Wenn ein Bischof die Wahrheit über Israel ausspricht, spulen Politiker, Kirchenleute und Journalisten gleich ihre Antisemitismus-Vorwurfs-Litanei ab

Da redet ein deutscher protestantischer Bischof Tacheles in Sachen Israel – und Journalisten Politiker und die Spitzenvertreter der Kirche fallen gleich rudelweise über ihn her und stellen ihn in die antizionistische bzw. antisemitische Ecke. Man muss ihre Vorwürfe hier gar nicht wiederholen, es sind immer dieselben, sie werden routinemäßig wie eine Litanei abgespult, wenn es jemand wagt, Israels Politik gegenüber den Palästinensern oder Deutschlands Politik gegenüber dem zionistischen Staat zu kritisieren. Schon lange und erst recht nach dem BDS-Beschluss des Bundestages ist Artikel 5 des Grundgesetztes (Meinungs- und Informationsfreiheit) so gut wie außer Kraft gesetzt.

Was war geschehen? Der Bischof im Sprengel Mecklenburg und Pommern der Evangelisch-Lutherischen Kirche Hans-Jürgen Abromeit hat ein paar Wahrheiten ausgesprochen, die in Deutschland eben auf dem Index stehen: Die Deutschen betrieben aus dem Schuldbewusstsein des Holocaust heraus eine „Überidentifikation“ mit dem Staat Israel. Es würde ganz bewusst – besonders von der Kirche – nicht zwischen dem biblischen und dem heutigen Staat Israel unterschieden. Die Sicherheit Israels werde zur deutschen Staatsräson erklärt, die berechtigten Interessen der Palästinenser (auch ihre Sicherheit) spielten dabei aber keine Rolle.

Der Bischof fügt noch eine berechtigte Kritik am Zionismus hinzu, der in ein „leeres“ Land eingedrungen sei, in dem eine arabische Mehrheit lebte, dort durch Einwanderung [und Vertreibung, muss man hinzufügen] eine neue Bevölkerungsmehrheit geschaffen hat und nun dort einen Besatzungsstaat aufrechterhält, der Frieden unmöglich macht.

Für Kenner der Geschichte des Zionismus, Israels und des deutsch-israelischen Verhältnisses sind das keine sensationellen Neuigkeiten, offenbar aber für deutsche Politiker, Medienleute und Kirchenvertreter. Mit anderen Worten lässt sich Abromeits Aussage so interpretieren: Die deutsche Politik hat sich ein ideales Israel-Wunschbild geschaffen (psychologisch gesehen eine Projektion), an dem man unbedingt festhält, ja festhalten muss. Die furchtbaren Verbrechen der Nazis verlangen nach Sühne und psychischer Entlastung. Man hofft die Erlösung dadurch zu erlangen, indem man zum Philosemitismus übergewechselt ist und sich vollständig mit dem Staat Israel und seiner Politik (also mit dem zionistischen Projekt) identifiziert – also auf diese Weise Sühne für den Holocaust leisten will.

Eine solche Haltung hat aber ihren Preis: Die deutsche Politik schweigt vollständig zu den Verbrechen, die Israel an den Palästinensern begangen hat und begeht, sieht man von einer leisen und folgenlosen Kritik an der Siedlungspolitik ab. Man muss dem aber entgegenhalten: Wenn der von Deutschen begangene Holocaust wesentlich zur (gewaltsamen) Entstehung des Staates Israel auf dem Boden Palästinas beigetragen hat, dann folgt daraus, dass Deutschland auch eine historische Verantwortung für die Palästinenser hat, die es wegen seiner einseitigen Fixierung auf Israel aber gar nicht wahrnimmt.

Man bewegt sich also in einer Wunschwelt, die wesentliche Elemente der Realität ausblendet. Diese Nicht-Wahrnehmung der Realität der israelischen Politik betrifft auch die immer wieder beschworene „Wertegemeinschaft“ zwischen beiden Staaten. Wie kann es gemeinsame Werte zwischen dem Staat des deutschen Grundgesetzes und dem brutalen Besatzungsstaat Israel geben, dessen zionistische Staatsideologie ganz offen deutlich macht, dass sie mit Menschenrechten und Völkerrecht nichts zu tun hat, sondern ihre eigenen Gesetze besitzt (so die frühere und wohl auch künftige israelische Justizministerin Ajelet Shaked).

Die so viel gepriesene deutsch-israelische Solidarität stellt sich in Wirklichkeit als ein großes Dilemma heraus. Denn die deutsche Politik hat sich zum engsten Verbündeten des nicht nur anachronistischen, sondern auch verbrecherischen israelischen Siedlerkolonialismus gemacht, denn Deutschland sichert mit seiner Unterstützung dieses Staates politisch, wirtschaftlich und militärisch dessen völker- und menschenrechtlich illegale Herrschaft über das palästinensische Volk ab. Um sich der deutschen Schuld am Holocaust zu entledigen, lädt man so ohne Skrupel neue Schuld auf sich.

Bischof Abromeit hat so nicht nur gegen die Dogmen der deutschen Israel-Politik verstoßen, sondern auch gegen eine der wichtigsten Dogmen seiner Kirche: die Nach-Auschwitz-Theologie. Diese sucht auf Grund der Schuld, die sie mit ihrem Mitläufertum in Hitlers „Drittem Reich“ auf sich geladen hat, durch den Dialog mit den Juden die größtmögliche Nähe zwischen einem neu konzipierten Christentum und dem Judentum herzustellen. Sie hält an der Auffassung fest, dass Gott einen Bund mit dem auserwählten jüdischen Volk geschlossen hat und dass dieser Bund heute noch gültig ist und fortbesteht. Das heutige Israel ist in dieser Sicht die Fortsetzung des jüdischen Staates des Alten Testaments, die Israelis sind die „Kinder Gottes“.

Was heißt: Die Nach-Auschwitz-Theologie unterscheidet nicht zwischen dem Israel des Alten Testaments und dem heutigen säkularen Staat Israel. Verdrängt werden so die massenhaften jüdisch-israelischen Menschenrechtsverbrechen an den Palästinensern. Dass diese auch ein Recht auf Gerechtigkeit, Menschenwürde und Selbstbestimmung haben, sieht die Nach-Auschwitz-Theologie nicht vor. Ja, sie rechtfertigt sogar die jüdische Landnahme in Palästina, weil sie ja von Gott abgesegnet sei.

Dagegen hatte schon der Amerikaner Mark Bravermann in seinem Buch Verhängnisvolle Scham. Israels Politik und das Schweigen der Christen Protest erhoben. Seine Anklage gipfelte in der Forderung: „Die Aufgabe, die sich die Glaubensgemeinschaften heute gegenüberstehen, ist es nicht, einen christlich-jüdischen Dialog um ihrer selbst willen zu führen oder eine Versöhnung im Hinblick auf vergangene Sünden und Tragödien zu erreichen. Vielmehr ist gewissenhaft und bewusst das Augenmerk darauf zu richten, die Grundursache für den israelisch-palästinensischen Konflikt zu beseitigen: die Vertreibung der Palästinenser und die Etablierung von Apartheidstrukturen der Diskriminierung. Wir stehen vor einer prophetischen Herausforderung, die uns vereinigen muss – dabei ist es ohne Bedeutung, ob wir Christen, Juden, Muslime, Amerikaner, Deutsche, Südafrikaner oder Israelis sind.“

Der deutsche Theologe Peter Bingel argumentierte ganz ähnlich: „Im Anblick des Staates Israel, wie er sich inzwischen entwickelt hat, und angesichts des menschenverachtenden Nationalismus müssen alle Kirchen dringend unterscheiden lernen zwischen einem Israel des Glaubens und der Bibel, wie es jahrhundertelang ihrem Israel-Verständnis entsprach und noch entspricht, und dem gegenwärtigen politischen Israel, das im Nahen und Mittleren Osten seine enorme Macht zu menschen- und völkerrechtswidrigem Handeln nutzt.“

Die deutsche Politik steht vor demselben Dilemma wie die Nach-Auschwitz-Theologie: Israel ist in ihrer Sicht die historische Antwort auf Auschwitz. Solidarität mit diesem Staat ist dann folgerichtig eine moralisch verstandene „Wiedergutmachung“, also gleichzeitig durch Abtragen der Schuld eine Aufarbeitung der Vergangenheit. Aber diese Selbstfreisprechung bringt die deutsche Politik (wie oben schon angedeutet) in ein Dilemma: Sie segnet indirekt die Verbrechen Israels an den Palästinensern ab, was einen Verrat an diesen Menschen bedeutet. Wurden früher die Juden diffamiert und geschmäht, dann sind es heute die entrechteten Palästinenser. Jedes Eintreten für ihre Menschenwürde – siehe BDS! – wird im heutigen Deutschland allem Gerede von westlichen Werten zum Trotz als „Antisemitismus“ angesehen und auch geahndet.

Wenn Bischof Abromeit von „Überidentifikation“ mit Israel spricht, dann benutzt er einen Begriff, den ein Jude geprägt hat. Der Israeli Moshe Zuckermann schreibt in seinem Buch Der allgegenwärtige Antisemit oder die Angst der Deutschen vor der Vergangenheit: „Nachvollziehbare deutsche Schuldgefühle haben die öffentliche Sphäre Deutschlands über Jahrzehnte in entscheidendem Maß geprägt, zuweilen merkwürdige (Re-)Aktionen zeitigend, nicht zuletzt im Bereich der staatsoffiziellen Politik. Wenn das Diktum ‚Auschwitz werden uns die Deutschen niemals verzeihen!‘ stimmt, dann mag sich in der performativen Überidentifizierung [Hervorhebung durch A.Str.]mit Juden eine Art Schuldabtragung, mithin eine selbsterteilte Vergebung, manifestieren. Wenn man selbst Jude sein darf, ist man nicht mehr ‚Täter‘, sondern Opfer, hat also etwas nagend Quälendes an sich ‚wiedergutgemacht‘.“

Bischof Abromeit befindet sich also in bester deutsch-jüdischer intellektueller Gesellschaft und liegt mit seinem Vorstoß vollständig richtig. Wenn man ihm für seine Aussagen Antisemitismus vorwirft, dann müsste man das logischerweise auch Moshe Zuckermann vorhalten. Dieser hat darauf eine passende Antwort: „Wenn Deutsche sich anmaßen, Juden und erst recht jüdische Israelis wegen ihrer Israelkritik des Antisemitismus zu bezichtigen, dann ist das als nichts anderes zu begreifen als ein deutsches Befindlichkeitsproblem. Man kommt in diesem Zusammenhang nicht umhin, von Hitlers verlängertem, Arm zu sprechen.“ Zuckermann sieht da „ein Residuum eines latenten antisemitischen Ressentiments am Werk, das sich – im heutigen Deutschland tabuisiert – neue Wege und Bahnen der eigenen Manifestation sucht. Nur Antisemiten können Juden als Antisemiten besudeln, um sich selbst von der erbärmlichen Unwirtlichkeit ihres deutschen, allzu deutschen Antideutschseins zu erlösen.“

Dem Bischof kann man nur zurufen: Bleiben Sie standhaft! Sie sind auf der Seite der Wahrheit und der Menschlichkeit!

7.08.2019