagt haben, sondern dem Zionismus gegenüber kritisch eingestellte Juden. Der israelische Historiker Ilan Pappe warnte 2006 vor einer „auf Völkermord“ abzielenden Politik Israels im Gazastreifen. Die seit jenem Jahr anhaltende Blockade des Gazastreifens bezeichnete er als „genozidale Politik“. Pappe schrieb weiter, die israelische Regierung sei darin gescheitert, die Bevölkerung von Gaza in ein hermetisch abgeriegeltes Getto sperren zu können, ohne dass dies zu Widerstand führe. Die israelische Führung sehe die Bevölkerung des Streifens als besonders gefährlich an und betreibe ihr gegenüber eine „Politik der Eliminierung“. Weiter schrieb er: „Die Führung Israels, vor allem die Armee, betrachtet Gaza als ein Gefängnis mit der gefährlichsten Insassengemeinschaft, die auf die eine oder andere Art eliminiert werden muss.“
Der amerikanische Völkerrechtler Richard Falk von der der Princeton University (er war sechs Jahre lang auch Sonderberichterstatter der UNO für die Situation der Menschenrechte in den besetzten palästinensischen Gebieten) ging über die Aussagen von Pappe noch hinaus. Er sprach 2007 in Bezug auf den Gazastreifen von einem „Holocaust im Entstehen“. Er fuhr fort: „Ist es eine unverantwortliche Übertreibung, die Behandlung der Palästinenser mit dieser kriminellen Nazi-Akte kollektiver Gräueltaten zu assoziieren? Ich denke nicht. Die jüngsten Entwicklungen in Gaza sind besonders beunruhigend, weil sie so deutlich eine bewusste Absicht auf der Seite Israels und seiner Verbündeten ausdrücken, eine ganze menschliche Gemeinschaft lebensbedrohlichen Bedingungen von äußerster Grausamkeit zu unterwerfen. Der Vorschlag, dass dieses Verhaltensmuster ein Holocaust-am-Entstehen sei, stellt einen verzweifelten Appell an die Regierungen der Welt und die Weltöffentlichkeit dar, dringend zu handeln, um zu verhindern, dass die gegenwärtigen genozidalen Tendenzen in einer kollektiven Tragödie kulminieren.“
Die Tragödie ist inzwischen da. Es hat also früh genug Warnungen von kompetenter Seite gegeben. Wenn man sie gehört hätte, hätte man das Massaker der Hamas und die ganze jetzige grausame Tragödie verhindern können. Falk appellierte damals ausdrücklich auch an die „Verbündeten Israels“ – damit war sicher in erster Linie neben den USA auch Deutschland gemeint. Aber wer in der deutschen Politik hat diesen Appell ernst genommen? Man redet viel über deutsche Schuld und die moralischen Konsequenzen, die der Holocaust den Deutschen auferlege und versagt im Fall der Palästinenser vollständig, man lädt sogar neue Schuld auf sich.
Es sei noch eine andere Stimme hinzugefügt, die auch von großem Gewicht ist, um das Gesagte zu unterstreichen: Die ehemalige Menschenrechtsbeauftrage der UNO, Mary Robinson, zeigte sich nach einem Besuch des Gazastreifens Anfang November 2008 [nach dem Krieg in jenem Jahr] entsetzt und nannte es in einem Interview mit dem BBC „unvorstellbar, dass sich die Welt nicht um die schockierende Verletzung der Menschenrechte dort kümmert.“ Die Folgen der Blockade für die Bevölkerung fasste sie so zusammen: „Ihre gesamte Zivilisation ist zerstört worden.“
Der Westen – vorneweg Deutschland – schaut dem israelischen Zerstörungswerk ruhig und ohne Protest zu und hält es sogar mit dem Völkerrecht vereinbar. Kein Wunder: Sind wir im Westen doch die „Guten“ und „Zivilisierten“ (Israels Regierungschef Netanjahu), die Palästinenser sind dagegen „wilde Tiere“ (Israels Verteidigungsminister Galant). An die furchtbaren politischen Folgen, die Israels Rachekrieg gegen die Hamas zeitigen wird, denkt die politische Klasse des Westens nicht. Man fühlt sich juristisch und moralisch im Recht. Der Westen wird nach diesem israelischen Feldzug für die westlichen Werte wieder einmal verbrannte Erde hinterlassen.
Ein Ergebnis von Israels Krieg kann man aber heute schon benennen. Der Philosoph Vittorio Hösle hat es vor Jahren in ganz anderem Zusammenhang formuliert, es lässt sich aber gut auf die jetzige Situation anwenden: „Rachefeldzüge tragen immer das Risiko in sich, dass man selbst zum Bösen wird, das man ja eigentlich bekämpfen will. Wenn man also das Böse vernichtet, aber am Ende des Eskalationsprozesses selbst so wird, wie das Böse war, dann hat das Böse gesiegt.“