Warum es im Syrien-Krieg vor allem auch um Israel geht

Michael Lüders neues Buch „Die den Sturm ernten“ zeigt die katastrophalen Folgen der westlichen Nahost-Politik auf

Es wimmelt in der deutschen Medienlandschaft nur so von selbsternannten „Nahostexperten“. Aber die meisten von ihnen sind einer einseitigen westlichen Sicht und ihren sogenannten „Werten“ verpflichtet. Was heißt: Die Rollen von „gut“ und „böse“ sind klar verteilt, und die meisten dieser Experten können nicht zwischen moralischer Anklage und politischer Analyse unterscheiden, weshalb sie auch die wahren Hintergründe – also die wirklichen Machtinteressen der dort Handelnden – nicht deutlich genug herausarbeiten und beim Namen nennen. Die Ergebnisse sind deshalb zumeist der Kategorie „Lückenjournalismus“ zuzuordnen. Diese Art des Journalismus ist durch drei Aspekte gekennzeichnet: Erstens werden Nachrichten in ganz bestimmter Weise gewichtet; zweitens werden Nachrichten ganz gezielt unterdrückt; und drittens werden Nachrichten in tendenzieller Weise bewertet. Das heißt: Es wird mit zweierlei Maß gemessen, es gibt also doppelte Standards. Diese Thesen stammen von dem Medienwissenschaftler Ulrich Teusch.

Einer, der nicht nach diesem Schema arbeitet, ist der Journalist und Islamexperte Michael Lüders. Er schreibt in seinen Artikeln und Büchern Klartext und hängt in seinen Analysen keiner einseitigen Interessenlage oder speziellen Werten an – aufklärerisch-humanistische Kriterien ausgenommen. Lüders geht unvoreingenommen an seine Themen heran und hat keine Bedenken, sich couragiert dem Mainstream der öffentlichen Meinung entgegenzustellen, was ihm von den Leitmedien den Titel „umstritten“ eingebracht hat. Was ihn vermutlich aber wenig kümmert, vielleicht betrachtet er eine solche Benennung sogar als Bestätigung und Auszeichnung. So auch in seinem Buch „Die den Sturm ernten. Wie der Westen Syrien ins Chaos stürzte“, das die Fortsetzung seines Bestsellers „Wer den Wind sät. Was westliche Politik im Orient anrichtet“, ist.

Wie der Titel sagt, untersucht Lüders die Interventionspolitik der Großmächte – vorrangig die der USA, aber auch die der EU und Russlands – im Nahen und Mittleren Osten, besonders im Irak und Syrien. Das Ergebnis seiner Recherchen steht gleich im Vorwort: „Obwohl die Politik Washingtons eine Katastrophe nach der anderen hervorruft, namentlich Staatszerfall, das Erstarken der dschihadistischen Milizen wie dem ‚Islamischen Staat‘ und die Odyssee von Millionen Syrern, Irakern, Afghanen, hält sich die Kritik in Brüssel oder Berlin in engen Grenzen. Überspitzt gesagt kehren die Europäer mit der Flüchtlingskrise die Scherben einer verfehlten US-Interventionspolitik auf, bezahlen sie gutwillig den Preis für die Machtansprüche anderer. Anstatt selbstbewusst eigene Positionen zu vertreten, ziehen es hiesige Entscheidungsträger viel zu oft vor, amerikanischen Vorstellungen zu folgen.“ Mit fatalen Folgen eben.

Lüders entlarvt das ganze Gerede von „Werten“, die die Politiker des Westens so oft anführen, als hohle, aber sehr gefährliche Rhetorik, denn allen Beteiligten geht es ausschließlich um ihre Interessen und um Macht. Geopolitische Strategen, so schreibt er, hätten nicht die Schicksale von Menschen, Völkern und Nationen im Auge. Die angeführten Werte wie Menschenrechte und Demokratie seien nichts anderes als eine propagandistische Legitimation des gewaltsamen Vorgehens. Das vorrangige Ziel der USA sei dabei der regime change, also der Sturz unliebsamer Herrscher und Regierungen sowie die Einsetzung von prowestlichen Klientelregimen, die dann die Interessen der Interventionsmacht vertreten. Die „Ur-Sünde“ einer solchen Politik war 1953 der Sturz des demokratisch gewählten iranischen Präsidenten Mohammad Mossadegh durch die Geheimdienste der USA und Großbritanniens. Mossadegh hatte es gewagt, die Ölquellen seines Landes zu verstaatlichen. Mit dem Putsch brachten die Amerikaner ihren Vasallen Schah Reza Pahlewi an die Macht, der das Land so auspowerte, dass die iranische Revolution 1979 und der Machtantritt Khomeinis die Folge waren. Die anhaltende Feindschaft des Iran zu den USA bis heute resultiert aus diesen Ereignissen.

Es ist ganz offensichtlich eine schwer zu verstehende Konstante der amerikanischen Regime-Wechsel-Politik, nie die möglichen Folgen zu bedenken, die solche gewaltsamen Regierungsstürze haben, auch und gerade für die eigenen Interessen . Denn die Folgen sind eben nicht die Etablierung von Demokratie und Menschenrechten wie vorgegeben, sondern Staatszerfall, Anarchie und Chaos. Aber das ist gewollt. Lüders zitiert ein überliefertes Gespräch, das der amerikanische Generalleutnant Wesley Clark (er war von 1997 bis 2000 Oberbefehlshaber der NATO in Europa) mit dem neokonservativen Staatssekretär im Pentagon und späteren stellvertretenden Verteidigungsminister Paul Wolfowitz hatte, der sich immer dazu bekannte, ein engagierter Vertreter der Interessen Israels zu sein.

Wolfowitz äußerte gegenüber Wesley 1990 nach der Rückeroberung Kuwaits, das Saddam Hussein annektiert hatte, ganz offen: „Eins haben wir [durch den Kuwait-Krieg] gelernt: Wir haben verstanden, dass wir unser Militär im Nahen Osten einsetzen können, und die Sowjets uns nicht aufhalten werden. Ich denke mal, dass wir noch fünf bis zehn Jahre Zeit haben, um unter den alten sowjetischen Klientelregimen aufzuräumen – Syrien, Iran, Irak. Bis dann die nächste Supermacht auf den Plan tritt und uns Grenzen setzt.“ Wesley kommentiert diese Sätze erschrocken: „Ich war ziemlich schockiert. Sinn und Zweck unseres Militärs war es demzufolge, Kriege anzufangen und Regierungen zu stürzen. Anstatt Konflikte zu lösen ging es darum, in anderen Ländern einzumarschieren. Mir ging auf, dass die USA an eine Gruppe von Leuten mit einer klaren Agenda gefallen war: Die Neokonservativen wollen, dass wir den Nahen Osten destabilisieren, das Unterste nach oben kehren und auf diese Weise unter unsere Kontrolle bringen. Diese Leute können es gar nicht erwarten, das Thema Irak so schnell wie möglich zu erledigen, um anschließend Syrien ins Visier zu nehmen.“

Nun waren weder der Irak noch Syrien sowjetische „Klientelregime“. Die Folgen des zweiten Irak-Krieges 2003 sind bekannt. Nach der amerikanischen Intervention 2003 und dem Sturz Saddam Husseins löste Wolfowitz per Dekret die irakische Armee auf und verbot die Baath-Staatspartei als kriminelle Vereinigung. Damit verloren Hunderttausende Iraker, überwiegend Sunniten, ihren Job und ihre Existenzgrundlage. Lüders kann schlussfolgern: „Diese elementare Fehlentscheidung eines führenden Neokonservativen wurde zur Geburtsstunde des sunnitischen Widerstandes gegen die US-geführte Besatzung und die neuen schiitischen Machthaber in Bagdad [die die Amerikaner eingesetzt hatten]. Sie legte den Grundstein für Terror und Gewalt. (...) Aus dem Chaos und der Gewalt erwuchs Al-Qaida im Irak, daraus wiederum, ab 2006, die Vorläuferorganisation des ‚Islamischen Staates‘. (...) Ohne den Krieg gegen den Terror, den Regimewechsel im Irak und den angestrebten Regimewechsel in Syrien hätte es diesen enormen Zuwachs an gewaltbereiten Islamisten nicht gegeben.“

Eine paradoxe Situation: Wenn die Amerikaner vorgeben, den IS zu bekämpfen, dann bekämpfen sie also das Produkt, das sie selbst durch ihre verfehlte, kurzsichtige Politik hervorgebracht haben. Und wenn Washington „gemäßigte“ Dschihadisten in Syrien mit Geld und Waffen unterstützt, damit sie den Regimewechsel dort besorgen sollen, merkt Lüders dazu an, dass – egal unter welchem Namen die islamistischen Verbände antreten – sie sich in der Radikalität der Ideologie und der Art ihres Vorgehens nicht von Al-Qaida und dem IS unterscheiden. Die Schlussfolgerung, die Lüders an dieser Stelle zieht, ist gerade auch für Europa außerordentlich erschreckend: „Das bedeutet, dass die USA Gruppierungen bewaffnen und mitfinanzieren, ohne die es 9/11 ebenso wenig gegeben hätte wie die zahlreichen Terroranschläge des ‚Islamischen Staates‘ in Europa, der Türkei und im Nahen Osten.“ Lüders setzt noch einen drauf: „Der ‚Islamische Staat‘ und andere dschihadistische Gewalttäter sind nichts weniger als die Fratze, die uns ein Spiegelbild vorhält, die Quittung präsentiert für ein Jahrhundert Unterwerfung.“

Der Leser dieses außerordentlich informativen und aufklärerischen Buches fragt sich immer wieder, warum sich die USA und auch Europa (und damit natürlich auch Deutschland) als so völlig lernunfähig erweisen und eine Politik fortsetzen, deren Scheitern so offensichtlich ist. Natürlich kann Lüders darauf auch nur die Antwort geben: Es sind die Machtgier, die Interessen und nicht zuletzt auch die Ressourcen – vor allem das Öl - , die offenbar blind machen. Lüders spricht sich so gesehen für das Verbleiben von Assad im Amt aus – nicht weil er den syrischen Diktator so sympathisch und seine Politik so richtig und angemessen findet, sondern nur weil die Alternative zu Assad – siehe Irak und Libyen – Anarchie und Chaos wären. Denn dann würden in Damaskus die Dschihadisten, die untereinander völlig zerstritten sind, an die Macht kommen und nicht die syrische „Zivilgesellschaft“, von der im Westen viel die Rede ist, die es Lüders zufolge aber gar nicht gibt, sie sei schlicht eine „Erfindung“ interessierter Kreise. Der Krieg würde mit einer Machtergreifung der Islamisten keineswegs zu Ende sein.

Lüders macht in dem Stellvertreterkrieg in Syrien, in dem auch Saudi-Arabien und die Golfstaaten auf der einen und der Iran und Russland auf der anderen Seite eine wichtige Rolle spielen, die USA als Hauptschuldigen aus, weil sie an einem Ausgleich dort gar nicht interessiert und nur darauf bedacht seien, die eigenen Interessen auf Kosten anderer durchzusetzen, auch mit Gewalt. Russland wird dabei zur Legitimierung des eigenen Handelns von Washington als Hauptgegner dämonisiert. Wobei der Autor anmerkt, dass die Machtpolitik Moskaus, Teherans und Pekings nicht weniger „skrupellos“ sei als die des Westens. Und niemand, schreibt er, habe in letzter Konsequenz ein Interesse daran, den ‚Islamischen Staat‘ ein für alle Mal zu besiegen. Denn er liefere als Hauptfeind den kleinsten gemeinsamen Nenner für alle Interventionsmächte. Er ist das Alibi, um vor Ort Präsenz zu zeigen.

Was hat diese Analyse des Geschehens im Nahen und Mittleren Osten nun mit Israel zu tun? Lüders zitiert ein aufschlussreiches Dokument, das Hillary Clinton als Außenministerin 2012 verfasst hat und das durch Wilkileaks an die Öffentlichkeit gekommen ist. Sie schreibt da wörtlich: „Der beste Weg, Israel zu helfen, mit den wachsenden nuklearen Möglichkeiten Irans umzugehen, besteht darin, dem syrischen Volk zu helfen, das Regime von Baschar-al-Assad zu stürzen. (...) Es ist die strategische Beziehung zwischen dem Iran und Assad, die es dem Iran ermöglicht, die Sicherheit Israels zu untergraben.“ Die Beseitigung Assads wäre also im besten Interesse Israels, weil das Ende seines Regimes die für Israel gefährliche Allianz zwischen dem Iran, Syrien und der Hisbollah untergraben würde, schreibt Clinton.

Sie fährt fort: „Assad zu beseitigen wäre nicht nur ein unermesslicher Segen für die Sicherheit Israels, es würde auch die verständlichen Ängste Israels mindern, sein nukleares Monopol zu verlieren. Im nächsten Schritt könnten sich dann die Vereinigten Staaten und Israel gemeinsam darauf verständigen, von welchem Punkt an die iranische Atomanreicherung so gefährlich wird, dass ein militärisches Eingreifen gerechtfertigt erscheint. (...) Kurzum, das Weiße Haus kann die Spannungen, die sich im Umgang mit Israel wegen Iran ergeben haben, abbauen, indem es in Syrien das Richtige tut.“ Dieser zügellose und brutale Zynismus der Macht belegt allein, wie sehr die letzte Präsidentenwahl in den USA zwischen Hillary Clinton und Donald Trump eine Wahl zwischen Pest und Cholera war. Der Iran steht ja auch auf Trumps Agenda, er hat in dieser Hinsicht nicht viel andere Vorstellungen als seine frühere Rivalin Clinton.

Israel scheint aber durch das Chaos und die Anarchie jenseits seiner Grenzen keineswegs verunsichert oder besorgt zu sein. Das Gegenteil ist wohl richtig, weil die führenden Politiker und Militärs Israels offenbar glauben, dass die Destabilisierung der arabischen Staaten ringsum ihm nur Vorteile bringen kann, vielleicht sogar die Expansion seines Territoriums – ein alter zionistischer Traum, den schon der Begründer der Ideologie, Theodor Herzl, geträumt hatte: Groß-Israel sollte sich vom Nil bis zum Euphrat erstrecken. So äußerte der frühere Verteidigungsminister Moshe Jaalon mit Blick auf die Entwicklung in Syrien: „Wenn ich zu wählen hätte zwischen dem Iran und dem ‚Islamischen Staat‘ würde ich mich für den IS entscheiden.“ Auch wenn Assad gestürzt werde, sei der IS keine ernsthafte Bedrohung für Israel. Lüders zitiert einen hochrangigen israelischen Offizier, der namentlich nicht genannt wird, mit den Sätzen: „Der Westen macht einen großen Fehler, indem er den IS bekämpft.“ Damit würde er auf derselben Seite stehen wie die Hisbollah, der Iran und Assad. Das mache doch keinen Sinn.“ (Haaretz 31.10.2014) Israels vorrangiges Ziel im Zusammenhang mit dem Syrien-Krieg ist es also, die Allianz (den „Bogen“) zwischen dem Iran, Syrien und der Hisbollah im Libanon zerstört zu sehen, und das geht eben nicht ohne den Sturz Assads.

Angesichts solcher Äußerungen verwundert es nicht, dass – so Lüders – die israelische Armee verwundete syrische Rebellen, darunter Kämpfer der Nusra-Front und des IS , auf den Golan-Höhen medizinisch versorgt. Nach offiziellen Angaben sollen über 2000 verletzte Syrer in israelischen Krankenhäusern behandelt worden sein. Reine Humanitär ist hierbei sicher nicht das Motiv der Israelis. Wie die „Jerusalem Post“ am 27. April 2016 berichtete, liefert Israel auch Waffen an den IS. Der jüdische Staat ist also – verdeckt oder offen – am Krieg in Syrien direkt beteiligt, was auch die Luftangriffe auf die vermeintlichen Waffentransporte der Hisbollah dort belegen.

Angesichts einer so verworrenen Gemengelage der verschiedenen Allianzen und Interessen hält Lüders ein baldiges Ende des Syrienkrieges für unmöglich. Er sieht Syrien und die arabische Welt gegenwärtig einen Dreißigjährigen Krieg durchmachen, der irgendwann in weiter Ferne hoffentlich mit einem Westfälischen Frieden seinen Abschluss findet. Lüders ist sich aber sicher, dass kein Diktat, keine Einmischung von außen diese Entwicklung beschleunigen kann, im Gegenteil: „Die Erneuerung von Gesellschaften kann nur aus ihnen selbst erfolgen.“

Dass dieser Krieg die Europäer direkt angeht, weil seine Auswirkungen – Terroranschläge und Flüchtlingsstrom als Folgen der westlichen Interventionspolitik – auch die europäischen Gesellschaften verändern, hat Lüders in seinem Buch gut belegt. Es öffnet die Augen für die Ursachen und Zusammenhänge des blutigen Geschehens, die westliche Medien so nicht präsentieren. Einsicht und Verstehen sollten eigentlich immer der Anfang von Änderung einer verfehlten Politik sein. Dieser Hoffnung gibt der Autor auch Ausdruck, aber da die Politik sich dazu als nicht fähig erweist, sind alle Menschen in den westlichen Demokratien aufgefordert, Druck auf die sie Regierenden auszuüben, damit dem Zynismus und dem Wahnsinn einer solch perversen Machtpolitik endlich ein Ende gesetzt wird. Ob das allerdings eine realistische Perspektive sein kann, ist eine ganz andere Frage.

Michael Lüders: Die den Sturm ernten. Wie der Westen Syrien ins Chaos stürzte, C.H. Beck Verlag München, ISBN 978-3-406-70780-3, 14,95 Euro